Soziale Explosion in Frankreich

Essay von Ignacio Ramonet zu den Protesten gegen die Sozialkürzungen in Frankreich

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Es ist wahrlich keine Überraschung. Seit mehr als zwei Jahrhunderten liegt der Protest im politischen Gen der französischen Gesellschaft. Es ist natürlich ein verfassungsmäßiges Recht, und  Demonstrationen und Streiks gehören zur Ausübung der Bürgerpflicht. Für jede neue Generation bedeutet die Teilnahme an den zyklischen gesellschaftlichen Wutausbrüchen den Eintritt ins demokratische Erwachsenenalter.

Auslöser war dieses Mal der französische Präsident. In Misskredit geraten und besudelt durch viele zum Himmel schreiende Skandale, durch Rating Agenturen und den IWF geblendet, zeigt sich Nicolas Sarkozy taub den Klagen des Volkes gegenüber und will eines der Prunkstückes des Wohlfahrtstaates zerstören: das Recht auf Rente mit 60 Jahren.

In zahlreichen Kämpfen erobert, existiert dieser gesellschaftliche Fortschritt in der  kollektiven Wahrnehmung als unberührbarer Totem. Sarkozy hat die Wertschätzung der Bürger für dieses Recht unterschätzt, obwohl er 2008 versprochen hat, dies zu respektieren. Indem er den durch diese Krise verursachten Schock ausnutzt, will er eine Reform durchsetzen, die das gesetzliche Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre herauf setzt und den Zeitraum der Beitragszahlung auf 41,5 Jahre erweitert und das Alter für den Bezug einer kompletten Rente von 65 auf 67 Jahre herauf setzt.

Einige glauben, dass Sarkozy in Wirklichkeit diese Regelungen, die auf der Solidarität der Generationen beruht, durch eine Umverteilung unterlaufen will und durch ein privates System ersetzen möchte, das einen Markt von 40 bis 100 Milliarden Euro umfassen würde. Die Versicherungsgesellschaft, die von dieser Neuregelung am meisten profitieren würde, ist die Malakoff - Mederic -  Gruppe, deren Berater …...Guillaume Sarkozy ist, der Bruder des Präsidenten.

Die Reaktion der wichtigsten Gewerkschaften ist einhellig. Ohne die Neuregelungen insgesamt zurückzuweisen, verlangen sie Veränderungen. Sie argumentieren, dass die Kosten dieser Reform hauptsächlich von den Lohnempfängern getragen werden, die sowieso schon durch die Krise gebeutelt sind, und dass  Ungleichheiten verschärft werden. Sie haben vor dem Sommer zahlreiche Demonstrationen  veranstaltet. Die Regierung, sich ihrer Macht sehr sicher, hat alle Verhandlungsangebote zurück gewiesen.

Ein schwerwiegender Fehler. Mit Ende der Sommerpause kehrten die Menschen an ihre Arbeitsplätze zurück, und es gab  zahlreiche Versammlungen in hunderten von Betrieben und Verwaltungen. Die Werktätigen haben ihre Entscheidung bekräftigt, „keinen  Schritt zurück“ zu weichen. Sie sind sich sicher, dass ein Nachgeben in einer so zentralen Angelegenheit wie der Rente mit 60 eine Lawine von weiteren Kürzungen in der Sozialversicherung, im Gesundheits- und Erziehungswesen und im öffentlichen Sektor nach sich ziehen wird.

In diesen Versammlungen hat sich herausgestellt, dass die Gewerkschaftsführer sehr viel weniger radikal sind als die Basis, die durch die fortwährenden Rückschritte im sozialen Bereich in Aufruhr geraten ist. Sofort haben sich im ganzen Land gemeinsame Aktionen entwickelt, Millionen Menschen gingen auf die Straße. Der Streik lähmte das Transportwesen, in einigen Städten wie Marseille stand alles still…..Im Zuge dieser Proteste entstanden neue Aktionsformen, die ungeahnte Ausmaße annahmen.

Die originellste Form war die Blockade von Raffinerien und Treibstofflagern. Bemerkenswert war die große Teilnahme von Oberstufenschülern an diesen Aktionen. Oft wurde diese Generation als autistische und nur mit sich selbst beschäftige „Generation Facebook“ dargestellt, aber diese energischen und kraftvollen Proteste enthüllen ihre Angst vor der Zukunft und einem sozialen Absturz.

Hinzu kommt die Furcht, dass sie zum ersten Mal nach 1945 unter schlechteren Bedingungen als ihre Eltern leben müssen, wenn sich nichts ändert. Das neue neoliberale Modell hat den sozialen Aufstieg verhindert….

Der Protest fördert ein tiefes gesellschaftliches Unbehagen und eine große Unzufriedenheit zu Tage: Arbeitslosigkeit, Prekariat, Armut (es gibt acht Millionen Arme), die tägliche Härte des Lebens….Es geht nicht nur um die Renten,  sondern auch um den Kampf für ein anderes gesellschaftliches Modell.

Auffallend ist die Unterstützung der gesamten Gesellschaft, zwischen 60 und 70% der Franzosen befürworten den Protest. Niemand kann verstehen, wie das 1945 am Boden liegende Frankreich den Aufbau eines Sozialstaates finanzieren konnte, das Frankreich von heute jedoch, fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, nicht dazu in der Lage ist. Niemals vorher gab es solch einen Reichtum. Die fünf größten französischen Banken haben im Jahr 2009 einen Gewinn von 11 Milliarden erwirtschaftet. Im selben Jahr haben die vierzig wichtigsten Unternehmen Hilfen von insgesamt 47 Milliarden Euros erhalten……..Warum kann ein so riesiges Kapital nicht für die Renten verwendet werden? Die Europäische Kommission schätzt, dass schon eine geringe Gebühr auf Finanztransaktionen der gesamten Europäischen Gemeinschaft jedes Jahr zwischen 145 und 372 Milliarden Euro einbringen kann…..Mehr als genug, um höhere Ausgaben bei den Renten zu finanzieren.

Das neoliberale Dogma verlangt jedoch, dass das Kapital steuerlich entlastet und die Löhne belastet werden. Daher weht der Wind in Frankreich. Niemand der Antagonisten darf nachgeben. Die Gewerkschaften sind gestärkt vom Rückhalt der Bevölkerung und bleiben auch nach Monaten  des Widerstands geeint. Nachgeben würde eine ähnliche Niederlage bedeuten wie die der britischen Bergleute 1985 gegenüber Margret Thatcher. Das bedeutete damals das Ende des Arbeiterwiderstands im Vereinigten Königreich und hat den ultraliberalen „Schocktherapien“ Tür und Tor geöffnet.

Nicolas Sarkozy kann auf die Unterstützung der EU, des IWF, der Banken und der europäischen Unternehmer zählen, die alle fürchten, dass der „französische Funke“ einen Waldbrand auf dem gesamten Kontinent auslöst. Ein Nachgeben bei seinen Reformen würde seine Wahlniederlagen 2012 bedeuten.

Die französische Geschichte zeigt, dass ein so weit fortgeschrittener Protest niemals wieder rückgängig gemacht worden ist. Er hat immer gesiegt.