"Raum für vorsichtigen Optimismus in Venezuela"

Die Realität spricht gegen die Idee, dass alles verloren sei und Venezuela sich in einer humanitären Krise befinde

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Großdemonstration in Venezuelas Haupstadt zur Unterstützung der Regierung Maduro am 17.Oktober. Aufgerufen hatte die PSUV
Großdemonstration in Venezuelas Haupstadt zur Unterstützung der Regierung Maduro am 17.Oktober. Aufgerufen hatte die PSUV

Venezuelanalysis sprach mit Steve Ellner, dem Professor der Universidad de Oriente über eine Reihe drückender Probleme Venezuelas, einschließlich der gegenwärtigen nationalen Wirtschaftskrise, dem Abwahlreferendum und der Zukunft des bolivarischen Prozesses.

Teil I

Zu Beginn wüsste ich gerne Ihre Auffassung der aktuellen politischen Lage in Venezuela.

Trotz der sehr drückenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich in einer Umformung der Loyalitäten der Bevölkerung zeigen - manche wurden desillusioniert, andere die den Prozess unterstützten, wurden apathisch und noch andere wechselten vom chavistischen zum Lager der Opposition - gibt es dennoch bestimmte Aspekte der Situation in Venezuela, die ermutigend sein könnten und Raum für vorsichtigen Optimismus lassen.

Ein Punkt ist, dass die Bemühungen der Opposition, die Barrios (ärmere Wohngebiete) zu durchdringen und Unterstützung der Bewohner für ihre Mobilisierung zu bekommen, bisher nicht erfolgreich waren. Das war sicherlich der Fall während der Guarimbas 2014, als die Opposition offensichtlich hoffte, dass die Proteste, sowohl der zivile Ungehorsam als auch gewalttätige Proteste und Mobilisierungen in von der Opposition kontrollierten Gegenden, sich weiter ausbreiten in ärmere, traditionell chavistische Viertel. Im östlichen Teil von Caracas und in anderen von der Opposition beherrschten Gemeinden im ganzen Land, waren diese Proteste stark, aber sie breiteten sich nicht in die Barrios aus. Und jetzt, im Jahr 2016 passiert dasselbe wieder. Die Opposition ist bei der Mobilisierung der Bewohner in den Barrios nicht erfolgreich gewesen.

Das soll nicht heißen, dass Menschen in den Barrios überwiegend die Regierung unterstützen. Aber es ist eine Sache zu sagen, sie sind enttäuscht im Hinblick auf die Situation, und eine andere zu sagen, ihre Enttäuschung hätte einen Grad erreicht, bei dem sie enthusiastisch die oppositionellen Parteien unterstützen und gewillt sind, an deren Mobilisierungen teilzunehmen. Bedenken Sie, dass zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion 1991 die Bergarbeiter an den Protesten gegen die Regierung teilnahmen, die zu ihrem Sturz beitrugen. Es ist also eine Sache, dass man enttäuscht ist, es ist eine Sache irgendwie desillusioniert zu werden, oder man hat weitere Zweifel. Es ist etwas anderes, dass diese Enttäuschung sich in eine Art Wut oder Verzweiflung verwandelt, die sich ausdrückt in Form vonTeilnahme an Mobilisierungen und Protesten gegen die Regierung.

Die Opposition hat versucht, die Leute in den langen Warteschlangen vor Supermärkten zu politisieren. Sie gingen hin und begannen, über Politik zu reden, in der Hoffnung, dass die Menschen in der Schlange aktiv antworten würden, wodurch alles Mögliche hätte passieren können. Und doch, obwohl die Leute naturgemäß aufgebracht waren und das möglicherweise in den Warteschlangen zum Ausdruck brachten, wurde es nicht zu der Art Szenario, das sich die Opposition erwartet und erhofft hatte.

Trotzdem sehen Sie eine zunehmende Unzufriedenheit in der Gesellschaft ‒ wenn auch nicht notwendigerweise politisierte Unzufriedenheit ‒ die sich aufgrund der Intensität der Krise in Form von Plünderungen etc. Luft macht , wie bei den Cumanazo-Unruhen im Juni. Diese östliche Küstenstadt war für zwei Tage lahmgelegt, die Polizei nahm über 400 Personen fest.

Was ich gerade sagte, bezieht sich auf die Situation bis jetzt. Ich mache keine Vorhersagen darüber, was passieren könnte. Die Situation hier in Venezuela ist sehr schwierig für jeden. Wenn es schon schwierig für uns Universitäts-Professoren ist, so ist es noch viel schwieriger für die popularen Sektoren der Bevölkerung. Es stimmt, dass die Situation dem Staat an einem gewissen Punkt entgleiten könnte, aber zumindest bis jetzt ist das nicht in größerem Ausmaß passiert. Das ist eine Realität, die gegen die Idee spricht, dass alles verloren sei und Venezuela sich in einer humanitären Krise befinde, eine Annahme, die eine ungeheure Übertreibung darstellt, so schlimm die Dinge auch stehen mögen.

Niemand bestreitet, dass die wirtschaftliche Situation momentan sehr ernst ist. Aber es ist auch sehr verblüffend in dem Sinne, dass die Regierung einen flexiblen Wechselkurs, den DICOM, einführte, der in den vorangegangenen sechs Monaten stieg, während der Schwarzmarktkurs tatsächlich leicht sank. Wenn der Schwarzmarktkurs die Inflation anheizt, würde man ja davon ausgehen, dass die Inflation zurückgeht. Dennoch steigt die Inflation an und der Gütermangel setzt sich fort, da die Importe beschnitten werden. Was passiert mit der venezolanischen Wirtschaft?

Zuerst würde ich sagen, dass die Situation in Sachen Wechselkurskontrollen jetzt qualitativ anders ist als zuvor, weil der offizielle (niedrigste) Wechselkurs nicht zusammen mit dem Wechselkurs des freien Marktes abgerutscht ist.1 Aber gleichzeitig haben wir noch einen Wechselkurs, der sich bis zu einem gewissen Grad auf den freien oder Schwarzmarkt stützt ‒ der Dicom-Kurs ist über 600, während der Schwarzmarktkurs bei ungefähr 1.000 liegt und tatsächlich vor ein paar Wochen fiel, bevor er leicht anstieg.

Das ist eine neue Situation, weil erstens der Wechselkurs auf dem freien Markt praktisch seit 2012 nie sank oder nie stabil blieb in dem Maß, wie es die letzten ein oder zwei Monate stattfand. Nach 2012 und bis vor kurzem schoss der Dollar stetig hoch. Und zweitens, die Tatsache, dass die Umrechnung zwischen DICOM-Kurs und dem Kurs auf dem freien Markt weniger als zwei zu eins ist. Ich halte das für ein ziemlich positives Zeichen, denn das war die Situation des Wechselkurskontrollsystems bis 2012. Zwischen 2003 und 2012 war das Verhältnis zwischen dem Wechselkurs des freien Markts und dem offiziellen Kurs zwei zu eins, und dieses System funktionierte, wenn es auch sicherlich nicht ideal war.

Als der Ölpreis bei 100 Dollar pro Barrel lag.

Genau, bei einem Ölpreis von 100 Dollar pro Barrel hatte die Regierung kein Problem mit dem Mißverhältnis, denn bei jedem Kursanstieg konnte sie Dollars injizieren. Das Sicadi-System hatte vor 2012 seine Logik, den Leuten wurde gesagt "behaltet eure Bolivares, kauft keine Dollars, denn sobald wir per Sicadi- Dollars einschießen, könnt ihr sie viel billiger bekommen als auf dem Markt." Dieser Mechanismus hatte den Zweck, Bolivares vom offenen Markt fernzuhalten, die Leute sollten sie behalten, statt sie auf dem Markt in Dollars zu tauschen. Die Dollarnachfrage sollte gering gehalten und der Preis kontrolliert werden. Das System funktionierte, weil die Regierung Dollars hatte.

Bei Inflation steigt der Dollar natürlich. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Wechselkurs und Produktpreisen auf dem Markt. Eventuell wird es eine Anpassung geben. Aber ein stabiles Verhältnis von zwei zu eins oder weniger von Dollar zu Dicom ist eine deutliche Verbesserung zu dem, was seit 2012 geschah.

Sie erwähnten den niedrigsten Wechselkurs, den sogenannten Dipro. Wenn er dazu bestimmt ist, Billigpreise für einige Basisgüter zu sichern, dann bin ich damit einverstanden. Ich denke, dass der duale Wechselkurs nötig ist: Wenn man zulassen würde, dass der Preis für lebenswichtige Waren an den Dollar gekoppelt wird, könnten die meisten Leute sie nicht kaufen. Wenn man dollarisiert, können sich die Leute die Sachen nicht mehr kaufen, weil sie zu teuer sind.

So ist es, und wenn man es macht wie in Ecuador, ganz bestimmt. Wenn man, wie einige Chavista-Ökonomen vorschlagen, einen einheitlichen Dollarkurs für alles festsetzt, dann wird es die wenig begüterten Schichten am härtesten treffen. Um es stark vereinfacht zu sagen und auch wenn nicht alles in dieses Muster passt: Wir haben ein zweistufiges oder sogar dreistufiges System. Zuerst sind da die ärmeren Sektoren, die stundenlang Schlange stehen, die schließlich aber die Güter bekommen, die sie brauchen, weil die Preise stark subventioniert sind. Dann gibt es zweitens Güter wie Fleisch oder Huhn, die beim Metzger zu höheren als zu den regulierten Preisen verkauft werden, was die Regierung toleriert. Das sind legale Transaktionen, die Mittelklasse kann in diesen Läden einkaufen, ohne Schlange zu stellen, sie zahlen aber mindestens das Doppelte. Und dann gibt es drittens die 'bachaqueros' Händler, die staatlich subventionierte Gütern des täglichen Bedarfs zu überhöhten Preisen verkaufen, die illegal auf den Straßen verkaufen. Es gibt also tatsächlich ein dreistufiges System. Das ist gewiss keine wünschenswerte Situation, aber, und darauf kommt mir es an, Venezuela ist kein unregierbares Land.

Venezuela befindet sich nicht in einer humanitären Krise, wie es die Medien in den USA oder sonstwo verbreiten. Die New York Times ‒ eine angeblich ausgewogenere, unparteiischere Zeitung als andere in den USA ‒ schreibt derzeit regelmäßig von 'humanitärer Krise' in Venezuela und das ist eine Übertreibung. Es gibt natürlich wahre Elemente, in dem was sie schreiben: die wirtschaftliche Situation in Venezuela ist sehr schwierig. Aber sie machen zwei Dinge, die die Öffentlichkeit irreführen. Zum einen ist die Situation nicht so desolat, wie sie andeuten, denn, um es nochmal zu betonen: die armen Leute haben Zugang zu allen lebensnotwendigen Dingen. Ich bestreite nicht, dass man vier, fünf oder sogar sechs Stunden Schlange stehen muss, und das ist eine schreckliche Situation. Und es gibt Menschen, die keine drei Mahlzeiten am Tag haben, was noch schlimmer ist. Aber von humanitärer Krise zu schreiben, wie Medien das tun, das ist eine Übertreibung. Das System der Clap2 und die staatlich regulierten Preise garantieren, dass arme Menschen zumindest Zugang zu den Grundbedarfsgütern haben.

Mein zweiter Punkt bezüglich der angeblichen 'humanitären Krise' ist, dass die Medien unterschiedliche Dinge verquicken: Die sehr schwierige wirtschaftliche Situation und die politischen Situation, von der sie behaupten, Venezuela sei undemokratisch und verletze ständig die Menschenrechte. Diese Vermischung von Wirtschaftlichem mit Politischem ist irreführend. Wenn sie von den wirtschaftlichen Problemen des Landes reden, dann übertreiben sie, aber möglicherweise nicht allzusehr. Wenn sie aber verbreiten, Venezuela sei keine Demokratie und es gäbe eine systematische Verletzung der Menschenrechte, dann ist das sehr irreführend. Die Leser dieser Zeitungen oder die Zuschauer von CNN werden versucht sein zu denken, "Was sie über die Wirtschaft sagen, stimmt nach allem, was ich weiß, was sie über das Politische sagen, wird wohl auch stimmen." Aber das, was sie über die politische Zuspitzung mitteilen, führt völlig in die Irre. Und die Beschuldigung, Venezuela sei undemokratisch, rechtfertigt natürlich mehr als die Beschreibung der düsteren Wirtschaftslage eine Einmischung von außen.

Um zurückzukommen zur Wirtschaftskrise, die zweifellos sehr schwer ist., Der neue variablen Wechselkurs der Regierung ist so weit angestiegen,, dass er weniger als zwei zu eins zum Schwarzmarktkurs liegt, was positiv ist. Nichtsdestotrotz steigt die Inflation. Die Regierung spricht weiterhin von einem Wirtschaftskrieg. Viele kritische Chavistas sagen, "Wenn dies ein Wirtschaftskrieg ist, dann sind wir diejenigen, die in den Hintern getreten werden". Vom Blockwinkel des Staates aus gesehen zählen jedoch nicht nur die Entscheidungen, die aus dem Staatsapparat kommen, sondern ebenso die Nicht-Entscheidungen, das Fehlen von Entscheidungen. Mit Ausnahme des Dicom ‒ das außerdem noch halbherzig ist ‒ hat die Regierung seit Chávez' Tod keine reale, substantielle wirtschaftliche Entscheidung mehr getroffen. Was sagt uns dieser Stillstand, diese Lähmung über die derzeitigen Widersprüche innerhalb des venezolanischen Staates?

Ich stimme ich zu, dass die Regierung Maduro in ihren Entscheidungen sehr langsam gewesen ist, obwohl die Situation drängt und sofortige Antworten verlangt. Der ab 2012 in die Höhe schießende Dollarkurs hätte unmittelbares Handeln erfordert. Nun, mir ist klar, dass Maduro zu jener Zeit lediglich amtierender Präsident und nicht in einer idealen Position war, um sofort zu Handeln, und das genau in den Monaten, als der Dollarpreis außer Kontrolle geriet. Als er im April 2013 Präsident wurde, war die Situation schon viel schwieriger zu korrigieren. Die Antwort hätte schneller kommen müssen, aber es gab fast ein Machtvakuum in Folge von Chavez' Krankheit und der Tatsache, dass Maduro damals nur amtierender Präsident war.

Es gibt aber andere Situationen, wo man feststellen kann, dass die Langsamkeit der Regierung wirtschaftlichen und politischen Schaden angerichtet hat. Beispielsweise hat Maduro mit der Erhöhung des Benzinpreises so lange gewartet. Er kündigte die Preisanhebung ein Jahr zuvor an, sagte aber, dass er aber den geeigneten Moment abwarten würde. Er wartete fast Jahr. Das ist sehr anschaulich für seine Langsamkeit im Handeln, wo sofortige Entscheidungn hätten getroffen werden müssen.

Liegt diese Zögerlichkeit eher an Maduro selbst oder hat sie zu tun mit den im Staat wirkenden Kräfteverhältnissen, die Maduro vielleicht an einer Entscheidung hindern? Haben die im Staatsapparat und im Chavismo vorhandenen konservativen Kräfte entschlossenere Maßnahmen möglicherweise blockiert, die aus der Krise geführt oder sie im Sinn revolutionärer Fortschritte gelöst hätten?

Als Maduro Anführer der chavistischen Bewegung wurde, gab es viele Spekulationen über die Beziehung zwischen Maduro und Diosdado Cabello. Die Opposition und ausländische anti-Chavisten spielten mit angeblichen Differenzen zwischen Beiden. Ich habe es selbst erlebt im Fall einer Journalistin der mexikanischen Tageszeitung 'El Universal', die mich etwa zu dieser Zeit interviewte und bei der die offensichtliche Absicht hinter all ihren Fragen war, die angeblichen Spannungen zwischen den beiden Anführern herauszustellen. Die existierten aber gar nicht. Maduro ist der unbestrittene Anführer des chavistischen Bewegung ‒ ich meine innerhalb des Chavismo, nicht bezogen auf die ganze Nation. Das ist einerseits günstig, denn es bedeutet, dass es eine kollektive Führung gibt, und es ist wünschenswert, dass verschiedene Personen einen Einfluß auf die Entscheidungsfindung haben. Aber wenn es zu einer drängenden Situation kommt, in der wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, kann das andererseits die Möglichkeit behindern, schnell und effektiv zu antworten, wenn man einen Konsens erreichen will und sich zu sehr darum kümmert, was alle anderem sagen.

Die Wirtschaftskrise bestärkte die Opposition in ihrem Bemühen um ein Abwahlreferendum und das ist eine heiklen Angelegenheit geworden. Einerseits beschuldigt die Opposition die Regierung, den Prozess nach Kräften zu verzögern. Der CNE3 kündigte letzten Monat an, das Referendum in diesem Jahr nicht mehr abzuhalten, was heißt, dass im Falle von Maduros Niederlage der Vizepräsident für den Rest der Wahlperiode übernähme und keine Neuwahl stattfindet. Die Regierung ihrerseits hat die Opposition beschuldigt, mit den Vorbereitungen für das Referendum zu lange gewartet zu haben und zudem mit anderen, verfassungsmäßig fragwürdigen Mitteln zu hantieren, um Maduro aus dem Amt zu drängen. Wie ist Ihre Sicht des Abwahlreferendums?

Wenn die Opposition den Fehler gemacht hat, mit den nötigen Schritten zu lange zu warten, und wenn sie bei der Unterschriftensammlung nicht sorgfältig genug waren, dann ist es das gute Recht der Chavistas, das auszunutzen. Es gibt einige Haken im Gesetz, nicht nur in der Verfassung, auch im Gesetz, das nach dem Abwahlversuch im August 2004 verabschiedet wurde ‒ aber das sind die Spielregeln. Unter anderem verlangt das aktuelle Gesetz als ersten Schritt die Unterschriften von einem Prozent der Wählerschaft. Wenn der ganze Prozess diesmal um einiges formaler abläuft als 2003 und 2004 und die Opposition zu schlafmützig war - unabhängig von ihren Erklärungen, warum sie so lang gewartet haben - dann ist es für die Chavistas selbstverständlich legitim, auf dem genauen Ablauf der Prozedur zu beharren, die dann zu Verzögerungen führt. Außerdem gab es viele Unterschriften, die nicht korrekt waren, von Minderjähriger beispielsweise. Der MUD 4 und speziell Capriles behaupteten, sie hätten die Unterschriften geprüft und alle seien gültig. Aber bei tausenden Minderjährigen, Verstorbenen usw., wo war da die Überprüfung ?

Wenn nun das Weiße Haus fordert, die Regierung Venezuelas solle das Referendum stattfinden lassen, weil die Leute das wollen, dann sind das doppelte Standards. Erstens, weil es in den USA gar kein Referendum zur Abwahl des Präsidenten gibt. Zweitens, weil abgesehen von dem, was die Umfragen über Maduros Popularität sagen, es in den USA häufig vorkommt, dass die Beliebtheit von Präsidenten den Tiefpunkt erreicht. Ich las gerade eine Übersicht über die Beliebtheit verschiedener US-Präsidenten, mehrere von ihnen hatten bei Amtsende Raten unter 25 Prozent. George W. Bush beispielsweise, seine Beliebtheit lag unter 25 Prozent. In den Monaten vor Amtsende stieg sie allerdings wieder um einige Prozentpunkte. Das passiert auch häufig bei Zwischenwahlen. Bei den Kongresswahlen 2014 erlitten die Demokraten eine Schlappe. Sie verloren die Kontrolle im Senat, sodass die Republikaner jetzt über beide Häuser des Parlaments die Kontrolle haben. Eine Niederlage der Regierungspartei bei Zwischenwahlen ist in der Tat nichts Ungewöhnliches. Die Tatsache, dass der MUD im Dezember mit etwa 56 Prozent gewonnen hat, ist – auch wenn mehr als 56 Prozent der Abgeordneten auf die Opposition entfielen – also kein Mandat für einen Regierungswechsel.

Die USA haben wirklich keinerlei Rechtfertigung für Forderungen irgendwelcher Art bezüglich Venezuelas Innenpolitik. Insbesondere ist die Forderung nach einem Abwahlreferendum kein überzeugendes Argument, weil es diese Option in den USA auf Präsidentenebene gar nicht gibt.

Im übrigen gibt es keine Forderung der venezolanischen Regierung in Richtung USA bezüglich deren gewaltiger Probleme, etwa die durch die Polizei getöteten Afroamerikaner und die Straflosigkeit in vielen dieser Fälle. Und die Liste der Probleme wird länder und länger, wie es wahrscheinlich bei den meisten wenn nicht bei allen Ländern der Welt der fall ist. Daher ist Einmischung in innere Angelegenheiten, abgesehen von extremen Fällen, Diplomatie ohne Prinzipien, meine ich. Wenn alle Länder derartiges täten, dann sähe es noch schlimmer aus in der Welt. Kurz gesagt, Dieses Dauerfeuer an Kritik aus dem Weißen Haus und anderen Stellen in Washington ist in höchstem Maße unangemessen.

Es handelt sich offensichtlich um einen klassischen Fall imperialer Arroganz, aber um auf den Punkt 'Popularität' zurückzukommen: natürlich hätte jeder Regierungschef jedes beliebigen Landes mit einer derartigen Wirtschaftskrise einen vergleichbaren Verlust an Beliebtheit.

Wenn wir aber von einer Periode revolutionärer Umgestaltung sprechen, so können radikale Bewegungen und Parteien es sich nicht leisten, die Unterstützung der Menschen im Verlauf großer Niederlagen zu verlieren, denn es handelt sich nicht nur um dne Wechsel an der Macht, sondern um einen Wechsel hin zum Aufbau einer grundlegend neuen Ordnung. Die Frage ist also: Wenn es jetzt in diesem Jahr kein Abwahlreferendum gibt, was wird bei den Präsidentenwahlen 2019 passieren? Denn Umfragen unter jungen Venezolanern haben gezeigt, dass die Mehrheit 'weder-noch' ist (weder für die Regierung noch für die Opposition), und viele haben an Politik überhaupt kein Interesse. Es gibt eine weitverbreitete Desillusionierung, weil die gegenwärtige Krise aufgrund der Fehler der Regierung mit dem Sozialismus gleichgesetzt wird. Denn es war die Regierung, die Venezuela als sozialistisch proklamiert hatte, obwohl Chávez selbst gesagt hatte, Sozialismus sei ein Projekt 'im Aufbau'. Die Frage ist, wie positioniert sich die Linke für 2019? Welche Zukunft hat die venezolanische Linke bezogen auf strategische Möglichkeiten, wieder in die Offensive zu kommen?

Ich glaube, woran es wirklich mangelt ist eine Neustrukturierung der chavistischen Bewegung und der über den Chavismus selbst hinausgehenden Bewegung. In der Weise, dass mehr Entscheidungen von der Basis kommen. Ich sage das nicht, weil ich ein 'Soziale Bewegungen-Fetischist' bin ‒ soziale Bewegungen sind wichtig, aber ich bin in dem Sinn kein Fanatiker. Auch bin ich kein Vorkämpfer einer Demokratie á la Rousseau, bei der jegliche Entscheidung von unten nach oben stattfindet. Der Chavismus ist meiner Einschätzung nach beides, von oben nach unten und gleichzeitig von unten nach oben, und genau wegen dieser Dynamik war er (In dem Maße, wie es gewesen ist) erfolgreich. Beispielsweise wurden die Kommunalen Räte per Gesetz (2006), und durch Funktionäre des heutigen Ministeriums für die Kommunen Gang gebracht, die in die Gemeinden gingen und dort die Menschen ermutigten, Kommunale Räte zu bilden. Ich bin also kein Verfechter einer reinen von unten nach oben, Graswurzel-Demokratie.

Es hängt davon ab, wie man das definiert. Einige Verfechter der Graswurzel-Demokratie lehnen politische Parteien grundsätzlich ab und meinen, soziale Bewegungen allein sind es. Aber ich glaube zum Beispiel, dass einer der Schlüssel zur Korrektur der gegenwärtigen Probleme die Umwandlung der Vereinten Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) in eine Partei ist, die nicht gleichbedeutend mit dem Staat oder auch nur eng an ihn gekoppelt ist. Sie sollte vielmehr eine relative Autonomie bewahren, wenn auch keine vollständige Autonomie, denn die Chavista-Partei hat einer Chavista-Regierung natürlich Unterstützung zu geben. Aber sie sollte keine von Ministern, Gouverneuren und Bürgermeistern kontrollierte Partei sein. Ich denke, das ist wichtig, denn wenn ihr eine gewisse Autonomie gegeben wird, gäbe es mehr offene Debatten innerhalb der Chavista-Bewegung. Die führenden Positionen in dieser Partei auf kommunaler, regionaler und nationaler Ebene sollten von Personen besetzt sein, die nicht Teil der staatlichen Institutionen sind. Ferner sollte es Vorwahlen geben, an denen Gouverneure und Bürgermeister in keiner Weise teilnehmen dürfen, so dass alle Kandidaten gleiche Bedingungen haben und den Chavista-Wählern bei internen Wahlen keine sogenannten 'chuletas' mehr zugesteckt werden, Zettelchen mit den Namen der Kandidaten, für die sie stimmen sollen.

Ich denke, mehr offene Debatten sind aus verschiedenen Gründen wichtig. Lethargie hat sich breit gemacht, ein Gefühl innerhalb der Parteigliederungen, dass Entscheidungen zu sehr von oben kommen. Im Falle von Korruptionsvorwürfen seitens der Opposition kann die Chavista-Führung den bösen Willen beklagen, ihrem anständigen Funktionär Fehlverhalten vorzuwerfen, um damit Konfusion und Chaos zu stiften. Aber was ist mit einem Chavista, einem Aktiven der PSUV-Basis, der Korruptionsfälle anprangert? Viele Chavistas beklagen das Fehlen eines funktionierenden Mechanismus zur Anzeige korrupter Funktionäre. Es sind solche Mängel, die in einer Zeit zu Ernüchterung und Apathie führen, wo die Chavista-Bewegung Enthusiasmus und Vertrauen braucht. Sie braucht die Fähigkeit zur Mobilisierung, die sie ja bereits gezeigt hat, aber sie hätte eine noch größere Mobilisierungsfähigkeit, wenn die Leute nicht ein Gefühl von Machtlosigkeit hätten, sobald es um Korruption geht. Kurz gesagt, die Demokratisierung der PSUV, bei der die Partei halb-autonom dem Staat gegenüber wird, würde zu mehr Enthusiasmus innerhalb der Partei führen und sollte deswegen oberste Priorität in der Diskussion haben.

Und ein weiterer Punkt ist der Mangel an Disziplin bei Parteifunktionären, einer Disziplin, wie sie in anderen Ländern existiert, wo der Kampf der organisierten Linken mehr Traditionen hat als in Venezuela in den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Die PSUV ist eine offene Partei, woanders ist die Partei straff organisiert. Um dort Mitglied zu werden muss man zunächst als bewährter Aktivist bestätigt sein. In Venezuela ist die Partei offen und erwartet wenig von ihren Mitgliedern, was im Falle von Einrichtungen wie den CLAP zum Problem werden kann. Dort braucht man disziplinierte Leute, denen man vertrauen kann. Mein Eindruck ist, dass die CLAP, die alle von Chavistas betrieben werden, generell gute Arbeit machen. Es gibt aber Ausnahmen, und einigen von ihnen wurden Unregelmäßigkeiten vorgeworfen. Die Stärkung der Partei ist ganz wichtig, denn der Staat braucht diszipliniertes Personal die den Prozess unterstützen , um bei staatlich unterstützten Programme wie die CLAP mitzuarbeiten. Disziplinierte Aktivisten, die in solchen Situationen gebraucht werden, kommen aber eher aus einer Partei als aus den sozialen Bewegungen.

Teil II des Intervies erscheint in Kürze

  • 1. Im März vereinheitlichte die Regierung Venezuelas ihre Währungskontrolle und legte die festen Wechselkurse zu sechs bzw. 13 Bolivar pro Dollar zu einem neuen 1zehn-Bolivar-Kurs zusammen (Dipro, Cambio Protegido). Dieser Kurs ist vorgesehen für lebenswichtige Importe wie Nahrungsmittel, Medikamente und Rohstoffe, ferner für Pensionen von Venezolanern, die im Ausland leben. Die Regierung führte außerdem am 5. Oktober einen variablen Wechselkurs Dicom ein (Cambio Complementario) mit Kurs 659 Bolivar pro Dollar. Der Schwarzmarktkurs ist gegenwärtig (10. Oktober) bei 1.084 Bolivar pro Dollar.
  • 2. In ihrem Bemühen zur Bewältigung der schweren Wirtschaftskrise startete die Regierung im Frühjahr ein neues Programm zur lokalen Versorgung (CLAP, Comités Locales de Abastecimiento y Producción), wo staatliche Stellen zusammen mit Basisgruppen vor Ort in nachgeprüft dringenden Fällen für direkte, Haus-zu-Haus Lebensmittelverteilung sorgen.
  • 3. Consejo Nacional Electoral, die nationale Wahlbehörde
  • 4. Das Oppositonsbündnis Mesa de la Unidad Democrática, Tisch der demokratischen Einheit
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