Kontinent im Straßen-Notstand

In Südamerika fehlt es an Transportwegen. Armut, Verkehrsunsicherheit und Unterentwicklung sind die Folge

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Schotterpiste in San Juan, Chile
Schotterpiste in San Juan, Chile

Es war ein jüngstes Mammut-Treffen von Politik und Infrastruktur-Branche im Madrider Luxushotel Wellington, das Ende Mai den Finger in eine alte Wunde Südamerikas gelegt hat. Gemeinsam mit Baulöwen von Argentinien bis Kolumbien wolle man die "historische Rückständigkeit" in punkto Infrastruktur des viertgrößten Kontinent der Welt endlich überwinden, richtete María Emma Mejía, Präsidentin der südamerikanischen Staatenorganisation UNASUR in Spanien ihren Appell an Vertreter aus Big-Business, Politik und Entwicklungsbanken. In zwölf UNASUR-Ländern, so rechnete Mejía vor, seien 88 Entwicklungsprojekte in Planung. Bis 2022 müssen für neue Straßen, Hafenanlagen, Strom- und Energienetze Gesamtinvestitionen von rund 14 Milliarden US-Dollar getätigt werden, erklärte die Kolumbianerin ihre "Prioritätsagenda für Integrationsprojekte" (API). Davor hatte die UNASUR-Chefin bereits in Paraguay und Brasilien die Werbetrommel gerührt. Statt derzeit 2,3 Prozent, so ihre Forderung an die Regierungen, müssten mindestens 3,4 Prozent der regionalen Wirtschaftsleistung in Infrastruktur gesteckt werden.

Es geht um die Zukunft des aufstrebenden Kontinents. In Brasilien, Bolivien und Venezuela geht Wirtschaftswachstum wie lange nicht mehr Hand in Hand mit Armutsbekämpfung. Eine neue Mittelschicht wächst heran, gutes Zeichen für den Beginn eines lang ersehnten Aufhol-Prozesses. Damit es so weitergeht müssen mehr Straßen her. Der Blick in Statistiken der Internationalen Straßenvereinigung (IRF) spricht Bände. Die riesige Landmasse zwischen Karibik und Antarktis ist nur von einer verschwindend geringen Zahl tauglicher Verkehrsadern durchzogen. Was die Länge "befestigter Straßen" angeht – internationales Zählmaß für Wege-Infrastruktur – kann Südamerika heute mit nur knapp 320000 Kilometern Beton- und Asphaltstrecken rechnen. Rund ein Drittel davon entfällt auf Brasilien. Schlusslicht ist Bolivien, Südamerikas am wenigsten entwickeltes Land, mit einem mickrigen Straßenwerk von 4584 Kilometern.

Zu Veranschaulichung des dramatischen Straßen-Notstandes lohnt der Vergleich mit Industrienationen im Norden. Die Vereinigten Staaten mit ihrem fast halb so großen Staatsgebiet wie Südamerika verfügen über ein 13 Mal so großes Wegenetz wie alle Länder des "Hinterhofs im Süden" zusammen. Dabei stehen 311 Millionen US-Amerikanern 400 Millionen Latinos in allen 13 Nationen Südamerikas gegenüber. Klarer wird das Bild der Infrastruktur-Ungleichheit im Europa-Vergleich. Polen würde ausreichen um das komplette Straßennetz Südamerikas aufzunehmen. Exportweltmeister Deutschland verfügt über satte 760000 Straßenkilometer – das 2,5 Fache ganz Südamerikas. Spanien, das gerade mal die Hälfte der Fläche Boliviens ausmacht, verfügt im Vergleich mit dem lateinamerikanischen Armenhaus sogar über das 144 Fache an Asphaltstrecke.

Fehlende Straßen sind kein Luxus-Problem. Versorgung mit Infrastruktur nennt die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik der Vereinten Nationen (CEPAL) als "einen der wichtigsten Aspekte in der Entwicklungspolitik". Fehlende Bauten, regional oder national, brandmarkt ein CEPAL-Bericht zur Materie als "Hindernis ersten Grades für die Implementierung effizienter Politiken im Bereich Soziales, Wirtschaftswachstum und regionaler Integration". Die hohen Warenkosten für Transport und Logistik haben Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) und Weltbank gemessen. Sie liegen in Südamerika zwischen 16 bis 25 Prozent. OECD-Industrieländer erreichen einen Schnitt von lediglich neun Prozent. Dieser Aufschlag für transportierte Güter durch Straßenmangel richtet laut BID und Weltbank für Entwicklungsländer mehr Schaden an als Handelszölle.

Den Preis zahlen am Ende die Verbraucher. Liegt der Anteil für Nahrungsmittel-Zölle am Endpreis für Weizen oder Reis bis zu zwölf Prozent, machen weite und langsame Transportkosten mehr als die Hälfte dessen aus. Vor allem Südamerikas Kleinunternehmer geben 48 Prozent ihres Umsatzes für Transporte aus – und sie sind es, die am meisten Menschen einstellen und die Wirtschaft ankurbeln. Und schlechte Straßen kosten Menschenleben. Zuletzt stürzten etwa in Bolivien wieder mehrere Reisende in den Tod. Der schlechte Zustand vorhandener Wege vom Andenhochland ins Amazonas-Tiefland kostete jüngst 18 Studenten das Leben, womit sich die Tragödie in einer Reihe von schwersten Verkehrsunfällen einreiht. Die Teilnahme am Straßenverkehr, alarmierte die Weltgesundheitsorganisation sei 2011 vor allem in den Ländern des Südens zur "Todesursache Nummer Eins bei Personen im Alter zwischen 15 bis 29 Jahren" avanciert. Das Risiko im Straßenverkehr ums Leben zu kommen hänge zudem stark vom Geldbeutel ab, so die WHO-Experten. 90 Prozent aller tödlichen Unfälle passieren in "Ländern mittleren und niedrigen Einkommens".

Der Mangel an funktionierenden Straßen ist schweres Erbe der Kolonialzeit. Jahrhunderte war die alte koloniale Wirtschaftsweise einseitig auf Europa und Nordamerika ausgerichtet. Bodenschätze und Agrar-Produkte wurden gemäß der globalen Nord-Süd-Arbeitsteilung von Silberminen und Kautschuk-Plantagen im Landesinneren zur Verschiffung an die Küsten von Atlantik und Pazifik gebracht. Die "Neue Welt" war damit verdammt zur Lieferung von Rohstoffen für die Werkbänke Europas. Der Straßenbau hatte sich an diesem Gewinner-Verlierer-Schema auszurichten. Geplant wurde kurzfristig. Endete ein Nachfrage-Zyklus, etwa nach Erfindung von Kunststoff als Kautschuk-Ersatz, waren Goldvorkommen in Zentral-Brasilien erschöpft, blieben Wege ins verlassene Wirtschafts-Niemandsland zurück. Bis zur Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert hatten sich erst Spanier und Portugiesen, danach Engländer und US-Amerikaner dem Bau von Transportwegen nach eigenen Interessen verschrieben. Geblieben ist ein Kontinent in Straßenarmut. Reisen und Transport sind im Austausch der Volkswirtschaften Südamerikas bis heute eine kostspielige Angelegenheit und damit Ursache für Armut und Rückständigkeit.