Masse von Medien statt Massenmedien für Brasilien

Journalisten der Gruppe Mídia NINJA berichten täglich über Proteste im Land. "Journalismus von der Straße" soll der Dominanz traditioneller Medienkonzerne entgegenwirken

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Emblem der Gruppe Mídia NINJA
Emblem der Gruppe Mídia NINJA

Seit Juni kommt es in Brasilien zu Protesten, wie sie es seit über 20 Jahren nicht mehr gegeben hat. Damals im Jahre 1992 demonstrierten Hunderttausende für die Amtsenthebung des korrupten Präsidenten Collor de Mello. Heute sind die Anliegen der Proteste vielseitiger. Angefangen mit Demonstrationen gegen Buspreiserhöhungen entwickelten sie sich schnell zu landesweiten Massenprotesten gegen Korruption, die enormen Ausgaben zur Fußball-WM und Olympia sowie gegen Polizeigewalt. Im Zuge der Berichterstattung über die Proteste taucht auch immer wieder der Name Mídia NINJA auf. Ihr berichtet landesweit hautnah von den Protesten und begleitet diese direkt vom Geschehen für eine immer breitere Öffentlichkeit. Denkt ihr, dass ihr mit eurer Arbeit den großen traditionellen Medienkonzernen wie Globo etwas entgegensetzen könnt?

Nicht in direkter Weise. Obwohl die sozialen Netzwerke in Brasilien eine enorm wichtige Rolle bei der Verbreitung von Informationen spielen, gelingt es ihnen nicht den sogenannten "Mainstream-Medien" etwas als Ganzes entgegenzusetzen. Konkret heißt das, dass es bislang immer noch keine alternative Medienlandschaft gibt, die miteinander verbunden ist, dezentral agiert und landesweit berichtet. Jedoch gibt es Kämpfe, in welchen es uns gelingt, uns Gehör zu verschaffen und eine Alternative oder zumindest eine andere Seite zur traditionellen Berichterstattung aufzuzeigen.

In Brasilien erreichen die Medien 99 Prozent der Bevölkerung. Diese sind von höchstens zehn Familien kontrolliert, die durch eine Linie des elitären Denkens vereint sind und so die "offiziellen Medien" erschaffen. Aus diesem Grund muss der Kampf von vielen, miteinander verbundenen Gruppen geführt werden. NINJA ist entstanden um diese Arbeit, durch Mobilisierung und die Generierung von Inhalten einzuleiten und sich mit Kollektiven zusammenzuschließen, die ähnliche Arbeit leisten. Ziel ist es, ein Netzwerk aufzubauen, welches als Bürger-Journalismus Inhalte produziert. Konkreter gesprochen bedeutet dies ‘Massen von Medien‘ anstelle von ‘Massenmedien‘ zu produzieren.

Das Verhältnis von Protestbewegung und Medien ist zwiespältig. So wurden zum Beispiel Journalisten des Medienimperiums Globo auf Demonstrationen von Aktivisten vertrieben. Was unterscheidet euch von den traditionellen Medien und wie schafft ihr es, gleichzeitig Teil der Protestbewegung zu sein und eine unabhängige Berichterstattung zu liefern?

Globo ist ein Symbol für die monopolisierte Presse in unserem Land und die Ablehnung der traditionellen Medien auf den Demonstrationen ist nicht mehr als eine klare Botschaft der Demonstrierenden, die eine vielfältigere Medienlandschaft wollen. Mit einer Reduzierung in ihrer Berichterstattung auf einzelne Sachbeschädigungen auf den Demonstrationen versuchen die traditionellen Medien die Proteste zu kriminalisieren. Damit sollen die Bewegungen delegitimiert und die Polizeigewalt gerechtfertigt werden. Genau dies wird von den Demonstranten zurückgewiesen. Mídia NINJA nimmt an den Demonstrationen teil und versucht, durch eine Berichterstattung inmitten der Protestbewegung, die Gründe, Vielfältigkeit und Probleme dieser offenzulegen und vor allem die Polizeigewalt zu zeigen, über welche die Mainstream-Medien mit ihren Helikoptern nicht berichten. Sei es als Schutz der Demonstrationen oder aus Überzeugung, dass unsere Form der Berichterstattung tatsächlich zeigt was relevant ist, Mídia NINJA hat die neue Art des Medienverkehrs nicht nur erleichtert sondern in vielen Fällen erforderlich gemacht.

Die politische Vereinnahmung der Medien hat in Brasilien eine lange Tradition. Ihr bezeichnet euch als "unabhängig". Was bedeutet das genau?

In der Praxis bedeutet dies, dass wir eine flexible Struktur und eine dezentrale Berichterstattung haben und unter keinen Umstände Vereinbarungen, Gelder oder eine Zusammenarbeit akzeptieren, die unsere redaktionelle Freiheit einschränkt. Darüber hinaus ist notwendig zu erwähnen, dass wir uns unserer Parteilichkeit bewusst sind und diese annehmen, um ehrlich mit denjenigen zu sein die unsere Berichterstattung verfolgen oder die Information erhalten, dass wir die eine oder die andere Seite mit Grund A, B oder C vertreten.

Wie finanziert ihr euch?

Mídia NINJA hat bisher weder ein bestimmtes Budget noch eine Finanzierung, die nur auf sie gerichtet wäre. Wir denken im Moment an Finanzierungswege, die sich am Crowdfunding ausrichten. Dabei sollen diejenigen, die unsere Berichterstattung begleiten, auch zu Produzenten der Inhalte gemacht und die Kanäle für Menschen geöffnet werden, die unsere Arbeit auch finanziell unterstützen.

Mídia NINJA ist als Netzwerk aus dem Fora do Eixo entstanden, welches sich aus mehr als 150 Kollektiven in ganz Brasilien zusammensetzt und nach der Logik der Solidarischen Ökonomie agiert. Aus diesen Kollektiven finanziert NINJA seine Aktionen, zumindest so lange bis unsere spezifischen Projekte nicht den Finanzierungsrahmen sprengen.

Wie sieht eure Arbeit konkret aus? Wie geht ihr vor?

Unsere Arbeit beinhaltet zwei unterschiedliche Dynamiken: online und offline. Wir sind Teil eines Teams, welches sowohl die Live-Links überwacht und Informationen im Internet filtert (E-Mails, Nachrichten, Kommentare, Posts und Übertragungen), als auch im TV und anderen Medien vertreten ist, um in Echtzeit von den Geschehnissen auf der Straße zu berichten. Unser Team überprüft und korrigiert zudem die Texte und bereitet Notizen sowie die Reihenfolge der Inhalte vor, welche gepostet werden sollen. Dies funktioniert in ständiger Absprache und Debatte mit den anderen NINJAS in ganz Brasilien per SMS, WhatsApp, Facebook oder Telefon, um den Prozess zu beschleunigen. Neben dieser grundlegenden Tätigkeit arbeiten wir auch in der Hauptstadt Brasília. Dort geht es vor allem darum, die Arbeit zu koordinieren, den Kongress zu besuchen und auch Demonstrationen, Interventionen, Besetzungen oder Ereignisse zu begleiten, die möglicherweise in unsere Berichterstattung aufgenommen werden könnten.

Wie viele Menschen seid ihr in der Gruppe? Seid ihr in ganz Brasilien aktiv? Wie koordiniert ihr eure Arbeit?

Mídia NINJA hat einen dauerhaften Kern von ungefähr 20 Personen in den verschiedenen Städten Brasiliens. Unter ihnen befinden sich Journalisten, Fotografen, Kameraleute und Redakteure, die abwechselnd immer verfügbar sind, um mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, direkt von der Straße oder im Internet berichten zu können. Darüber hinaus haben wir eine Basis von Unterstützern im ganzen Land, die 1.500 Personen bereits übersteigt. Diese Unterstützer haben die volle Freiheit, darüber zu berichten, was sie für richtig halten, so dass die Inhalte in der Regel spontan verbreitet werden, nachdem sie von uns kontrolliert wurden. Wir sind in vielen Städten landesweit aktiv, aber die Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen und Kollektive des Landes ist noch im Aufbau. Die Idee ist es, unsere Präsenz noch weiter zu stärken, um die für ganz Brasilien relevanten Themen ansprechen zu können.

Arbeitet ihr mit anderen Mediengruppen zusammen?

Ja, wir fördern andere Gruppen und arbeiten mit den Gruppen zusammen, die ein Interesse an freien, unabhängigen und dezentralen Medien haben, entweder durch die Vernetzung von Inhalten oder eine gemeinsame Berichterstattung.

Ihr seid vor allem durch handgefilmte Videos und Fotos mitten aus dem Geschehen der Proteste bekannt geworden. Welchen Vorteil bringt diese Art der Berichterstattung?

Ganz klar die Geschwindigkeit der Ausführung. Bereits mehr als ein Jahr vor der Gründung von Mídia NINJA haben wir mit dieser Form der Berichterstattung begonnen. Der Schwerpunkt unserer Arbeit ist es, zu zeigen was passiert während etwas passiert, sei es mit in Echtzeit geposteten Fotos, Informationen die den Moment einfangen oder mit Live-Übertragungen auf den Demonstrationen.

Am 22.07 wurden zwei eurer Kollegen am Rande einer Demonstration vor dem Regierungssitz Palácio Guanabara in Rio de Janeiro festgenommen. War dies eine Ausnahme polizeilicher Willkür oder habt ihr schon öfters Repressionen erlebt?

Weil wir so stark in die Demonstrationen eingebunden sind, versucht die Polizei uns permanent in irgendeiner Weise zu behindern. So kommt es vor, dass wir aufgrund von angeblicher "Verbreitung von Gewalt in den sozialen Netzwerken", so die PMRJ (Polizei von Rio de Janeiro), verhaftet werden, extrem bei unserer Arbeit gestört werden oder versucht wird unser Material zu zerstören, wie es in Belo Horizonte, Vitória und auch Rio de Janeiro passiert ist. Neben der Militärpolizei gab es Versuche der Repression und Einschüchterung von Menschen die gegen die Proteste eingestellt sind. Wir glauben nicht an eine Ausnahme und wir glauben auch nicht, dass Verhaftungen und Gefängnis die einzigen verwendeten Methoden unserer Beschneidung sind. Wenn es eine Ausnahme war, wissen wir es nicht, aber Zufall war es auch nicht.

Mittlerweile habt ihr über 200.000 Follower auf Facebook, internationale Zeitungen wie die New York Times oder The Guardian haben über euch berichtet und in sozialen Netzwerken ist von Menschen zu lesen, die durch eure Berichterstattung politisiert wurden. Seid ihr von der Rezeption eurer Arbeit überrascht? Woran glaubt ihr liegt das große Interesse der brasilianischen Öffentlichkeit an unabhängigen Medien?

Wir sind von der Rezeption unserer Arbeit überrascht, haben uns aber lange darauf vorbereitet. Wir glauben, dass das enorme Interesse auf den historisch riesigen Nachholbedarf an unabhängigen Bürger-Medien und das Fehlen der medialen politische Debatte zurückzuführen ist. Viele Menschen betrachten Mídia NINJA und andere unabhängige Medienkollektive als eine Art Paradigmenwechsel im Zeitalter des digitalen Journalismus des 21. Jahrhunderts und sehen in ihnen die Möglichkeit einer einst ferngeglaubten unabhängigen Medienlandschaft, die tatsächlich daran interessiert ist, was für die Bevölkerung von Bedeutung ist und ihre Parteilichkeit annimmt, ohne dabei voreingenommen zu sein.

In den letzten Tagen waren in der linken Szene vereinzelte Stimmen zu vernehmen, die euch wegen eurer vermeintlichen Institutionalisierung und eventuellen Annahme von staatlichen Geldern kritisieren. Auch euer Interview mit dem Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, wurde von vielen als zu zahm und unkritisch bewertet. Wie steht ihr zu den Vorwürfen?

Zuerst muss gesagt werden, dass der Schwerpunkt von Mídia NINJA weder darin liegt, sich zu institutionalisieren, noch sich im Sinne der Massenmedien zu vergrößern. Unser Ziel ist es, uns mit der größtmöglichen Anzahl von unabhängigen Mediengruppen zu verbinden, um ein dezentrales und verbundenes Netzwerk zu erschaffen, welches es schafft, die für Brasilien relevanten Themen auf die mediale Tagesordnung zu setzen. Bezüglich öffentlicher Gelder glauben wir, dass es eine Umkehrung der Werte geben muss. Der Staat finanziert durch seine staatlichen Unternehmen und anderen Organe mit Sponsorengeldern in Höhe von Hunderten von Millionen von Reais die großen Medienunternehmen. Wenn unabhängige Bürgerinitiativen öffentliches Geld erhalten wird dies in der Regel sehr negativ betrachtet. Wir glauben, dass der Staat mehr Geld in sogenannte unabhängige Bürger-Medien investieren sollte und denken nicht, dass dies die Unabhängigkeit dieser Medien beeinträchtigt. Über das Interview mit Eduardo Paes haben wir eine Stellungnahme veröffentlicht, in der wir im Grunde sagen, dass wir uns bei den Möglichkeiten zwischen Fernbleiben und Akzeptieren, für das Letztere entschieden haben, obwohl uns klar war, dass wir nicht zu 100 Prozent vorbereitet waren, einem Politiker mit dieser Erfahrung gegenüberzustehen.

In Deutschland sind die Proteste aus der medialen Öffentlichkeit weitestgehend verschwunden. Wie schätzt ihr vor Ort die Kontinuität der Proteste ein? Welche Perspektiven seht ihr?

Wir denken, dass Massenproteste natürlicherweise mit der Zeit an Kraft verlieren. Jedoch zeigt sich auch, dass die Nachwirkungen der Demonstrationen vom Juni immer noch präsent sind und für lange Zeit weiterlaufen werden. Heute sehen wir in vielen Städten Brasiliens Besetzungen aller Art, unter anderem von Rathäusern, Sitzen der Landes- und Kommunalregierungen, Häusern von Politikern und anderen institutionellen Gebäuden. Dies ist eine unmittelbare Folge der Proteste und obwohl die Besetzungen keine hunderttausende Teilnehmer mehr zählen, haben sie wichtige Siege in Städten wie Belo Horizonte, Rio de Janeiro und Porto Alegre erreicht, um nur einige Beispiele zu nennen. Gerade sind wir dabei, einen Artikel über die Besetzungen zu verfassen, der bald veröffentlicht wird.

Über die weiteren Perspektiven, die Proteste und Demonstrationen ist zu sagen, dass diese -zwar im kleineren Ausmaß- eine immer größer werdende Zahl von Personen politisieren und förmlich explodieren, wenn es Konsens in den Orientierungen gibt. Seit vielen Jahren wachsen Bewegungen in Brasilien und der dauerhafte Kern dieser Bewegungen wird weiter wachsen, sich organisieren und reifen.