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Berlinale-Rezensionen: "Chavela" und "Una mujer fantástica"

Ein Dokumentarfilm über die mexikanische Sängerin Chavela Vargas und ein Spielfilm, der als Wettbewerbsbeitrag aus Chile gezeigt wird

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Filmstill "Chavela"
Filmstill "Chavela"

Die Wiederauferstehung einer Legende

"Chavela", die faszinierende Lebensgeschichte Isabela Vargas, erzählt in einem Dokumentarfilm

Gekleidet in einen langen, schwarz-rot gemusterten Poncho steht Chavela Vargas, ruhig und aufrecht, im Scheinwerferlicht einer kleinen Bühne. Neben ihr ein Gitarrist, der mit gehauchten Bewegungen langsam die Melodie eines Boleros erahnen lässt. Chavelas charaktervolle, in Rauch und Tequila gereifte Stimme erklingt zunächst sanft und zart, fast zerbrechlich, wächst jedoch stetig an, wird scheinbar unaufhaltsam lauter, bis sie schließlich leidenschaftlich explodiert, in einem kaum auszuhaltenden Schmerz, wie der hemmungslose Schrei eines Betrunkenen im Vollrausch. In eigenwilligen Harmonien singt Chavela gnadenlos nostalgisch über Liebe, Schmerz und Einsamkeit. Ein Leidensweg eingefangen von altem Videomaterial, Bildern und Interviews, womit Chaterine Gund und Daresha Kyi ein liebevolles, bewegendes und intimes Porträt gelungen ist, das für 90 Minuten Chavela wieder zum Leben erweckt.

Geboren ist Isabela Vargas Lizano 1919 in San Joaquín de las Flores, Costa Rica. Dort beginnt der Dokumentarfilm. Die Einsamkeit begleitete sie seit ihre Kindheit, berichtet Chavela hier selbst, in einem vor über 20 Jahren gedrehten und bis dato unveröffentlichten Interview. Wegen ihrer maskulinen Art und Kleidung wurde sie schon in jungen Jahren vom familiären Leben und von der Kirche ausgegrenzt. Nach der Trennung ihrer Eltern lebte sie eine Weile bei einer Tante, bis sie mit vierzehn Jahren allein nach Mexiko Stadt zog.

Auch in Mexiko stieß Chavela Vargas wegen ihres Erscheinungsbildes auf Missfallen. Sie brach als stark rauchende, trinkende, mit Hose, Hemd und strenger Frisur auftretende Ranchera-Sängerin alle Tabus der männlich dominierten und streng katholischen Gesellschaft Mexikos der 1940er Jahre. Dennoch fand sie schnell Anschluss an die mexikanischen Kulturszene und machte Bekanntschaften, wie den mexikanischen Schriftsteller Juan Rulfo und schauspielerte sogar im Film La Soldadera vom Regisseur José Bolaños. Sie ging regelmäßig in die Cantina El Tenapa, feierte und musizierte mit José Alfredo Jiménez, einem der berühmteste Ranchera-Sänger Mexikos, und lernte die Maler*innen Diego Rivera und Frida Kahlo kennen. José Alfredo Jiménez wurde zu einem engen Freund und Kollegen, dessen schmachtende Texte sie später selber sang. Leidenschaftliche Begierde und Liebeserklärungen an Frauen, diesmal von einer Frau. Mit Kahlo hatte Chavela eine kurze, liebevolle Liaison.

Chavela Vargas hatte viele Leben, viele Versionen ihres Selbst. Erinnert wird sie häufig als "die männlichste aller Ranchera-Sängerinnen“", als offen lesbisch lebende Frau, die aber nie ihre Homosexualität aussprach, mit vielen Affären: Anfangs besonders gerne mit den oft mäuschenhaften, Ehefrauen von Politikern und berühmten Persönlichkeiten.

In den 1960er Jahren war sie zu einer begehrten Sängerin in Cantinas und Bars geworden, blieb jedoch mit ihren ungewöhnlichen Interpretationen der mexikanischen und lateinamerikanischen Folklore eine Randfigur, die sich mit ihrer provozierenden Art, aber vor allem mit viel Tequila den weiteren Karriereweg versperrte.

Mit etwa 50 Jahren verschwand Chavela Vargas aus der Öffentlichkeit. Sie lebte von der Wohltätigkeit ihrer Freunde und gab sich vollends dem Alkohol hin, bis sie die junge Anwältin Alicia Pérez Duarte traf. Pérez Duarte klärte nicht nur Chavelas Rechte an ihren Liedern -denn von dem Erlös aus dem Verkauf ihrer Platten hatte Chavela all die Jahre kaum etwas gesehen-, sie eroberte auch Chavelas Herz. Aus dieser, im Film sehr eindrucksvoll beschriebenen, ersten Begegnung entstand eine lange intensive Beziehung.

In ihrem Beitrag gewährt die Anwältin besonders bezeichnende und intime Einblicke in das Leben der Künstlerin. Die fortlaufend schlimmer werdenden Alkoholexzesse und ihre Brutalität, bis zu dem Moment der Kehrtwende -an die kaum noch jemand geglaubt hatte- und Chavelas musikalische Wiederauferstehung.

Denn nachdem ihre Beziehung im Tequila-Fluss ertrunken war, gelang Chavela "die Heilung" von der Trunksucht, wie sie es selbst nennt. Mit der Hilfe von Bewunderern, einer Reihe berühmter Musiker und Regisseure gelang ihr mit 70 Jahren das Comeback. 20 weitere Jahre triumphierte Chavela daraufhin wieder auf der Bühne und brachte es zu Weltruhm. Schließlich, im Alter von 80 Jahren, sprach sie zum ersten Mal ihre Homosexualität öffentlich aus.

Mit ihren herzzerreißenden Interpretationen von Songs wie La Llorona, La Macorina, Piensa en Mi, ihrer tiefen rauen Stimme, wie ein Abbild ihrer persönlichen Geschichte, ist Chavela Vargas lebend zur Legende der lateinamerikanischen Musik und Heldin der Frauenbewegung Mexikos geworden. Eine Frau, die verliebt in Lieben und Singen war, dem Leben im Moment. Sie starb 2012 mit 93 Jahren in ihrer Wahlheimat Mexiko Stadt, als wahrhaft große Künstlerin.

Daniela Rivas

Ein fantastischer Film

Der chilenische Wettbewerbsbeitrag "Una mujer fantástica" ist ein heißer Anwärter für gleich mehrere Preise bei der Berlinale

Sebastián Lelio hat ein Händchen für herausragende Hauptdarstellerinnen. 2013 gewann Paulina Garcia in seinem Film "Gloria" für ihre Rolle als lebenslustige, kiffende Endfünfzigerin den Silbernen Bären für die beste Darstellung. Vier Jahre später (und mittlerweile Wahlberliner) ist Lelio nun mit "Una mujer fantástica" zurück auf dem Festival und es könnte sein, dass er es diesmal mit noch mehr Trophäen behängt verlassen wird. Denn nicht nur hat er mit Daniela Vega wieder eine herausragende Hauptdarstellerin gefunden und alle Schauspieler bis in die Nebenrollen exzellent besetzt. Auch sein Film erfüllt thematisch, dramaturgisch und künstlerisch diesmal alle Ansprüche, die man an einen Berlinale-Gewinner haben kann.

Vega spielt Marina Vidal, eine talentierte junge Salsa- und Opernsängerin in Santiago zu Beginn ihrer Karriere. Marina heißt laut ihrem Pass zwar noch Daniel, tatsächlich nennt sie aber seit Jahren schon niemand mehr so außer der Polizei. Seit einem Jahr ist sie glücklich mit dem deutlich älteren Orlando (Francisco Reyes) liiert. Eines Nachts fühlt sich Orlando plötzlich unwohl und obwohl Marina alles in ihrer Macht stehende tut, stirbt er kurze Zeit später im Krankenhaus. Doch zum Trauern bleibt Marina keine Zeit, denn ihre ganze Energie wird nun von der Familie des Verstorbenen beansprucht, die alles daran setzt, ihr die Dinge wegzunehmen, die sie an ihren Geliebten erinnern: Wohnung, Auto, Hund. Marina setzt dem zunächst wenig Widerstände entgegen, um Probleme zu vermeiden. Aufgrund ihrer Identität als Trans-Frau und vermeintliche Familienzerstörerin sieht sie sich von Seiten von Autoritäten und Orlandos Verwandten der kompletten Klaviatur der Diskriminierung ausgesetzt: von schiefen Blicken über offene Beleidigungen bis hin zu entwürdigender Behandlung, Entführung und physischer Gewalt auf offener Straße. Marina bleibt letzten Endes nur ein Ausweg: Sie muss mit all ihrer Kraft kämpfen, wenn sie erreichen will, was vielen anderen selbstverständlich zugestanden würde.

Lelios Film nur auf die – speziell in Lateinamerika natürlich hochrelevante – Gender-Thematik zu reduzieren, würde der Vielschichtigkeit des Films aber nicht gerecht. "Una mujer fantástica" ist auch ein Film über das Trauern, das Loslassen von einem geliebten Menschen und die Notwendigkeit, gleichzeitig sein Leben weiterzuleben. Immer wieder steht der tote Orlando Marina noch vor Augen und immer wieder legt ihr dessen Familie Steine in den Weg, um zu verhindern, dass sie von ihm Abschied nehmen kann. Aus einem Gottesdienst für den Toten wird sie mit den Worten "Haben sie denn keinen Respekt vor der Trauer anderer?" abrupt hinausgeworfen – ungeachtet der Tatsache, dass es ihr Geliebter war, der gerade verstorben ist. Dennoch setzt Marina weiterhin alles daran, sich das "Menschenrecht, um einen Menschen trauern zu dürfen", wie sie es im Film selbst ausdrückt, nicht nehmen zu lassen.

Dem Film tut gut, dass Marina nicht überall gegen Widerstände ankämpfen muss. Von etablierten Machtstrukturen wie Polizei, Kirche oder auch den Ärzten im Krankenhaus wird sie zwar mehrfach diskriminiert. Bei ihrer Familie und ihren Arbeitskollegen findet sie dagegen vollen Rückhalt und Akzeptanz, was– neben dem brillanten Spiel von Daniela Vega – Lelio dabei hilft, seine Figur nicht nur als klischeehaftes Opfer zu zeigen. Wunderschön sind außerdem die Momente, in denen Lelio sich von der filmischen Realität entfernt und Marina plötzlich auf der Straße nicht mehr vorankommt, weil sie gegen einen Sturm ankämpfen muss oder in einem Techno-Club zur Anführerin einer Revuetanzgruppe wird. Schließlich schafft es der Film auch noch, ein vernünftiges Ende zu finden – eine Qualität, die leider auf der diesjährigen Berlinale keine Selbstverständlichkeit ist. "Una mujer fantástica" ist das erste echte Highlight des Festivals und hat die Messlatte für alle anderen Filme gelegt, die sich bis zu seinem Ende noch um den goldenen Bären bewerben werden. Aber auch wenn letzten Endes ein anderer gewinnen sollte wird das nicht daran ändern: "Una mujer fantástica" ist einfach "una película fantástica" - ein fantastischer Film.

Dominik Zimmer