Ecuador

"Wir haben keine Angst vor dem Wort Sozialismus"

Der Regierungskonvent in Ecuador soll die Weichen für das Land neu stellen. Ein Gespräch mit Präsident Rafael Correa

Herr Präsident, wie sehen Sie und Ihre Regierungspartei Alianza País die Lage in Ecuador zu Beginn der verfassunggebenden Versammlung?

Wir befinden uns inmitten einer Revolution der Bürger, eines radikalen Wandels, der die politischen, sozialen sowie wirtschaftlichen Strukturen verändern wird. Die politischen Institutionen unseres Landes sind am Ende. Ein Kongress, dem nach Umfragen nur noch drei Prozent der Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer Glauben schenken, ist nicht mehr repräsentativ. Die dort vertretenen Gruppen nennen sich Parteien, doch es sind nichts als Feudalherrscher und Caudillos. Unser Land ist nicht mehr bereit, ihre Politik der letzten zehn, zwanzig Jahre wirtschaftlich zu tragen, die sie auf Weisung Washingtons durchgesetzt haben. Die Folgen dieser indirekten Fremdherrschaft waren für Ecuador und ganz Lateinamerika verheerend. In unserem Land hat diese Politik in den vergangenen Jahren zu zwei Millionen Emigranten geführt.

Erfahrungsgemäß haben die USA stets Probleme mit einem "radikalen Wandel" in der Region gehabt. Beunruhigt Sie das nicht?

Mir ist völlig gleich, wie die Regierung der USA, die Regierungen der Europäischen Union oder anderer Staaten den Wandel sehen. Gleichgültiger noch stehe ich der Haltung der transnationalen Konzerne gegenüber. Für mich hat allein die ecuadorianische Bevölkerung Bedeutung, die Regent und Besitzer des Landes ist. Aus dieser Überlegung heraus können wir es auch nicht akzeptieren, dass die kolumbianische Regierung die Herbizid-Besprühungen an der Grenze zu Ecuador fortführt, um Coca-Anpflanzungen zu zerstören, und damit unsere Bevölkerung vergiftet. Wir können es nicht akzeptieren, dass wir in den internen Konflikt herein gezogen werden, unter dem unsere Schwesternation Kolumbien leidet. Wir werden uns nicht einmischen. Aber wir können helfen, diesen Konflikt friedlich beizulegen. Deswegen haben wir den so genannten Kolumbienplan, die militärische Strategie von Bogotá und Washington, stets abgelehnt. Denn auch wir leiden unter den negativen Auswirkungen dieser Politik, etwa durch die Flüchtlingsströme, die wir aus Kolumbien aufnehmen müssen.

Lassen sie uns weiter über die verfassunggebende Versammlung sprechen. Worauf basiert die "Revolution der Bürger"?

In erster Linie auf dem Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Auch wenn viele Stimmen fordern, dass wir von einem "Humanismus" sprechen sollten, haben wir keine Angst vor dem Wort "Sozialismus". Unser politisches Projekt beruft sich auf den wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engels. Der Mensch darf nicht mehr wie ein weiteres Produktionsmittel behandelt werden, das den Interessen des Großkapitals unterstellt wird. Die Marktwirtschaft beschränkt sich eben auf die Produktion. Die Bedeutung dieses Prozesses für den Menschen, mögliche Schäden für die Umwelt oder andere kritische Aspekte spielen in ihr keine Rolle.

Ich vermute, dass es trotzdem Unterschiede zum klassischen Sozialismus gibt?

Ja, es ist heute zum Beispiel schwer, von der vollständigen Verstaatlichung aller Produktionsmittel zu sprechen. Wir müssen sie demokratisieren. Aber es ist wichtig, die strategischen Industrien der Kontrolle des Staates zu unterstellen. Einer der größten Fehler des klassischen Sozialismus lag doch darin, dass er sich kaum vom kapitalistischen Entwicklungsmodell unterschied. Er hat uns mehr Gleichheit versprochen, strebte aber ebenso den Aufbau von Industrie und Produktion an. Denken wir nur an die Konkurrenzsituation zwischen den USA und der Sowjetunion. Eine Alternative für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft bot dieses Kräftemessen, unter Einbezug etwa der Umweltkomponente, nicht. Das ist einer der größten Vorteile des Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den wir mit der verfassunggebenden Versammlung in Ecuador etablieren wollen. Er wird einen alternativen Entwicklungsweg anbieten. Aber es gibt noch einen zweiten Unterschied, der uns die Kritik traditioneller Sozialisten einbringen wird. Wir treten dafür ein, anstelle von Modellen von Prinzipien zu sprechen. Denn in dieser Hinsicht war der klassische Sozialismus nicht nur dominant, sondern arrogant. Er hielt uns an, eine Seite eines Buches aufzuschlagen, um eine Wahrheit oder eine Lösung zu finden. Was er uns bot, war ein politischer Katechismus. Wir sollten aber lernen, uns an die Gegebenheiten eines jeden Landes anzupassen, ohne vorgefertigte Modelle. Als Akademiker sage ich: Jeder Versuch, so komplexe Prozesse wie die, von denen ein gesellschaftlicher Wandel bestimmt ist, zu kontrollieren, ist zum Scheitern verurteilt.

Ihre Alternative?

Wir müssen Dogmen vermeiden. Wir dürfen den Ursprung unserer Kraft nicht vergessen: die politische Kreativität.


Die Originalfassung des Interviews bei der Tageszeitung junge Welt finden Sie hier.