International

Garzón, die Gerechtigkeit und die Erinnerung

Kolumne von Ignacio Ramonet

Dem verlassenen Toten
Errichte ein Grabmal.

Sophokles, Antigone

"Verrückt" sei es, "seltsam" und "unerhört". Die Weltpresse, Menschenrechtsorganisationen und die herausragendsten internationalen Juristen kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Warum will die spanische Justiz, die in den letzten Jahren soviel getan hat, um Verbrechen gegen die Menschheit in vielen Teilen der Welt zu verfolgen, ausgerechnet Baltasar Garzón auf der Anklagebank sehen - den Richter, der als ein Symbol für weltweit geltende Gerechtigkeit steht.

Die internationalen Medien erinnern an die Verdienste des "Superrichters": seine herausragende Rolle bei der Festnahme des chilenischen Diktators Augusto Pinochet 1998 in London, seine Anklagen gegen die von den Militärs in Argentinien, Guatemala und anderen lateinamerikanischen Diktaturen begangenen Verbrechen, seine Bemühungen, die GAL (Antiterroreinheiten in Spanien, d. Red.) zu demontieren und den ehemaligen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez in dieser Sache vor Gericht zu bringen, sein Widerstand gegen die Invasion in den Irak im Jahr 2003 und vor kurzem seine Reise nach Honduras, um die Putschisten darauf hinzuweisen, dass Verbrechen gegen die Menschheit nicht verjähren.

Als Richter im Obersten Gerichtshof hat Baltasar Garzón auch einige Tausend Aktivisten der baskischen Separatistenorganisation ETA angeklagt Die spanische Rechte hat daraufhin vorgeschlagen, ihn für den Friedensnobelpreis zu nominieren. Es gab auch Kritik, besonders bei seiner Entscheidung, 1998 die Schließung der baskischen Tageszeitung "Egin" zu verfügen. Oder bei seiner Anordnung, des Terrorismus angeklagte Personen in Isolationshaft zu nehmen. Organisationen wie das "Komitee zur Abschaffung der Folter" im Europarat haben immerhin die Abschaffung dieser Art von Haft verlangt. Auch das Faible des "Starrichters" für medienwirksame Auftritte wurde immer wieder kritisiert gesehen.

Auf jeden Fall aber hat Garzón bewiesen, dass er ein unabhängiger Richter ist, der nicht korrumpierbar ist und der gerne Unruhe stiftet. Deshalb hat er so viele Gegner und deshalb wird er von den korrupten Anhängern des sogenannten Gürtel-Netzwerks (eines Korruptionsnetzwerks konservativer Politiker, die tatsächlich den deutschen Namen "Gürtel" benutzen, d. Red.) und den alten Francoanhängern verfolgt. In der Tat sind vor dem Obersten Gerichtshof drei Strafanzeigen gegen ihn anhängig. Bei einer geht es um Honorare, die er für einige Konferenzen unter der Schirmherrschaft der Santander-Bank in New York erhalten haben soll. Eine weitere wegen einer Telefonabhörung, die er im Rahmen der Untersuchungen gegen das Netzwerk "Gürtel" angeordnet hat. Und die wichtigste: wegen seiner Untersuchungen gegen die Verbrechen des Francoregimes.

Zwei ultrarechte Organisationen klagen ihn wegen "Amtsmissbrauchs" an, weil er im Oktober 2008 eine Untersuchung über die mehr als Hunderttausend verschwundenen Republikaner während des spanischen Bürgerkrieges angeordnet hat. Die Leichen dieser Verschwundenen sind verscharrt in Straßengräben und anonymen Gräbern, ohne das Recht auf eine würdige Bestattung. Auch hat er eine Untersuchung angeordnet, die das Schicksal der 30.000 Kinder klären soll, die ihren Müttern in den Gefängnissen entrissen worden sind, um sie an Familien der Siegerseite während der Franco-Diktatur (1939-1975) zu übergeben.

Wenn Garzón für schuldig befunden wird, erwartet ihn eine Amtsenthebung von zehn bis zwanzig Jahren. Es wäre eine Schande. Denn es geht im Grunde um eine zentrale Frage: Wie gehen wir symbolisch mit dem Bürgerkrieg um? Die 1977 getroffene administrative Entscheidung für ein Amnestiegesetz (mit dem damals vor allem versucht werden sollte, Hunderte Linker aus dem Gefängnis freizubekommen) bedeutete auch, sich keinerlei Politik der Erinnerung zu stellen und dem Geschehenen keine Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

71 Jahre nach Ende des Bürgerkrieges sind die Hauptverantwortlichen aus biologischen Gründen nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. Gerechtigkeit wieder herstellen kann nicht mehr bedeuten, die dieser abscheulichen Verbrechen Beschuldigten vor Gericht zu stellen. Aber das ist auch nicht nur eine juristische Angelegenheit. Wenn es Millionen von Spaniern so leidenschaftlich bewegt, dann deshalb, weil jenseits des Falls Garzón das Recht der Opfer auf eine moralische Entschädigung und das kollektive Recht auf Erinnerung auf dem Spiel steht. Und weil es bedeutet, auf Grund der bewiesenen Gräueltaten offiziell festzustellen, dass der Francismus ein abscheuliches Verbrechen war und dass Straflosigkeit hier unerträglich ist. Wir müssen dies alles darlegen und zeigen können. In Museen, die dem Bürgerkrieg gewidmet sind, in Geschichtsbüchern, in den Schulen, an Gedenktagen der kollektiven Erinnerung. So wie es in ganz Europa in Solidarität mit den Opfern des Nationalsozialismus geschieht.

Die Parteigänger einer "Kultur des Versteckens" beschuldigen Garzón, die Büchse der Pandora öffnen zu wollen und die Spanier erneut damit zu konfrontieren. Sie wollen betonen, dass auf der anderen Seite auch Verbrechen begangen wurden. Sie haben die Besonderheit des Francismus immer noch nicht begriffen und verhalten sich wie ein Journalist, der eine "ausgewogene Debatte" über den zweiten Weltkrieg mit einer Gedenkminute für Hitler und einer für die ermordeten Juden eröffnen will.

Der Francismus bedeutete nicht nur ein Krieg, in dem General Queipo de Llano gesagt hat: "Wir müssen Terror säen und ohne zu zögern all diejenigen eliminieren, die nicht so denken wie wir." Der Francismus war vor allem von 1939 bis 1975 eines der unerbittlichsten autoritären Regime des 20. Jahrhunderts, das ganz gezielt und systematisch Terror eingesetzt hat, um ideologische Gegner auszuschalten und die gesamte Bevölkerung einzuschüchtern. Dies festzustellen ist keine politische Überlegung, sondern eine historische Tatsache.

Das Amnestiegesetz hat dazu geführt, dass über die "Banalität des Bösen" des Francismus das Schicksal eines offiziellen Gedächtnisverlustes fiel, eine Form der Ausblendung, ein blinder Fleck, der es erlaubt, unangenehme Tatsachen aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden zu lassen. Bis sie eines Tages wieder hervor sprudeln, explosionsartig und irrational.

Genau das wollte Richter Garzón verhindern. Die bösartige Natur des Francismus entlarven, damit sich die Geschichte nicht wiederholen kann. Nie wieder.