Stimmen zum venezolanischen Wirtschaftskrieg

Angehörige von Basiswegungen in Venezuela sprechen über die Gründe des Wirtschaftskrieges, ihre Strategien, mit denen sie der Situation begegnen, und die Lösungen, die sie vorschlagen

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Eine Frau auf der Plaza Bolivar zeigt ihr Exemplar der Verfassung und betont ihre Unterstützung für Präsident Maduro
Eine Frau auf der Plaza Bolivar zeigt ihr Exemplar der Verfassung und betont ihre Unterstützung für Präsident Maduro

In Venezuela ist der Wirtschaftskrieg in vollem Gange. Wie gewohnt, werden in den großen internationalen Medien die Gründe dafür und weitaus komplexere, nuanciertere Meinungen derjenigen, die täglich mit den Problemen konfrontiert sind, nur ungenau oder verfälscht dargestellt. Der US-amerikanische Fernsehsender CNBC verkündete kürzlich, basierend auf einer Studie des rechten US-Thinktanks Cato Institute: "Venezuela führt (wieder) die Liste der elendsten Länder an." Fotos von Menschen, die in Schlangen vor Supermärkten anstehen, um dort Toilettenpapier und Speiseöl zu kaufen, werden in alle Welt übertragen, und von Weitem sieht es nach einer verzweifelten und aussichtslosen Situation aus.

Der Mangel und die Schlangen vor den Geschäften bedeuten heftige Unannehmlichkeiten und unbestreitbar Belastungen für die meisten Venezolaner. Neben den negativen Prognosen eines volkswirtschaftlichen Kollapses gehen die über Frustration hinausgehenden Stimmen der Basis jedoch unter. Im Angesicht einer komplizierten Situation zeigten die Venezolaner, die ich in der vergangenen Woche interviewt habe, eine unglaubliche Widerstandsfähigkeit, sie verfügten über komplexe Analysen und ein enormes Maß an Geduld. In dieser "Oral history"-Kollage sprechen Mitglieder der Basis- und Volksbewegungen für sich selbst über die Gründe des Wirtschaftskrieges, ihre Strategien, mit denen sie der Situation begegnen, und die Lösungen, die sie vorschlagen.

Die folgenden Interviews wurden am 21. Januar bei einer Kundgebung auf der Plaza Bolívar in Caracas, in Erwartung des jährlichen Berichts des Präsidenten gegenüber dem Parlament geführt. Alle Interviewten waren anwesend, um Präsident Maduro zu unterstützen, sie alle kommen aus den besitzlosen Volksklassen. Ich habe die Erzählenden zur derzeitigen ökonomischen Situation befragt, wen sie als verantwortlich sehen, was sie denken, wie Lösungen zur wirtschaftlichen Krise aussehen könnten. Die Interviews wurden bearbeitet, ausgewählt und von mir übersetzt.

Maribel Lenda aus Caracas:

Nahrungsmittel sind ein wenig knapp, das ist wahr. Wir können aber nicht alle sagen, dass es die Schuld der Regierung sei, denn wir wissen, dass es einen medialen Krieg gegen unseren Präsidenten Nicolas Maduro gibt. Es ist für uns klar, dass das ein Krieg ist. Viele Leute sagen, dass die Situation des Landes schlecht ist. Aber das sind Personen, die nicht verstanden haben, dass die Opposition diese Probleme seit zwei Jahren verbreitet, damit die Leute darauf reagieren und die Revolution nicht weitergeht.

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass die Situation, die wir gerade erleben, nur kurz andauern sollte. Fakt ist, es gibt kein Toilettenpapier, kein Mehl, weder Kaffee noch Milch ... alles, worüber wir Hausfrauen uns und worüber sich alle beschweren, das sollte wirklich nur für kurze Zeit sein, denn Maduro tut alles, was er kann, auf dem internationalen Niveau. Auf seinen Reisen [nach China, den Nahen Osten, usw.], da ist er nicht als Bettler aufgetreten, denn Venezuela ist reich, reich in Ressourcen wie Eisen, Öl, Gold, und wir können damit anderen Ländern hilfreich sein.

David Mendez, arbeitsloser Absolvent der Bolivarischen Universität in Caracas:

In dieser ökonomischen Situation wäre es gut, wenn es mehr Möglichkeiten für Junge gäbe – mehr Chancengleichheit. Ich will, dass Maduro etwas unternimmt, die Arbeitslosigkeit, die wirtschaftliche Situation, die Knappheit, die Sabotage von der Rechten, die immer noch einen starken Rückhalt in der Regierung besitzt. Ich will, dass er etwas tut für das Land und die Venezolaner. Die Situation ist wirklich schwierig, und wir wollen nicht, dass das Land im Abgrund endet.

Maria Luna, Porvenir aus La Pastora, Caracas:

Wir sollten uns nicht überwältigen lassen von der Angst und Verzweiflung über die Knappheit an Waren. Wenn ich losgehe und heute zwei Pakete Mais kaufe, und zwei morgen, dann nehme ich das anderen weg, die es sonst haben könnten, und die haben es vielleicht nötiger als ich.

In meiner Comunidad gibt es den Tauschhandel, es gibt Frauen in meiner Nachbarschaft, die haben Kaffee, und die werden den mit mir für Milch oder Zucker tauschen, oder was man eben gerade hat.

Die Schlangen und die Korruption werden ein Ende haben. Ich vertraue darauf, dass die Sache mit den Nahrungsmitteln ein Ende haben wird. Sie [die Medien/die Opposition] behandeln uns wie Idioten, indem sie sagen, dass es die Schuld der Regierung sei, aber wir sind uns sicher in unserer Unterstützung des Präsidenten. Das ist eine Frage des Bewusstseins. Wenn wir Teil der Revolution sind, dann müssen wir sagen: “Die Revolution ist nicht Toilettenpapier, sie ist kein Mehl.” Klar, wenn wir nicht essen, können wir uns nicht am Leben erhalten. Aber wir müssen ruhig bleiben, und uns muss klar sein, dass sie uns in Richtung eines Bürgerkriegs zwischen den Venezolanern führen, und das ist es, was wir vermeiden müssen. Aus diesem Grund brauchen wir Ruhe, müssen uns der Situation bewusst sein und Geduld haben. Die Leute Bolívars kämpfen, um das Projekt voranzubringen, das uns unser Comandante Chávez gegeben hat ... glaub nicht den Gerüchten.

Marcelo De la Rosa, kolumbianischer Staatsangehöriger, der seit 37 Jahren in Venezuela lebt, aus La Pastora, Caracas:

Die wirtschaftliche Situation des Landes ist heikel in diesem Moment, denn wir befinden uns mitten in einem Wirtschaftskrieg, geschaffen durch das Imperium, um Spannungen zwischen den Leuten aufzubauen und unsere Regierung zu Fall zu bringen, denn andere Strategien, um das zu erreichen, haben nicht funktioniert. Das hat Einfluss auf uns alle. Nicht nur auf die Opposition, sondern auch auf die Revolutionäre. Vielleicht auf die Revolutionäre stärker, denn wir sind ärmer. Die Opposition hat Geld, und das haben sie außerhalb des Landes in Dollar. Sie machen, was sie können, um den Bolívar abzuwerten, denn je mehr der Bolívar abgewertet ist, um so mehr sind sie Millionäre.

Das ist eine Verschwörung, nicht nur durch die USA, sondern auch durch Kolumbien, Europa, usw. ... Hier gibt es Mangel und Schlangen, aber die Leute haben Geld zum Kaufen. In Kolumbien wirst du sehen, dass sie nicht Schlange stehen, und sie haben dort alles [Waren in den Geschäften], aber die Leute haben kein Geld, um zu kaufen. Dort werden die Leute ein bisschen Reis kaufen, eine Tomate, hier kaufen die Leute überall Lebensmittel und haben Geld, um es auszugeben, wenn den Leuten das nicht auffällt, sie das nicht sehen, dann haben sie wirklich nichts verstanden.

Man kann nicht leugnen, dass es verschiedene Verantwortliche für die Krise gibt. Da gibt es korrupte Politiker, die den Ausverkauf betreiben, oder Revolutionäre, die eine Million Dollar erhalten und dann die Revolution vergessen. Es gibt Mitglieder im Militär und der Nationalgarde, die waren schon immer korrupt, und das hat sich nicht geändert.

Carbin Mero aus San Juan:

Die politische Situation, die wir gerade bezüglich des Wirtschaftskrieges erleben, ist, dass wir seit fünf Monaten mit einer kapitalistischen Strategie vergangener Regime konfrontiert werden. Der Wirtschaftskrieg ist eine Strategie, durch die Regierungen gestürzt werden, das geschieht durch sehr kontrollierte Methoden der kapitalistischen Klasse und des Imperiums, das haben sie schon früher gemacht.

Wenn du hörst, was sie in den Medien sagen, dann wird dieser Wirtschaftskrieg nicht enden, ehe die Regierung nicht aufhört, sich mit dem privaten Sektor anzulegen. Die Regierung ist zu unterwürfig gegenüber der parasitären Bourgeoisie und der besitzenden Klasse. Was die Eliten versuchen, ist die Durchsetzung neoliberaler Reformen, das ist es, was sie wirklich wollen.

Es gibt Hoffnung hier in den Straßen. Wir müssen zeigen, dass es wichtig ist zu mobilisieren. Wir müssen außerdem unsere Mitverantwortung in dieser Situation zeigen, wie wir uns verhalten, wenn wir Dinge kaufen. Es gibt da einen sich entwickelnden Diskurs und Analysen über die Situation, über die Umstände, die von denen geschaffen wurden, die die Wirtschaft Venezuelas dominieren. Wir leben in einem Tauschmarkt, der ist aus der Notwendigkeit heraus geboren ... ("Du hast das, und ich hab das, lass uns tauschen ..."). Das ist etwas, das wir zukünftig weiter ausbauen können, aber dann bequemer und besser geplant.

[Die Lösung ist ...] Beteiligung, Mobilisierungen, die Mitverantwortung, die wir haben. [Wir müssen] als soziale Klasse agieren und nicht die Rechte derjenigen verteidigen, die uns unterdrückt haben, die uns immer noch unterdrücken und die eine Regierung wollen, die uns auch weiterhin ökonomisch durch neoliberale Reformen unterdrücken würde.

Barbara Duran aus Valle de Tuy, Staat Miranda, 16 Jahre alt:

Es gibt einen Wirtschaftskrieg, ja ... aber wir müssen den kontrollieren. Das ist nicht nur das Problem des Präsidenten, wir dürfen nicht in diese Falle der Imperialisten und der Opposition treten. Es gibt Mangel, Schlangen, Leute, die horten, Schmuggel, Wiederverkauf, aber das ist nicht einfach die Schuld des Präsidenten, alle Venezolaner müssen dafür Verantwortung übernehmen: als Venezolaner, als Revolutionäre.

Angel Rorones aus La Vega, Caracas:

Man nennt das einen Wirtschaftskrieg, und ich denke, das ist korrekt. Importeure horten Waren, Firmen, die produzieren, verteilen ihre Produkte nicht gleichmäßig oder rechtzeitig, und das ist es, was die Schlangen erzeugt, denn die finden sich im ganzen Land, nicht nur in Caracas. Du gehst zum Supermarkt, und draußen stehen die Leute an, obwohl sie noch nicht mal wissen, was es heute geben wird. Sie sind des Schlangestehens müde, aber sie sind nicht der Revolution müde. Wir werden die Revolution verteidigen, im notwendigen Moment, wenn wir es müssen. Ganz gleich, auf welchem Gebiet.

Ja, wir sind alle genervt von den Schlangen. Das bringt Unannehmlichkeiten. Ich bin genervt und ich bin revolutionärer Chavist. Wir sind verärgert, aber das ist nicht die Schuld der Regierung. Als arme und arbeitende Leute - wir sind nicht die Bourgeois - wollen wir in den subventionierten Läden, die von der Regierung betrieben werden, einkaufen. Das bedeutet, dass wir anstehen müssen, um die deutlich preiswerteren Produkte zu kaufen.

Es ist auch Schuld der Regierung durch einen Mangel an Kontrolle derer, die zu Wucherpreisen verkaufen. Aber jetzt denke ich, dass das auch zu viel ist [die Durchsetzung der Kontrollen]. Die kommen in einen Laden, um die Preise zu kontrollieren, am nächsten Tag sind sie wieder weg, und das Unternehmen erhöht die Preise wieder. Aber die Leute kaufen trotzdem.

Eva Haranino aus Propatria, Caracas:

Das ist die Opposition, die dieses Problem erzeugt, dieses Desaster. Wir kommen klar, wir halten durch, das ist, was wir machen. Aber wenn sie an die Macht kämen, dann wären wir schlimmer dran, denn was sie wollen, ist, alles Geld Venezuelas und das Öl aus dem Land zu bringen.

Die Lösung? Wissen, wie man wartet.

Schlussfolgerungen:

Ja, die Venezolaner warten, nicht nur in Schlangen, sondern üben sich in einer anderen Form des Wartens: Sie besitzen eine Geduld, die in der Überzeugung ruht, dass der Versuch der Opposition, die Bolivarische Revolution zu unterwandern, scheitern wird, sofern sie nicht in Hysterie verfallen und sie Strategien finden, um heil durch den Sturm zu kommen.

Während die internationale Wirtschaftspresse über die Bewegung weg von der Monetarisierung schreibt, als handele es sich um Vorzeichen der Apokalypse, haben die Venezolaner, mit denen ich gesprochen habe, beschrieben, wie eine Tauschökonomie aufgekommen ist, die den Menschen hilft, ihre Bedürfnisse außerhalb des formalen Marktes zu decken. Auch wenn sie die Umstände dazu gebracht haben, solche Lösungen zu entwickeln, ein positiver Aspekt ist, dass die Leute ernsthaft über den Kapitalismus und die Notwendigkeit, die Abhängigkeit von Importen zu verringern, sprechen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Unterscheidung zwischen Knappheit an Waren und Hunger. Ich habe mehrfach Venezolaner sagen hören, dass weder sie noch ihre Nachbarn Hunger leiden, und das viele von ihnen über Geld zum Ausgeben verfügen (ganz zu schweigen von ihren privaten Vorräten an Waren). Der Wirtschaftskrieg basiert darauf, eine psychologische Erfahrung des Mangels zu generieren, welche von der internationalen Presse und der Opposition weiterhin angetrieben wird. Dieses gibt vielen Venezolanern das Gefühl, sich in einem sinkenden Schiff zu befinden. Daher kaufen sie mehr, was wiederum längere Schlangen bedeutet.

Mitglieder sozialer Bewegungen betonten wiederholt die Wichtigkeit der Bewusstseinsbildung, nicht nur in der Hinsicht, die Gründe für die Krise zu analysieren (“Wem nützt die Krise?” - so zu lesen auf einem Schild auf der Demo auf der Plaza Bolívar), sondern auch dahingehend, was angemessenes eigenes und kollektives Handeln im Angesicht der Angriffe bedeutet. Unter denen, die dort zusammenkamen, um ihre Unterstützung für die Regierung und ihren Widerstand gegen den Wirtschaftskrieg zu demonstrieren, gab es einen klaren Konsens, dass der Mangel an Gütern des täglichen Bedarfs ein Teil einer gut durchdachten Strategie der Opposition und imperialer Interessen des globalen Kapitals ist.

Weiterhin gaben die meisten Interviewten der Regierung eine Teilverantwortung – entweder durch Saboteure innerhalb der Regierung, korrupte Politiker und Militärs, die vom Schmuggel profitierten oder daran aktiv teilhätten, sowie durch das Versagen des Staates, Preiskontrollen durchzusetzen. Einige äußerten sich außerdem kritisch, dass eine konkrete Politik des Staates ausbliebe.

Außerhalb der Interviews teilten mir einige Aktivisten mit, dass es Gruppen von chavistischen Aktivisten gäbe, die die langen Schlangen beobachteten und dafür sorgen würden, dass die Dinge ruhig blieben. Basierend auf offiziellen Regierungsinformationen und einem eigenen Gespür, sehen viele Chavistas die Konzentrationen an Wartenden als mögliche Ziele gewalttätiger Provokationen der rechten Opposition und sind daher im Alarmzustand, um Gewalt und weitere Instabilität zu vermeiden.

Die Personen, die ich interviewt habe, rieten dazu, ruhig zu bleiben, nicht in die von den Medien transportierte Hysterie zu verfallen, nicht mehr zu kaufen, als man braucht, und bestenfalls die Möglichkeit zu nutzen, vom globalen Kapitalismus unabhängige Alternativen der Produktion und Distribution aufzubauen. Einige lernen selber, Seife herzustellen, andere produzieren selbst gemachte Haushaltsreiniger aus Backpulver und Essig. Diese Anpassungsstrategien entstehen aus einer realen und frustrierenden Not heraus, aber viele Venezolaner erkennen die Notwendigkeit, eine alternative Ökonomie aufzubauen, und versuchen daher, diese Krise als eine Möglichkeit zu nutzen, diese zu schaffen.

Ich war stark beeindruckt, wie viele Menschen betonten, wie wichtig es sei, ruhig zu bleiben. Trotz ernsthafter Schwierigkeiten traten die chavistischen Revolutionäre aus den populären Sektoren weitestgehend dafür ein, auszuharren, kreative Lösungen für die täglichen Unannehmlichkeiten zu finden, Bewusstseinsbildung zu betreiben, gewaltlos zu bleiben und sich in Geduld zu üben.