Die aktuelle Entwicklung in Lateinamerika

Analytisches Thesenpapier von Harri Grünberg (DIE LINKE), referiert im August 2007 bei der Sommerakademie der "Sozialistischen Linken" in Bielefeld

1

Überall in Lateinamerika erleben wir breite Bewegungen, die gegen die Folgen des Neoliberalismus kämpfen. In vielen Ländern haben diese Entwicklung zum Sieg der Linken oder fortschrittlichen, sich in der Gegnerschaft zum Neoliberalismus befindender Kräfte bei Parlaments oder Präsidentenwahlen geführt. Unabhängig davon, ob sie programmatisch weitergehend eine sozialistische Orientierung anstreben oder nur mehr Unabhängigkeit und Souveränität ihrer Länder gegenüber den Metropolen einfordern, ist ihnen gemeinsam, für eine Politik einzutreten: die zu sozialen Notstandsmaßnahmen und einer wirksamen Sozialpolitik zu Gunsten der Marginalisierten und sozial Benachteiligten führt. Wie im Falle Venezuelas zielen die verschiedenen, von der Regierung initiierten Kampagnen zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Ärmsten. Neben einer Überlebenshilfe werden Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung und Programme zur Verbesserung der Bildung und Gesundheitslage in Gang gesetzt.

Mitte der siebziger Jahre erschöpfte sich das auf Importsubstitution ausgerichtete Modell nachholender kapitalistischer Entwicklung in Lateinamerika. Die Ökonomien Lateinamerikas gerieten in eine Verschuldungsfalle. Durch Druck von Außen wurde auf dem Kontinent allmählich das chilenische Modell neoliberaler Entwicklung umgesetzt. Die Folgen dieser Politik waren für den gesamten Kontinent mit Ausnahme Chiles die dramatische Verschärfung der eh schon ausgeprägten sozialen Missstände. Die durch den Washingtoner Konsens der Eliten vorangetriebene Politik nach mehr Markt, Privatisierungen und Zurückdrängung des Staates von den Aufgaben der Daseinvorsorge führte zu Deindustrialisierung von Ländern, die bereits ein hohes Maß an Industrialisierung erzielt hatten, wie Argentinien, Uruguay und Mexiko. Die lateinamerikanischen Länder wurden dem Diktat internationaler Finanzorganisationen und den Willen der transnationalen Konzerne unterworfen. Innergesellschaftlich wirkte sich dies desintegrierend aus.

Anfänglich schien dieses Modell hegemonial zu werden. Allmählich setzte die Enttäuschung, bei den armen Schichten beginnend und später auch auf Teile der verarmenden Mittelschichten übergreifend, ein. Seit Mitte der 90er Jahre entfalten sich breite soziale Protestbewegungen, die an Stärke zunehmen und zum Aufschwung linker Bewegungen beitragen, weil sie den Neoliberalismus delegitimieren. In jenen Ländern Lateinamerikas, wo Massenbewegungen eine Abkehr von neoliberaler Politik erzwangen, ist die Suche nach Alternativen der die Entwicklung kennzeichnende Grundtenor.

2

Was wir gegenwärtig in Lateinamerika erleben, ist ein komplexer und widersprüchlicher Prozess revolutionärer Transformationen des Kontinents. Kern dieser Transformation ist, nach den Willen der meisten Akteure, nicht die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft sondern auf ökonomischen Gebiet die Entfaltung der Produktivkräfte in einem gezügelten regulierten Kapitalismus, mit sozialstaatlicher Verpflichtung. Dafür ist ein starker Staat notwendig. Für den aktuellen Stand der Entwicklung in Lateinamerika ist auch kennzeichnend, dass die meisten lateinamerikanischen Linksregierungen keinen Bruch mit der Logik kapitalistischer Akkumulation anstreben. Das trifft auch auf Venezuela zu. Ihr Hauptziel ist die Entfachung einer ökonomischen Dynamik, die zu einer Industrialisierung ihrer Gesellschaften zum Wohle der Bevölkerung führt. Die im Forum von Sao Paulo organisierten linken Parteien und Organisationen aus Lateinamerika sehen ihre Aufgabe gegenwärtig darin, Initiativen zu ergreifen für den Aufbau einer neuen Gesellschaft, die demokratisch und sozial ausgerichtet sein soll. Gleichwohl werden die Bemühungen, einen "Sozialismus des 21 Jahrhunderts" zu errichten, positiv aufgenommen.

3

Gleichwohl gilt hier die Dynamik des gegenwärtigen Prozesses zu verstehen, die zuerst in der "permanenten Revolution" aufgedeckte Gesetzmäßigkeit der ungleichen und kombinierten Entwicklung. Sie stellt fest, dass die nachholende Entwicklung als Vollendung der bürgerlichen Revolution Hand in Hand mit der sozialistischen Perspektive einhergehen muss. Der Emanzipationsprozess beginnt nicht mit einer sozialistischen Transformation, aber das Ziel nach einem selbstbestimmten Weg der Entwicklung kann aber nur im Rahmen eines erfolgreichen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" vollendet werden, dessen Kern letztendlich die Überwindung kapitalistischer Verhältnisse der Reproduktion ist. Oft zwingt der Druck mobilisierter Akteure aus sozialen Bewegungen linke Regierungen dazu, Maßnahmen zu ergreifen, die in einer Vertiefung der Umgestaltung münden - oder allmählich in Konflikt mit den sie tragenden sozialen Akteuren gerät. Das Beispiel Brasilien zeigt, wie sehr die Regierung Lula unter Druck der breiten Bewegung der Landlosen steht, die von seiner Regierung die Umsetzung der Versprechen nach einer umfassenden Landreform einfordern.

4

Getragen werden die Linksregierungen Lateinamerikas von einem neuen gesellschaftlichen Hegemonialblock, von der breiten Ablehnungsfront des aufgezwungenen neoliberalen Modells. Verschiedene Kräfte und Akteure sind dabei einbezogen. Dazu gehören neben Politikern und Parteien der Linken sowie Gewerkschaften und den diversen sozialen Bewegungen auch unabhängige Intellektuelle, lokale Unternehmer sowie kirchliche Vertreter. Auch Teile der "nationalen Bourgeoisie", die nicht mit dem transnationalen Kapital verschmolzen sind (wichtige Teile des brasilianischen Kapitals), teilen mit der Linken die Ablehnung von ALCA und befürworten statt dieser eine Vertiefung der lateinamerikanischen Integration. Sie stimmen mit dem Projekt der Linken zum Wiederaufbau eines produktiven Sektors überein. Sichtbarer Träger dieses Sektors stellt Präsident Kirchner in Argentinien dar.

5

Das bolivarianische Venezuela stellt mit der "Radikalität" der Politik von Präsident Hugo Chávez die Vorhut dieses Prozesses der Transformation dar, der im "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" münden soll. Die venezolanische Entwicklung strahlt auf die Massenbewegungen auf dem gesamten Kontinent aus. Sie beeinflusst in besonderem Maße die Entwicklung in Bolivien und Ekuador. Dennoch ist Venezuela Produkt eines Sonderprozesses, der aus der spezifischen Form kapitalistischer Entwicklung des Landes entspringt. Diese Besonderheiten der venezolanischen Entwicklung, die schon seit der Industrialisierung in Venezuela einen ökonomisch starken Staat hervorbrachte, ermöglicht den Transformationsprozess in Venezuela ohne tiefe Einschnitte in die privat kapitalistische Verwertung. 70 Prozent der venezolanischen Ökonomie befinden sich in staatlicher Hand.

Es wäre falsch zu behaupten, dass Chávez politisches Konzept eine Kopie des entwicklungspolitischen Diskurses der Linken der 60er Jahre wäre. Es knüpft aber mit Sicherheit daran an. Dabei versucht es allerdings, die autozentrierte Entwicklung, so wie es die Dependenztheoretiker empfohlen hatten, auf eine breitere lateinamerikanische Grundlage zu stellen und so der Kleinheit der einzelnen nationalen Märkte der lateinamerikanischen Länder zu entgehen und die gemeinsamen Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung zu mobilisieren.

Kern dieses Konzeptes ist der Aufbau eines gemeinsamen lateinamerikanischen Marktes, in dessen Zentrum Brasilien stehen soll. Dieser sollte womöglich strategische Allianzen mit Europa eingehen, um so der US-Dominanz ein Gegengewicht zu bieten. Auf nationaler Ebene hat Chávez mehrere Reformen eingeleitet, die in diese Richtung deuten:

  • Er hat in der Verfassung festschreiben lassen, dass die Erdölproduktion nicht privatisiert werden darf.
  • Auch die im November 2001 verabschiedeten Gesetze sind ein Novum in der Geschichte dieser Nation. Das Fischfang-Gesetz besagt, dass die industriellen Flotten erst sechs Meilen von der Küste entfernt ihre Netze auswerfen dürfen. Das schützt Kleinfischer und verhindert die Überfischung. Gleichzeitig wird die Bildung von Fischerei-Genossenschaften gefördert.
  • Das Erdöl-Gesetz sieht höhere Abgaben für die Erlöse aus der Ölförderung vor und schreibt bei Joint-Venture-Unternehmen eine staatliche Mehrheit vor. Mit den Mehreinnahmen sollen soziale Investitionsprogramme zur Armutsbekämpfung finanziert werden.
  • Ein neues Küstengesetz schreibt vor, dass alle Strände öffentlich sind. Private Gebäude müssen einen Abstand von achtzig Metern einhalten.
  • Im Bereich Bildung und Gesundheitsvorsorge hat die Regierung Chávez zusammen mit kubanischen Ärzten sehr viel für die ärmsten Bevölkerungsschichten geleistet. Zu den wichtigsten sozialen Reformvorhaben zählen der Plan Bolívar 2000, Programm Simoncito, Mision Robinson, Mision Ribas, Plan Sucre, Mision Barrio Adentro, Mision Mercal, Vuelvan Caracas (siehe Faktenblatt Soziales).
  • Bekämpft wird von der Oligarchie auch das "Ley de tierras", die Agrarreform. "Ein Angriff auf das Eigentum", schimpfte der gescheiterte Putschistenpräsident und frühere Chef des Unternehmerverbandes, Fedecámaras Pedro Carmona. Ziel dieser Agrarreform ist es, die Armut auf dem Land zu bekämpfen, die Landflucht zu stoppen und vor allem die Versorgung des Landes mit Lebensmitteln sicherzustellen.

Zur Zeit werden 60% aller in Venezuela konsumierten Nahrungsmittel importiert. Venezuelas Landwirtschaft findet im Hafen statt. Die Petrodollars machen den Import möglich. Die bolivarianische Revolution hingegen will die Petrodollars für den Aufbau einer eigenen Landwirtschaft verwenden. Dieses Projekt ist eine sinnvolle Aufgabe, zumal es verspricht, Armut und Arbeitslosigkeit zu verringern.

Das Ley de tierras sieht vor, dass brach liegender Boden landlosen BäuerInnen zur Verfügung gestellt wird, wenn sich die bisherigen Eigentümer weigern, ihre Flächen zu kultivieren. Und das sind große Flächen. Denn die Latifundistas bearbeiten in der Regel nur Bruchteile des ihnen gehörenden Landeigentums. Die bolivarianische Revolution strebt damit mehr soziale Gerechtigkeit im ländlichen Raum und zugleich eine höhere Agrarproduktion an.

Um das Scheitern der ersten, wenn auch nur marginalen Agrarreform der 1960er Jahre zu vermeiden, können die von der Landreform profitierenden LandarbeiterInnen das ihnen übergebene Land nicht veräußern, da sie keine Besitztitel erhalten. Damit sollen Verpfändung und Verkauf verhindert werden. In den 60er Jahren gab man nämlich den landlosen BäuerInnen ein Stück Land, aber keine Kredite und keine Geräte, um die Landwirtschaft betreiben zu können. Die Neueigentümer mussten sich verschulden, d.h. Kredite bei Banken aufnehmen. Meistens konnten sie aus der Produktion diese Kredite nicht bezahlen, und sie mussten schließlich das Land selbst verkaufen, das so wieder bei den Latifundisten landete. Das soll diesmal vermeiden werden. Kredite sollen künftig von zu errichtenden Genossenschaftsbanken zu günstigen Konditionen vergeben, die Rückzahlungsraten dabei an die Produktivität gekoppelt werden.

Auch eine Neuordnung des Bodeneigentums in den Städten ist vorgesehen. Illegal besetzte Grundstücke werden den jetzigen Nutzerinnen und Nutzern dauerhaft übertragen. Programme für den Wohnungsbau und die Vergabe von Kleinkrediten werden entworfen. Zur Arbeitsplatzbeschaffung hat die Regierung ein ehrgeiziges Programm der Bildung von Kooperativen ins Leben gerufen, die ebenfalls kostengünstige Kredite erhalten. In den Städten wird das Konzept der Arbeiterselbstverwaltung in jenen Betrieben gefördert, die von den Unternehmern aufgegeben und dann besetzt und von den Arbeiterinnen und Arbeiter weiterbetrieben werden.

Die neue Phase des "Sozialismus im 21. Jahrhunderts" muss als Prozess verstanden werden, der allmählich in die kapitalistische Produktionsweise eingreift, diese aufhebt und durch kollektive Formen der Produktion ersetzt. Auf keinem Fall beinhaltet dieses Konzept ein Festhalten an der bürgerlichen Ordnung. Insofern unterscheidet sich der venezolanische Prozess radikal von anderen Erfahrungen wie Argentinien, Uruguay und Brasilien.

6

Zugleich handelt es sich nicht um einen unumkehrbaren Prozess. Obwohl deutlich geschwächt, haben die USA ihr Bestreben nicht aufgegeben, den Kontinent zu beherrschen. Zusätzlich müssen die fortschrittlichen Kräfte in Lateinamerika mit zunehmender Feindschaft zentraler Regierungen in der EU rechnen. Insbesondere deutsche Medien heben sich in der Hetze gegen die fortschrittlichen Präsidenten Lateinamerikas hervor. Aber auch die internen Gegner des Transformationsprozesses formieren sich mit ausländischer Unterstützung. Zwar hat das neoliberale Modell viel an seiner Glaubwürdigkeit eingebüsst hat, auch in den Mittelschichten, in denen sich viele zu den Verlierern zählen. Es erfährt jedoch Zustimmung von Teilen der gutverdienenden modernen Mittelschichten, die zu den Gewinnern der neoliberalen Globalisierung zählen. Diese könnten zu den Trägern einer neuen Rechtsentwicklung in Lateinamerika werden.


Der Autor ist Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke (Außenpol. Sprecher der Fraktion DIE LINKE)