Berichte aus den Bonzenbars

Zur Berichterstattung über die Politik von Daniel Ortega

Thomas Muhr befasst sich in dem folgenden offenen Brief mit diesem Nicaragua-Artikel der tageszeitung (taz) vom 19.06.2008.

Wer Nicaragua kennt, sollte alarmiert sein, wenn die MRS „vor einem zentralen Einkaufszentrum in Managua“ protestiert, weil dies nämlich auf die Oberschichtsorientierung der Partei verweist. Die sozial enteigneten Unterklassen kommen da gar nicht hin, bzw. werden vom Wachpersonal abgewiesen. Der Freitagsmarsch „gegen die Diktatur“ wurde nicht von MRS organisiert, wie fälschlich suggeriert, sondern von 17 „zivilgesellschaftlichen“ Organisationen unter der Führung einer erfundenen „Bürgerunion für die Demokratie“ (Unión Ciudadana por la Democracia), sowie der „Bewegung für Nicaragua“ (Movimiento por Nicaragua), letztere finanziert von NED, IRI, USAID, George Soros Open Society Institute, sowie der Botschaften der USA, Taiwan, und Japan (was hier nachzulesen ist, Kategorie Ver Donantes). Insgesamt beläuft sich die gegenwärtige verdeckte US-Oppositionsfinanzierung auf etwa 500000 US-Dollar (siehe Emanuelsson, Dick: „Los ‚renovados sandinistas’ (MRS) admiten apoyo económico estadounidense“, Rebelion.org).

Wer wie Ortega über Jahrzehnte Politik macht, bietet viel Angriffsfläche, und da muss auch so manches diskutiert werden, wie etwa die Hintergründe zur relativ kritiklosen FSLN-Zustimmung zum DR-CAFTA-USA Freihandelsabkommen. Vorsicht sollte allerdings walten vorschnell Strategie mit Opportunismus gleichzusetzen: es ist der Alemán-Ortega Pact, der die in den spät-80ern vom US-State Department aus geschmiedete rechts-konservativ neoliberale Allianz gespalten, Ortega’s Wiederwahl und die gegenwärtige Umorientierung innerhalb der kontinentalen, emanzipatorischen Prozesse ermöglicht hat. Ortega und die FSLN stellen eine Minderheitsregierung, was möglicherweise eine Erklärung bietet für Ortega’s vielzitierten „Autoritarismus“ – weil sich sonst nämlich überhaupt nichts bewegen und neoliberales ‚business as usual’ munter weitergehen würde.

Das kriminelle Abtreibungsgesetz von 2006 war ein Oppositionskomplott wenige Wochen vor den Wahlen, vor allem von Seiten der katholischen Kirchenhierarchie: hätte Ortega abgelehnt (wenn er das denn gewollt hätte, was wir in der Tat nicht wissen können), hätte er standhaft die Wahl verloren und das Gesetz hätte hinterher ohnehin verabschiedet werden können. Akzeptiert er, ist das Ziel erreicht ihn erneut international zu diskreditieren. Mit den 38 Prozent des Regierungslagers macht man keinen Staat, und schon gar keine Revolution, wie wir seit Salvador Allende wissen. Und übrigens: in Chile ist Michelle Bachelet seit Amtsantritt kräftig am Rudern um ein ähnlich striktes Abtreibungsgesetz gegen den Willen der alten Pinocheteliten zu reformieren. Das ‚demokratische’ Chile wird nämlich nach wie vor – wenn auch mit Modifikationen – von der neoliberalen Pinochet-Verfassung von 1980 regiert. Aber das scheint die ‚kritische’ Linke heutzutage weniger zu interessieren.

Als ehemaliger Abonnent, der sogar ein kollektives Abonnement an der Deutschen Schule Managua (1998/99) initiierte, und nach wie vor die taz in vielen Bereichen als progressive Zeitung gerne liest, finde ich es erschütternd wie das Lateinamerikaressort verkommt. Es scheint als ob die jeweiligen Korrespondenten sich ausschliesslich in den Bonzenbars herumtrieben, und von dort aus die Elitenperspektiven reproduzieren um die taz einzureihen in den globalen Propagandafeldzug, auf dessen Basis dann wieder neue Kriege legitimiert werden.

Warum wird kein Wort verloren über die kontinentale Alfabetisierungskampgne, ermöglicht von Cuba und Venezuela, die Nicaragua im nächsten Jahr als Analfabetismusfrei erklären soll? Oder die sich entwickelnde, kontinent-weite, kostenlose Gesundheitsversorgung, ebenfalls ermöglicht von Cuba und Venezuela? Warum, zum Beispiel, sehen wir in den Beiträgen über Bolivien ausschliesslich Fotos von Demonstrationen der weissen zehn bis 20 Prozent Opposition, und nie von der verarmten indigenen Mehrheit die solide hinter Morales steht?