Der Mythos der harmlosen Agrochemikalien

Die Verteidiger des Herbizids Glyphosat behaupten, es sei für den Menschen nicht gefährlicher als Koffein, Salzwasser oder Aspirin

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Seit Jahren kämpfen soziale Bewegungen in Argentinien gegen den Einsatz von Gensoja und Glyphosat und fordern, wie hier bei einer Demonstration in Córdoba 2012 "Monsanto raus"
Seit Jahren kämpfen soziale Bewegungen in Argentinien gegen den Einsatz von Gensoja und Glyphosat und fordern, wie hier bei einer Demonstration in Córdoba 2012 "Monsanto raus"

Die kontroversen Debatten über die Risiken und Folgen eines der weltweit am meisten eingesetzten Herbizide – Glyphosat – hören nicht auf. Sie bekamen jüngst einen neuen Anstoß, als einer der bekanntesten Glyphosat-Produzenten, Monsanto, in einem US-Klageverfahren schuldig gesprochen wurde, das ein im Endstadium krebskranker 46-jähriger Gärtner angestrengt hatte. Der Konzern muss ihm 289 Millionen US-Dollar Entschädigung zahlen; 8.000 weitere Klagen sind in Bearbeitung.

In den darauf folgenden Tagen fiel der Marktwert des deutschen Chemiekonzerns Bayer, der Monsanto gerade übernommen hat, auf den niedrigsten Stand seit fünf Jahren – mit Verlusten in Höhe von 18 Milliarden US-Dollar – und erholt sich jetzt erst langsam. Wenn die nächsten Urteile auch so ausfallen, wird der Konzern Entschädigungen in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar zahlen müssen. Parallel dazu kündigten Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien an, ihre Haltung zu Glyphosat zu überprüfen.

All dies hatte auch Auswirkungen in den südamerikanischen Ländern, die Glyphosat intensiv nutzen, insbesondere in den Monokulturen gentechnisch veränderter Soja (Argentinien, Brasilien, Bolivien, Paraguay und Uruguay). Viele Bürgerinitiativen nutzten das Urteil des US-Gerichts, um ihre Kritiken am Herbizid Glyphosat zu untermauern. In diesen Ländern waren die Nutzung von Glyphosat und genveränderter Soja stark angestiegen beim Versuch, durch Steigerung der Soja-Exporte die wirtschaftlichen Probleme zu überwinden.

Verteidigung des Glyphosats

In all diesen Ländern wird das Glyphosat von einer breiten Allianz aus Regierungen und Wissenschaftlern, Landwirten und Agrarchemieunternehmen verteidigt. Sie argumentieren, es sei eine unbedenkliche Substanz, die – richtig verwendet – keinerlei Risiken berge, und verkünden, dies sei eine "wissenschaftliche Wahrheit". Sie fügen hinzu, dass die Kritiken und Warnungen von ignoranten Personen und Scharlatanen stammten. Beispielsweise hat der argentinische Minister für Wissenschaft und Technologie Glyphosat mit Salzwasser verglichen, und aus dem uruguayischen Ministerium für Landwirtschaft und Viehzucht wird beteuert, es sei wie Aspirin1.

Aus der wissenschaftlichen Ecke tauchen Slogans auf, die behaupten, Glyphosat sei weniger giftig als Koffein, so zum Beispiel ein spanischer Biotechnologe in der Beilage Rural der Tageszeitung Clarín aus Buenos Aires2. Dieses Bild ist mächtig: wenn Glyphosat wie Kaffee ist, muss es keinerlei Regulierung unterliegen, genauso wie Aspirin in jeder Apotheke verkauft wird.

Hand in Hand mit dieser Kampagne lancieren die argentinischen Agrarunternehmer jetzt die Idee einer "Sustentología"3. Dieses Konzept wird als Fusion aus Wissenschaft, Technologie und Nachhaltigkeit präsentiert – ein Terminus, der Umweltschutz suggeriert. Es handelt sich um eine Strategie, die derselben Logik folgt, wie die von den Bergbaukonzernen mit dem sogenannten "nachhaltigen Bergbau"4.

Wir sind daher mit zwei Argumentationslinien konfrontiert: eine, die behauptet, das Herbizid Glyphosat sei unbedenklich, und dies sei wissenschaftlich bewiesen; und darauf aufbauend die andere Linie, dass dass eine "nachhaltige" Landwirtschaft, eine "Sustentología", unter Einsatz von Agrarchemikalien möglich sei. Es ist notwendig, sich mit diesen Konzepten auseinanderzusetzen, um deutlich zu machen, dass sie nicht nur falsch sondern auch gefährlich sind.

Herbizid und Kaffee: ein sinnloser Vergleich

Die Vergleiche von Glyphosat mit Kaffee oder Aspirin stammen, obwohl sie von einigen Wissenschaftlern verwendet werden, in Wirklichkeit von den Konzernen selbst. Seit Jahren werden diese Vergleiche sowohl von Monsanto wie auch von unterstützenden Portalen wie ‘Genetic Literacy Project’ gebracht.

Formal ist es richtig, dass Kaffee "giftiger" ist als Glyphosat, aber dieser Vergleich ist eine derart extreme Vereinfachung und Deformierung, dass sie unmöglich wird 5. Zunächst wollen wir klarstellen, dass Glyphosat nicht allein "verwendet" wird, sondern dass das "Herbizid" tatsächlich eine Verbindung ist, die andere Substanzen wie Tenside mit ihren jeweils eigenen spezifischen Risiken enthält und mit Wirkungen, die sich gegenseitig verstärken. Die Untersuchung der Auswirkungen muss all dies berücksichtigen.

Eine zweiter wichtiger Punkt ist, dass der Vergleich mit Kaffee nur auf der akuten Toxizität beruht und so zum einen die chronische Toxizität sowie zum anderen die krebserregende Wirkung außer Acht gelassen werden, das heißt die Verantwortung des Wirkstoffes für das Auftreten von Krebs. Es kann nicht erstaunen, dass diese Bezüge zu Kaffee oder Salzwasser von einigen Toxikologen als "dumme" Vergleiche eingestuft werden; es ist, als würde man behaupten, die Zigarette sei wenig toxisch, weil es sehr schwierig ist, an ihrem Rauch zu ersticken, wobei verdeckt wird, dass dadurch vermehrt Krebs beim Raucher und den ihn umgebenden Menschen auftritt.

Ein dritter Fehler ist die Blindheit gegenüber der Bandbreite betroffener Bereiche. Es gibt nicht nur die direkten Auswirkungen des Herbizids auf seine Anwender, sondern auch indirekte Folgen wie zum Beispiel für die besprühten Nachbarn, und was mit jedem passiert, der Lebensmittel oder Getränke konsumiert, die durch diese Chemikalien verunreinigt sind. Viertens können auch die Diskussionen über die ökologischen Auswirkungen der Herbizide, einschließlich auf Fauna und Flora, nicht ausgeblendet werden.

Der Mythos angesichts der wissenschaftlichen Warnungen

Parallel dazu wird insistiert, dass es keine soliden wissenschaftlichen Beweise für die chronischen oder krebserregenden Folgen des Glyphosats auf die Gesundheit gibt. Es trifft zu, dass einige Studien darauf hindeuten. Aber es wird verschwiegen, dass es viele andere wissenschaftliche Berichte gibt, die auf konkrete oder mögliche Auswirkungen auf die Gesundheit hinweisen, sei es durch direkte Beobachtung, sei es durch Laborversuche. Es werden Schäden der Nieren, des Nervensystems und der Leber aufgezeigt, wobei die größte Besorgnis ist, dass es krebserregend ist; andere Studien weisen auch darauf hin dass Glyphosat teratogen ist (Missbildungen bei Neugeborenen verursacht); und schließlich, dass einige Folgen nicht unbedingt im direkt betroffenen Subjekt, sondern in seinen Nachkommen zum Ausdruck kommen.6

Darum irrt der Biotechnologe José Mulet gründlich, als er in der argentinischen Tageszeitung Clarín sagte, "die wissenschaftliche Debatte existiert nicht" und die Unbedenklichkeit des Glyphosats verteidigte. Die wissenschaftliche Kontroverse ist enorm, sehr intensiv, und jetzt wird anerkannt, dass die aktuellen Regelungen auf einer veralteten Wissenschaft basieren und dass darum neue epidemiologische Studien und neue Standards vonnöten sind 7.

Diese ganze Situation wird noch komplizierter wenn man weiß, dass Monsanto in der wissenschaftlichen Gemeinschaft agiert, um sein Produkt zu verteidigen, gleichzeitig diejenigen Personen und Berichte angreift, die vor seinen negativen Folgen warnen und sogar auf Angestellte der US-Umweltschutzbehörde (EPA) einwirkt[8. Dies muss eine enorme Besorgnis in den Ländern des globalen Südens hervorrufen, da häufig die Entscheidungen der EPA als Referenz für eigene Kontrollen genommen werden.

Die Förderer der Mythologie des unbedenklichen Glyphosats sind keine Wissenschaftler. Sie zweifeln nicht und wissen alles – eine ganz andere Haltung als die eines Wissenschaftlers, der immer zweifelt. Es ist daher eine Rhetorik, die eher einem Technologen eigen ist, der sein bevorzugtes Verfahren verteidigt. Das kann nicht überraschen, da Monsanto letztlich ein Technologielieferant ist.

Als Förderer von Technologien verstehen sie auch die Auswirkungen auf die staatliche Politik nicht. Einmal mehr entlarvt der Vergleich zwischen Glyphosat und Kaffee diese Beschränkung. Die Entscheidung, Kaffee zu trinken, ist letztlich immer eine persönliche Entscheidung, und die Anzahl der getrunkenen Tassen bestimmt die toxischen Folgen für den eigenen Körper. Aber im Lebensmittelbereich haben uns die Unternehmen und Regierungen diese Fähigkeit genommen zu entscheiden, welche Art von Nahrung oder Getränken wir bevorzugen, weil fast alles mit Glyphosat verseucht ist. Darum dient der Vergleich von Glyphosat mit Kaffee oder Salzwasser nur dazu, die Bürgerschaft zu beruhigen – angesichts einer autoritären Aufzwingung einer Technologie, die sich selbst nicht kontrollieren kann und die ihre gesamte Umgebung kontaminiert. Gleichzeitig wird eine Wissenschaft, die dazu dient, eine demokratische Debatte anzuregen, untergraben.

"Sustentología": Astrologie für Agrarchemiker

In diesem Kontext wird der Begriff der "Sustentología" verwendet, als Synthese von Wissenschaft, Technologie und Nachhaltigkeit. Wie wir schon weiter oben gesehen haben, würde eine ernst genommene Komponente ‚Wissenschaft‘ erfordern, dass der Einsatz von Glyphosat in der Intensivlandwirtschaft beendet wird. Auch kommen die ursprünglichen Konzepte der Nachhaltigkeit aus den Umweltwissenschaften, ebenso wie die frühen Anklagen gegen Pestizideinsätze aufgrund ihrer negativen Auswirkungen auf die Ökosysteme. Wenn daher diese Komponente ernst genommen wird, wird sie zu einem weitereren Grund, den Einsatz von Glyphosat zu verbieten. Im Gegensatz dazu wird die von Argentinien aus propagierte "Sustentología" im gegensätzlichen Sinn gebraucht, um Agrarchemikalien und Monokulturen zu rechtfertigen.

Es wird offensichtlich, dass wir es mit Weltanschauungen zu tun haben, die weit über die Absichten und die Ernsthaftigkeit hinaus fast eine Religion sind. Wir entfernen uns von der Wissenschaft im eigentlichen Sinn, aber sie wird im umgekehrten Sinn verwendet, indem die ganze Beweislast denjenigen auferlegt wird, die die Risiken einer Kontamination mit Glyphosat oder anderen Chemikalien erfahren und die Gefährlichkeit dieser Produkte nachweisen müssen. Wenn jemand das tun kann, ist es bereits zu spät, so wie im Fall des Gärtners, der Monsanto verklagt hat, und der laut Ärzten eine Lebenserwartung von nur noch zwei Jahren hat.

Der Mythos vom Glyphosat, das harmloser als Kaffee ist, taucht uns in den Bereich einer Astrologie ein, die sich landwirtschaftlicher Produktionssteigerung verschrieben hat. Denjenigen, die sich nicht scheuen, Glyphosat auf Aspirin zu reimen, antworte ich, dass sich "Sustentología" auf Astrologie reimt.

Eduardo Gudynas ist Forscher am Lateinamerikanischen Zentrum für soziale Ökologie (Centro Latino Americano de Ecología Social, CLAES), in Montevideo/ Uruguay. Mehr Informationen über die Glyphosat-Debatte auf: www.agropecuaria.org

Twitter: @EGudynas

  • 1. Zu Argentinien, siehe: Ministros de los agrotóxicos, por D. Aranda, Página 12, Buenos Aires, 6. August 2018; zu Uruguay: Agroquímicos como aspirinas: maniobrando contra la agroecología, por E. Gudynas, Montevideo Portal, 15. Juli 2018
  • 2. El glifosato es seguro, von José M. Mulet, Clarín Rural, Buenos Aires, 23 mayo 2018. Der Autor ist Professor in Valencia, und öffentlichen Registern zufolge patentiert er Produkte des Konzerns BASF (siehe https://patents.justia.com/inventor/jose-miguel-mulet-salort)
  • 3. El XXVI Congreso de Aapresid. La Nación, Buenos Aires, 18. August 2018
  • 4. Anm. d. Red.: Das Kunstwort "Sustentología" wurde in Argentinien von der Agrarchemieindustrie nahe stehenden Institutionen wie Aapresid, dem argentinischen Verband der Direktsaat-Produzenten geschaffen, die seit 1996 gentechnisch verändertes Soja unter Einsatz von Glyphosat anbauen. Die Generalkoordinator des Verbandes, Guadalupe Covernton, erklärte, der Begriff bedeute "Nachhaltiges Fachwissen"
  • 5. Ich habe gar nichts dagegen, Bilder, Metaphern und Slogans zu verwenden, und faktisch nutze ich sie selbst, um Umweltprobleme aufzuzeigen. Aber dieses Mittel muss dazu dienen, neue Informationen darzulegen, und nicht, sie zu verdunkeln; es soll komplexe Zusammenhänge erklären und nicht unzulässig vereinfachen, und soll zu kritischem eigenen Denken anregen statt zu passiver Akzeptanz
  • 6. Um nur ein Beispiel zu nennen: Teratogenic effects of glyphosate-based herbicides: divergence of regulatory decisions from scientific evidence, von M. Antonious und Mitarbeitern, Environmental Analytical Toxicology S4, 2012
  • 7. Concerns over use of glyphosate-based herbicides and risks associated with exposures: a consensus statement, por J.P. Myers y colaboradores, Environmental Heatl, 15, 2016
  • 8. Diese und andere Handlungen von Monsanto gegenüber Akademikern, ihren Institutionen und Wissenschaftszeitschriften werden in den Monsanto Papers aufgezeigt; eine Auswahl auf Spanisch findet sich unter: http://monsantopapers.lavaca.org/