"Wenn wir weiterhin regieren möchten, müssen wir uns neu erfinden"

Gespräch mit Iole Iliada von der brasilianischen Arbeiterpartei PT über das Erstarken der Rechten und Fehler der PT

ts_protesto-contra-o-pedido-de-impeachment-contra-dilma-rousseff.jpg.jpg

Demonstration gegen das Amtsenthebungsverfahren am 16. Dezember in Rio de Janeiro
Demonstration gegen das Amtsenthebungsverfahren am 16. Dezember in Rio de Janeiro

Die Beliebtheit von Präsidentin Dilma Rousseff erreicht derzeit sehr niedrige Werte. Dies steht im Widerspruch zur hohen Popularität ihres Vorgängers Lula während seiner Regierungszeit und zur Zustimmung, die die derzeitige Regierungschefin in ihrer ersten Regierungsperiode erhielt. Woher kommt dieser starke Rückgang in der Unterstützung durch die Bürger?

Um die derzeitige Konjunktur zu verstehen muss man wissen, was in den Präsidentschaftswahlen von 2014 passierte. In der zweiten Runde des Wahlkampfes gab es eine sehr starke Polarisierung zwischen der Linken und der Rechten. Der Oppositionskandidat entwarf ein Programm der klassischen neoliberalen Einschnitte (wirtschaftliche Anpassungen, Rückführung der Ausgaben für Sozialprogramme, deutlicher Schwenk in der internationalen Politik und eine geringere Verbindung mit Lateinamerika), während Dilma Rousseff weiterhin das Programm verteidigte, das die Arbeiterpartei PT seit 2002 anwendete: Vertiefung in der Sozialpolitik, hoher Stellenwert der Strategie einer lateinamerikanischen Integration.

Die Rechte verlor die Wahlen, ging allerdings gestärkt daraus hervor, da die Differenz mit knapp drei Prozent sehr gering war. Außerdem konnte sie ihre legislative Präsenz verstärken, da die Zahl der Parlamentarier mit rechtsgerichteter Ideologie stieg - sogar innerhalb der Parteien, die formal die Regierung unterstützen, so wie im Falle der PDMB (Partei der Demokratischen Bewegung Brasiliens).

In diesem Zusammenhang war es das Verständnis der Regierung Rousseff, dass sie versuchen musste, die Rechte zu beruhigen. Daher nominierte sie als Wirtschaftsminister Joaquim Levy, eine Persönlichkeit der Finanzelite und hoher Funktionär von Bradesco, einer der wichtigsten Privatbanken des Landes.

Noch vor seiner offiziellen Ernennung erschien Levy im Fernsehen. Dort kündigte er die von ihm geplanten wirtschaftlichen Anpassungen an und prahlte mit den Fähigkeiten dieser Art von Politik: er hielt den klassischen neoliberalen Vortrag. Daher übernahm Dilmas Regierung die wirtschaftliche Anpassung, die die Distanzierung wichtiger, fortschrittlicher Sektoren zur Folge hatte, welche sie in der zweiten Runde noch unterstützt hatten. Der Verlust der Unterstützung aus dem Volk wurde außerdem nicht durch eine Waffenruhe der konservativsten Bereiche kompensiert. Im Gegenteil: die politische und mediale Rechte hat den Zustand der Schwäche der Regierung ausgenutzt, um ihre Angriffe noch zu verstärken.

In welchem Maße ist die Korruption ein anderer Faktor, der den Verlust der Unterstützung durch die Bevölkerung beeinflussen konnte? Vor allem, wenn man in Betracht zieht, dass dies eines der Probleme ist, die die Regierung und Mitglieder der Arbeiterpartei beschmutzt haben.

Ich glaube, dass die Korruption keinen besonderen Einfluss hatte, denn die Anzeigen dieser Fälle datierten von deutlich früher und wurden sogar im Wahlkampf genutzt. Sie reichten jedoch nicht aus, um der PT eine Niederlage zu bescheren. Im Dezember, also nach den Wahlen, verfügte Dilma über eine prozentual hohe Unterstützung durch die Bürger. Der Rückgang der Beliebtheit wurde erst nach dem Beginn der wirtschaftlichen Anpassungsmaßnahmen festgestellt, als die Arbeitslosigkeit von fünf auf acht Prozent anstieg. Heute liegt sie sogar bei ungefähr zehn Prozent.

Auf jeden Fall ist das Korruptionsproblem ein zwingendes Thema. Welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen, um sich diesem Thema zu stellen?

Das Thema Korruption schädigt uns sehr; vor allem wenn die Bevölkerung mit dem Funktionieren der Wirtschaft unzufrieden ist, hat diese Art von Themen einen ganz besonderen Einfluss. Ein großes Problem hier in Brasilien ist, dass die großen Privatunternehmen die Parteien finanzieren, und zwar alle Parteien. Wir ziehen derzeit ein Ende der Privatfinanzierung in Erwägung und tatsächlich haben wir einen entsprechenden Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht. Es ist allerdings sehr aussagekräftig, dass die übrigen Parteien unseren Vorschlag nicht annehmen wollten und dagegen gestimmt haben.

Auf der anderen Seite ist die Parteilichkeit der großen Medien sehr augenscheinlich, denn auch der mediale Feldzug gegen die PT ist sehr stark. Die PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens), die wichtigste Partei der Rechten, verzeichnet deutlich mehr Korruptionsfälle, aber die wichtigsten Kommunikationsmedien verschweigen dies.

Lassen Sie uns zum Thema der wirtschaftlichen Anpassung zurückkommen. Es scheint so, als wäre der Zyklus der starken gesellschaftlichen Investitionen, des Rückgangs der Arbeitslosigkeit, der Armut und allgemein der Verbesserung der Lebensumstände der Bevölkerungsschichten zu Ende. Gab es keine Alternative zu den Fiskalanpassungen (Kürzungen)? Vor allem vor dem Hintergrund, dass dies der klassische Vorschlag der Anhänger des Neoliberalismus ist?

Erstens muss man darauf hinweisen, dass ein substantieller Teil der Regierungsausgaben unter Lula aus den hohen Einnahmen herrührte, die aus den hohen Rohstoffpreisen auf dem internationalen Markt herrührten. Dieses Modell hatte sich durch die internationale Krise und den dadurch hervorgerufenen Preisverfall und den Rückgang der Exportvolumina erübrigt.

Auf der anderen Seite rief Dilma während ihrer ersten Amtszeit den Privatsektor dazu auf, eine aktive Rolle in der Verbreiterung der Investitionen zu übernehmen. Sie gewährte dem Privatkapital sogar Investitionsanreize (Steuerbefreiung, Reduzierung der Energiepreise etc.). Nichtsdestotrotz investierten weder das Finanz- noch das Produktivkapital, die sich im Übrigen gegenseitig überlappen. Es gab eine Art von "Investitionsstreik".

In diesem Umfeld wird das erste Steuerdefizit unter der Präsidentschaft Rousseff verzeichnet und die Aussage des gerade ernannten Wirtschaftsministers Joaquim Levy lautete, dass die Konten der brasilianischen Regierung "außer Kontrolle" geraten und Anpassungen unumgänglich seien.

In der Stiftung Perseu Abramo der PT entschieden wir uns, in Zusammenarbeit mit über hundert Wirtschaftswissenschaftlern zu evaluieren, ob es Alternativen zu den Anpassungsmaßnahmen gäbe. Dabei gelangten wir zu dem Ergebnis, dass die wirtschaftliche Anpassung weitere Rezession generieren würde. Das Defizit war damals klein und kurzzeitig; jetzt jedoch werden wir wegen der Politik der wirtschaftlichen Anpassungen ein deutlich größeres Defizit haben, da diese Anpassungen zu einem Rückgang der öffentlichen Einnahmen führten.

Diese große Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern warnte uns, dass man in Zeiten der Rezession keine Anpassungen machen sollte und dass außerdem die Zinssätze gesunken und nicht gestiegen sein müssten. Derzeit zahlt die Regierung sehr hohe Schuldzinsen und das schlägt ziemlich auf ihren Haushalt nieder. Gleichzeitig wiesen sie uns darauf hin, dass man die Sozialprogramme ausweiten und nicht zurückfahren sollte, denn dies würde dazu beitragen, die Wirtschaft in Schwung zu bringen.

Sowohl die Mehrheit der Parteibasis der PT, als auch der CUT (Gewerkschaftsdachverband Brasiliens) haben sich gegen die Anpassungen ausgesprochen. Die Regierung und die Präsidentin jedoch haben sich von dieser Logik einfangen lassen. Ich glaube, dass wir ein kostbares Jahr verloren haben und die Partei stark unter den Auswirkungen leidet.

Die Gefahr einer parlamentarischen Entmachtung (Impeachment) nimmt wieder zu. Welchen Weg könnte diese nehmen?

Der ultrakonservative Parlamentspräsident Eduardo Cunha war immer bereit, das Amtsenthebungsverfahren zu leiten. Allerdings wird es nicht leicht für ihn, denn er benötigt eine qualifizierte Mehrheit aus 342 Stimmen von 513 Abgeordneten und viele Parteien sind sich uneins, sogar seine eigene Partei PMDB. Es kann sogar auch sein, dass Cunha vor dem Impeachment gegen Dilma seines Postens enthoben wird. Denn er wird der Korruption angeklagt (illegale Konten bei einer Schweizer Bank) und er wird sich vor der Ethikkommission der Abgeordnetenkammer einem Verfahren unterziehen.

Meiner Ansicht nach wird dieser Streit auf den Straßen gelöst werden. Die Rechte wird versuchen, ihre Basis zu aktivieren und die linken und progressiven Sektoren haben bereits mit der Mobilisierung begonnen. Dieser Einfluss wird für die Abstimmung der Parlamentarier entscheidend sein. Das bedeutet, die nächsten Wochen werden für die Zukunft der Demokratie in Brasilien ausschlaggebend sein.

Der deutliche Rückgang der Rohstoffpreise hat die Exporteinnahmen Brasiliens verringert und dies hat die Fähigkeiten der Regierung für Sozialausgaben beeinflusst. Dies verdeutlicht die strukturelle Abhängigkeit Brasiliens und anderer Länder der Region in Bezug auf die die internationalen Marktpreise und zeigt eine Schwäche ihrer jeweiligen nationalen Industrien auf. Es scheint fast so, als habe die brasilianische Industrie unter Lula ihr wirtschaftliches Gewicht im Land nicht erhöht?

In diesen 13 Jahren gab es in fachlicher Hinsicht keine Die-Industrialisierung, so wie dies in anderen Ländern im Rahmen des Neoliberalismus geschehen konnte. Ihr relatives Gewicht hat jedoch aufgrund der stärkeren Investitionen in den landwirtschaftlichen Sektor deutlich abgenommen. Es ist offensichtlich, dass die PT es nicht geschafft hat, die Tendenz der erneuten "Primarisierung" der Wirtschaft zurückzudrehen und man muss es heute als Fehler anerkennen, nicht mit Kraft in den industriellen Sektor investiert zu haben. Die Krise von 2011 / 2012 zeigte uns die Grenzen des Modells auf. Auf der anderen Seite wurde versucht, den Privatsektor zu Investitionen in die brasilianische Industrie anzuregen, aber sie waren nicht verfügbar. Tatsächlich muss daran erinnert werden, dass alle historischen Wachstumszyklen in Brasilien in erster Linie durch öffentliche Investitionen angeschoben wurden (in den 30er Jahre und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts).

Eine andere der allgemein verbreiteten Ansichten ist, dass während des hohen Rohstoffpreis-Zyklus alle sozialen Schichten in Brasilien gewonnen haben: die unteren Klassen durch den Anstieg der Sozialausgaben, die dominierenden Klassen, weil sie ebenfalls von der Regierungsunterstützung profitierten. Dies zeigt, dass den Interessen der Elite nicht geschadet wurde und dass eine Steuerreform, nach der diese Schichten mehr zahlen müssten, unvermeidlich bleibt. Gibt es den politischen Willen der Regierung zu einer tiefgreifenden Steuerreform?

Es gibt derzeit einen Vorschlag der Partei und der Regierung selbst für eine Erhöhung der Steuer auf die großen Vermögen. Die Schwierigkeit ist, dass wir dies nicht gemacht haben, als die Zustimmung hoch war. Jetzt sind die Bedingungen für deren Umsetzung aufgrund der derzeitigen Schwächesituation deutlich komplizierter. Die Wechselbeziehung der Kräfte ist ungünstig und wir müssen ein neues Szenario schaffen, das es uns erlaubt, das demokratisch-populäre Programm der Linken zu retten. Bezüglich der richtigen Strategie glauben einige, dass der Wandel radikal durchgeführt werden muss, während andere glauben, dass für die Wiederaufnahme der Initiative ein drastischer Schwenk nötig wäre.

Einige Analysten sprechen vom Ende des Zyklus progressiver Regierungen in Lateinamerika: Wahlsieg der Rechten in Argentinien, die schwierigen Zeiten, die die Regierungen in Brasilien und Venezuela durchleben ... Stimmst Du dieser Fragestellung zu?

Es gibt viele Interpretationen der Aktualität. Nach Meinung der Rechten ist das Ende des Zyklus erreicht, denn das Projekt der Veränderung ist gescheitert. Daher müsse man die Wirtschaft öffnen, neue Freihandelsvereinbarungen anstrengen etc. Dies ist offensichtlich aber auch keine Lösung, selbst wenn man anerkennen muss, dass wir uns in einer Sackgasse befinden.

Ich glaube, dass wir an die Grenze des Fortschrittes unserer Prozesse gelangt sind und wenn wir weiterhin regieren möchten, müssen wir uns neu erfinden. Das bedeutet, dass ein anderes Modell entworfen werden muss und dies wiederum bedeutet, anzuerkennen, dass strukturelle Veränderungen anzustoßen sind. Dies zwingt uns dazu, den wirtschaftlichen Mächten noch deutlicher die Stirn zu bieten.

Nichtsdestotrotz glaube ich, dass ein derartiges Vorhaben nicht aus dem rein nationalen Rahmen heraus durchführbar ist. Der politische Wille einer Regierung allein reicht nicht aus, um ein regionales Projekt voranzubringen und daher kann die lateinamerikanische Integration der Weg sein, um ein derartiges Projekt zu stemmen.

Vor dem Hintergrund dieses Krisenszenarios von Regierung und PT tritt die Person Lula bei den Planungen erneut auf. Wird er der neue Kandidat für die nächsten Wahlen in 2018 sein?

Bis zu den Wahlen ist es noch weit und in drei Jahren können viele Dinge passieren. Allerdings steht ohne Zweifel, dass Lula weiterhin eine Schlüsselfigur ist und dass er erneut ein guter Kandidat wäre. Tatsächlich ist der Rechten sehr bewusst, dass er ein sehr starker Kandidat wäre. Daher haben sie bereits eine Medienkampagne in Gang gesetzt, um gegen ihn vorzugehen und ihn zu entwürdigen. Dabei bringen sie ihn mit Korruptionsnetzwerken in Verbindung und attackieren sogar Familienangehörige. Die rechten Medien bedienen sich dessen: So hat beispielsweise die Zeitschrift Veja ein Bild Lulas in Sträflingskleidung verbreitet, ohne dass eine rechtliche Anklage gegen den Ex-Präsidenten vorläge. Dies verdeutlicht die Rolle einiger Massenmedien im Land.


Iole Iliada ist stellvertretende Präsidentin der Stiftung "Perseu Abramo“ der PZ und Doktorin der Geographie an der Universität Sao Paulo