Frauen in Kolumbien: Selbstschutz vor Sexisten wie der Polizei

Interview mit der Menschenrechtsverteidigerin Juliana Higuera über den feministischen Selbstschutz beim landesweiten Generalstreik

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"Dieser Streik betrifft uns Frauen in allen Punkten". Demonstration zum 8. März in Pereira
"Dieser Streik betrifft uns Frauen in allen Punkten". Demonstration zum 8. März in Pereira

491 Gewaltüberfälle auf Frauen durch Polizisten und weitere 29 Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt wurden zwischen dem 28. April und dem 2. Juni 2021 beim kolumbianischen Generalstreik durch Defender la Libertad registriert, ein Netzwerk, das sich gegen die Kriminalisierung sozialer Proteste in Kolumbien einsetzt. Die Feministin und Menschenrechtsverteidigerin Juliana Higuera aus dem nordostkolumbianischen Department Boyacá hat deshalb mit weiteren Aktivist:innen begonnen, eine Guardia Feminista, also eine feministische Selbstschutzorganisation zu gründen. Im Interview mit Colombia Informa spricht sie über die Rolle von Frauen und Queers innerhalb der aktuellen Streikbewegung und verdeutlicht, warum ein feministischer Selbstschutz notwendig ist.

Wie ist die Idee einer feministischen Selbstverteidigungsorganisation beim Generalstreik entstanden?

Hier in Boyacá, insbesondere in Duitama, haben wir die unterschiedlichsten Gewalterfahrungen gemacht. Deshalb haben wir uns als Menschenrechtler:innen, Künstler:innen, Handwerker:innen, Journalist:innen zusammengeschlossen; jede bringt andere Ideen und Erlebnisse mit, aber uns allen ist bewusst, dass es wichtig ist, uns als Frauen, als Feministinnen zu organisieren, Sicherheit für Frauen und Queers zu garantieren und Gewalt vorzubeugen. In einigen Organisationen und sozialen Bewegungen herrschen immer noch Ignoranz, männliche Komplizenschaft und Vertuschung. Deshalb haben wir beschlossen, als Teil der Protestbewegung unsere Themen selbst in die Hand zu nehmen, uns zu organisieren und innerhalb der politischen Strukturen selbst für unsere Sicherheit zu sorgen. Auf sexistische und patriarchale Gewalt reagieren wir mit eigenen Sanktionen.

Mit der feministischen Selbstschutzorganisation haben wir schon verschiedene Aktionen durchgeführt, zum Beispiel die 24-stündige Besetzung in Duitama. Wir haben auch bei der ersten Nationalversammlung in Boyacá mitgemacht. Das Treffen wurde von der Guardia Campesina (Landarbeiter:innen-Schutz), dem Cimarrona-Schutz (Schutz der afrokolumbianischen Gemeinden), der Guardia Indígena (Indigener Schutz) und der Guardia Popular (Volksschutz) begleitet und geschützt. Ich hatte dann die Idee, innerhalb der Nationalversammlung eine feministische Selbstschutzorganisation, die Guardia Feminista, aufzubauen, weil ich dachte: Alle diese Guardias haben sich anhand ihrer Schwerpunkte und ihrer gemeinsamen Erfahrungen gegründet. Das sollten wir auch machen: unseren eigenen Schutz aufbauen, mit feministischem und antipatriarchalem Fokus.

Welche Ansprüche formuliert ihr aus feministischer Perspektive an die Guardia Popular?

Wir arbeiten am Konzept einer Guardia Popular, der sich sämtliche feministische Strömungen anschließen können. Eine Organisation, die einen Raum bietet für Erfahrungen aus unterschiedlichen Vierteln, Bezirken und Gemeinden und sie verbindet. Also Erfahrungen, die beim Kampf auf der Straße, bei den Gemeinschaftsküchen und bei politischen Aktionen entstanden sind. Es geht um eine generationenübergreifende Schutzorganisation, die verschiedene soziale Gruppen zusammenbringt. Wir fangen gerade erst an, dieses Schutzkollektiv aufzubauen, ohne fertig ausgearbeitetes Konzept oder Prinzipien. Das ganze Schutzkonzept befindet sich noch im Entstehungsprozess, aber natürlich denken wir an eine breite Basis, da die Idee aus der Nationalversammlung heraus entstanden ist.

Welche Schwerpunkte soll eure Guardia im Einzelnen haben?

Was uns vorschwebt, ist ein Unterstützungsnetzwerk, in dem es Raum zum Zuhören, für Hilfestellung und für feministische Selbstverteidigung gibt. Damit wir in jeder Situation in der Lage sind, uns zu schützen. Manchmal begehen nämlich Frauen den Fehler zu denken, man mache besser nichts, um die Räume nicht zu gefährden. Aber das Gegenteil ist der Fall, das hat die Geschichte uns gelehrt: Wo wir uns nicht eingebracht haben, wurden Räume komplett von Männern dominiert, insofern ist es an der Zeit, dass wir aktiv werden.

Was würdest du sagen: Inwiefern hat der landesweite Generalstreik auch Frauen und Queers beeinflusst, die nun auf der Straße protestieren?

Die aktuelle politische Mobilisierung hat auf jeden Fall dazu geführt, dass Frauen und Queers, sowie unterschiedliche Lebensrealitäten vielmehr Anerkennung und Sichtbarkeit erfahren. Wir haben unsererseits auch massiv darauf hingewiesen, dass dieser Streik uns Frauen in allen Punkten betrifft. Wir verkörpern diesen Streik mit der Verteidigung von Menschenrechten; indem wir organisieren, Strukturen aufbauen, anführen; wir verkörpern ihn bei den direkten Aktionen, in gemeinschaftlichen Küchen, mit kulturellen Beiträgen, mit Kunst und Musik. Und schließlich auch was das Umsorgen betrifft, denn die Rolle der Mütter war gigantisch. Was queere Themen und sexuelle Diversität betrifft, möchte ich unbedingt die verschiedenen Performances erwähnen, zum Beispiel die Vogue-Tanzperformances. Auf der anderen Seite hat auch die allgegenwärtige Gewalt ihre verschiedenen Ausprägungen. Wir haben es mit drei Arten von Gewalt zu tun: Der staatlichen Gewalt, der Gewalt innerhalb der Organisationen und der Gewalt im Zusammenhang mit der Primera Línea, der Speerspitze bei den Aktionen und Demos. Wir finden es richtig und wichtig, was die vordersten Reihen machen, wir unterstützen und begleiten ihre Aktionen, wo wir können, aber man muss einen Haufen Präventions- und Sensibilisierungsarbeit machen. Wir hatten es da schon mit einigen ziemlich autoritären, patriarchalen Verhaltensweisen zu tun.

Bei der Asamblea Nacional Popular, also der Nationalversammlung der Bewegungen in Cali, haben Frauen und Queers die Bühne besetzt. Warum?

Erstmal ist wichtig zu betonen, dass wir uns bei der Organisation in Cali ziemlich rausgehalten haben. Nichtsdestotrotz hat die Asamblea Nacional Popular ihrerseits auch nicht gerade den Anschein erweckt, als hätte sie uns Frauen und Queers mitgedacht und von sich aus überlegt, wie unsere Beteiligung aussehen könnte.

Das heißt, es wurde davon ausgegangen, dass wir schon irgendwie teilnehmen werden, aber wie dann Gleichberechtigung in der Praxis aussehen kann und was wir als Frauen und Queers brauchen, um an den Kommissionen und Diskussionsrunden teilzunehmen, tja… Daran, dass der antipatriarchale Fokus auf alle Bereiche ausgedehnt werden muss, daran wurde nicht gedacht. Die Art und Weise, wie die Versammlung in Cali organisiert wurde, hat das ganz deutlich gemacht: In der Grundstruktur waren wir nicht vertreten und in den Diskussionsrunden auch nicht. "Frauen und Queers" war irgendwie so als Unterthema einer Arbeitsgruppe geplant. An diesem Punkt haben wir alle zusammen beschlossen, uns unabhängig zusammenzuschließen und in unserem eigenen Tempo und zu unseren eigenen Fragen zu arbeiten. Wir waren mit Vielem nicht einverstanden und dass wir einbezogen werden, war überhaupt nicht garantiert. Unter anderem deswegen haben wir entschieden, die Bühne zu besetzen.

In Duitama, Boyacá war der feministische Selbstschutz besonders aktiv. Kannst du uns mehr zu den Erfahrungen dort erzählen?

In Duitama hat sich deutlich gezeigt, dass jegliche Sicherheitsgarantien für die Teilnahme von Frauen an der Streikbewegung fehlen und dass geschlechtsspezifische Gewalt nicht beachtet oder nicht ernst genommen wird. Das Kollektiv Chinas Berriondas in Duitama hat unter anderem die 24-stündige Besetzung der Straße San Luis initiiert und den Aufbau der Guardia Feminsta Popular wesentlich vorangetrieben. Jenifer Solano, Mitglied des feministischen Selbstschutzes vor Ort hat es so ausgedrückt: "Wir haben während des Streiks psychische Gewalt und sexuelle Schikane erlebt. Wir mussten uns vor Sexisten genauso schützen wie vor der Polizei". Mit dem Aufbau der Schutzorganisation wurden verschiedene spezifische Gewaltakte analysiert und entsprechende Selbstverteidigungstaktiken entwickelt, die Frauen helfen sollen, sich in verschiedenen Angriffsszenarien zu schützen.

Das Interview ist in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 568 erschienen

Übersetzung: Amelie Stettner für poonal, Überarbeitung durch LN