Die Bilanz des 18. Novembers 2018, einem Sonntag, an dem auf den Straßen der Hauptstadt und mehreren Provinzstädten Haitis gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Straflosigkeit protestiert und die Offenlegung der Verschwendung von Mitteln aus dem Petrocaribe-Programm verlangt wurde, belief sich auf elf Tote, 47 Verletzte und 75 Festnahmen. Die Welle der Gewalt hielt die gesamte Woche über an.
Petrocaribe ist ein 2005 von der venezolanischen Regierung unter Hugo Chávez geschaffenes Hilfsprogramm, mit dem den Ländern der Karibik Erdöl zu subventionierten Preisen angeboten wird. Die von Haiti dank Petrocaribe erzielten Ressourcen sollten in Bauvorhaben in der Infrastruktur sowie in Wirtschafts- und Sozialprojekte investiert werden. Jedoch haben mehrere bisher durchgeführte Wirtschaftsprüfungen es nicht geschafft, den Verbleib von 3,8 Milliarden US-Dollar aus diesen Fonds aufzuklären.
Dem 18. November kommt eine doppelte Bedeutung zu, einmal wegen des Gedenkens an den 215. Jahrestag der Schlacht von Vertières 1 und zum anderen wegen der landesweiten Proteste rund um das Thema Petrocaribe, während derer auch der Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse als notwendiger Schritt gefordert wurde.
Gegen die Proteste bot die haitianische Regierung mehr als 3.000 Polizeibeamte auf. Oppositionelle Gruppen riefen zu Demonstrationen in verschiedenen Stadtteilen der Hauptstadt Port-au-Prince und in der im Norden gelegenen Stadt Cap-Haïtien auf, um eine tiefgreifende Untersuchung der vermuteten Veruntreuung der millionenschweren Fonds aus dem Petrocaribe-Programm zu fordern. Die Schulen in Port-au-Prince blieben geschlossen.
Mit Spruchbändern, auf denen verlangt wurde, den Verbleib von rund 3,8 Milliarden US-Dollar aus dem Petrocaribe-Programm aufzuklären, marschierten Tausende zum Präsidentenpalast der Hauptstadt und zum Sitz des Parlaments und zogen auf ihrem Wege durch das dichtbevölkerte Wohnviertel Delmas, wo sich noch mehr Demonstranten dem Zug anschlossen.
Laut einer Untersuchung durch den Senat waren während der Regierung von Expräsident Michel Martelly (2011-2016) mindestens 14 ehemalige Beamte in die Umlenkung der Fonds verwickelt, von denen keiner jemals vor Gericht gestellt wurde.
Der ehemalige Senator Moïse Jean-Charles, der die Proteste in Cap-Haïtien, 130 Kilometer nölich der Hauptstadt, anführte, forderte ebenfalls den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse und dessen Regierung, weil sie sich geweigert habe, tiefergehende Untersuchungen durchzuführen. Moïse sagte an dem Sonntag eine Reise ab, die ihn zusammen mit den Mitgliedern seines Kabinetts nach Cap-Haïtien führen sollte, um des 215. Jahrestages der Schlacht von Vertières zu gedenken, die der letzte Schritt der Haitianer beim Kampf um die Erringung der Unabhängigkeit von Frankreich war.
Die wütenden Demonstranten errichteten in mehreren Straßen Barrikaden aus Müll und brennenden Autoreifen, deren schwarzer Qualm den ganzen Nachmittag lang einen Großteil von Port-au-Prince einhüllte. Die Mehrzahl der Geschäfte blieb geschlossen und der öffentliche Verkehr kam zum Erliegen, auch die Straßenhändler stellten ihre Tätigkeit komplett ein.
Oppositionsgruppen wie die "Demokratische und populare Koalition" nutzten die Proteste, um den Rücktritt des Präsidenten Jovenel Moïse zu verlangen, und forderten, bis zum Rücktritt des Regierungschefs jegliche Geschäftstätigkeit einzustellen.
Haiti durchlebt eine schwere Wirtschaftskrise und die Landeswährung, der Gourde, befindet sich gegenüber dem US-Dollar im freien Fall, während seit Jahresbeginn die monatliche Inflationsrate bei 14 Prozent verharrt. Dazu kommt eine hohe Arbeitslosenquote. Eins der Hauptprobleme, das den Unmut der Bevölkerung hervorruft, sind die Privilegien und die Straflosigkeit, die die Angehörigen der Streitkräfte der Vereinten Nationen, Minustah, genießen. Es handelt sich um 7.000 Soldaten aus Argentinien, Brasilien, Uruguay und anderen Ländern, die – so der Vorwurf der sozialen Bewegungen – die Leute ausrauben, Frauen und Kinder vergewaltigen und sie mit Krankheiten anstecken; und das alles ohne irgendeine Bestrafung.
Diese Umstände und dazu der Korruptionsskandal bei Petrocaribe haben bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung dazu geführt, dass sie dem gegenwärtigen Regime absolut nicht mehr zutrauen, eine Verbesserung der Situation herbeizuführen.
Das haitianische Parlament hat 2017 einen Bericht veröffentlicht, in dem ehemaligen Funktionären der gegenwärtigen Regierungspartei vorgeworfen wird, in Unregelmäßigkeiten bei der Verwendung des Petrocaribe-Fonds verwickelt zu sein. Aber niemandem wurde bisher deshalb der Prozess gemacht. Dabei geht es um mehr als zwei Milliarden US-Dollar, die gemäß einer Untersuchung des Senats veruntreut wurden.
Der Oppositionsführer Moïse Jean Charles bestätigte unlängst in Cap-Haïtien in Presseerklärungen, dass es ein Gerichtsverfahren in der Sache Petrocaribe nur dann geben könne, wenn Präsident Jovenel Moïse aus dem Amt ausscheidet.
Der Bananenpräsident
Jovenel Moïse, der bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2015 und im November 2016 den Sieg errang, wurde am vergangenen Dienstag vom Provisorischen Wahlrat Haitis zum gewählten Präsidenten ausgerufen. Das heißt, dass sich die Bestätigung des Wahlsiegers aufgrund der politischen Krise, die das Land durchmachte, um mehr als einen Monat verzögerte.
Laut dem Wahlrat Haitis setzte sich Moïse von der Rechtspartei Tet Kale bei den Wahlen vom 20. November 2016 mit 55,6 Prozent der Stimmen durch. Auf dem zweiten Platz landete Jude Célestin von der Alternativen Liga für Fortschritt und Emanzipation mit 19,5 Prozent.
Die Ausrufung erfolgte nach Wochen, die geprägt waren von Ungewissheit, von Betrugsvorwürfen, die von Célestin-Anhängern erhoben wurden, und von Protesten von Moïse-Gefolgsleuten, die seine Ernennung zum gewählten Präsidenten verlangten. Nach einer Neuauszählung der Stimmzettel räumte der Wahlrat zwar Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung ein, es habe aber keinen "massiven Wahlbetrug" gegeben, wie behauptet wurde.
Moïses Sieg im Oktober 2015 war damals auch angefochten und schließlich nach gewalttätigen Unruhen annulliert worden. Lediglich 21 Prozent der wahlberechtigten Bürger waren dann im November 2016 an die Urnen gegangen.
Der 49-jährige Moïse ist ein Unternehmer aus dem ländlichen Gebiet Trou-du-Nord im Nordosten Haitis. Er studierte Erziehungswissenschaften an der Quisqueya-Universität in der Hauptstadt Port-au-Prince, die als eine der besten privaten akademischen Lehranstalten Haitis gilt.
"1966 verlässt er die Hauptstadt und lässt sich in der Gemeinde Port-de-Paix im Nordosten des Landes nieder, wo er seinen brennenden Wunsch verwirklichen will, das Innere des Landes zu entwickeln", ist im Lebenslauf auf seiner offiziellen Webseite zu lesen, wo detailliert ausgeführt wird, dass seine ersten unternehmerischen Aktivitäten im Handel mit Autoteilen bestanden, bevor er sich danach dem Anbau von Bananen widmete.
Seine Unternehmungen ließen ihn in weniger als zehn Jahren zum Generalsekretär der Industrie- und Handelskammer Haitis aufsteigen. Neben seinem Bananenexportgeschäft realisierte Moïse Unternehmensprojekte auf dem Gebiet von Wind- und Sonnenenergieerzeugung sowie weitere landwirtschaftliche Geschäfte.
Eine Karte, die er bei seinem Wahlkampf ausspielte, war seine Herkunft aus einem ländlichen Gebiet. Seine zweite Trumpfkarte war der Erfolg, den er bei etlichen seiner unternehmerischen Initiativen hatte, und so schaffte er es, sich bei den haitianischen Wählern gerade in den Gebieten mit den größten Wirtschaftsproblemen als das "Beispiel eines möglichen Erfolges" zu präsentieren.
Mehr noch: Während des Wahlkampfes verstand er es sogar, seinen von vielen im Lande verwendeten Spitznamen "der Bananenmann" zu nutzen. Sein Einstieg in die Politik war möglich dank der Unterstützung des ehemaligen haitianischen Präsidenten Michel Martelly (2011-2016) und der Rechtspartei Tet Kale. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Moïse ein öffentliches Amt bekleidet. Martelly, der außerdem einer der bekanntesten Musiker Haitis ist, verließ sein Herrschaftsamt inmitten mehrerer Korruptionsvorwürfen und Beschuldigungen seitens seiner politischen Gegner.
Nach einem von Straßenprotesten und Betrugsvorwürfen gekennzeichneten Jahresende bat Moïse die Haitianer, dieses Kapitel ad acta zu legen. Die politische Instabilität zieht seit Längerem die Wirtschaft eines Landes in Mitleidenschaft, das schon vor den Wahlen im Jahre 2015 das ärmste in Amerika war. Berichten der Vereinten Nationen zufolge überleben mehr als 60 Prozent der in Haiti lebenden Personen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag.
Mehr als die Hälfte der haitianischen Bevölkerung sind Analphabeten, und 90 Prozent der Bildungseinrichtungen befinden sich in privater Hand, so dass der größte Teil der Bevölkerung keinen Zugang zur Bildung hat. Die Arbeitslosenquote beträgt 80 Prozent. Auch die soziale Lage ist von großer Ungleichheit gekennzeichnet. 95 Prozent der Bevölkerung sind schwarz und trotzdem gibt es eine ausgesprochene Diskriminierung sowohl in sprachlicher Hinsicht wie auch durch die Hautfarbe. Die Diskriminierung ist besonders bemerkbar in der Unterscheidung zwischen Land und Stadt. Es hängt davon ab, wo man geboren wird, ob man Landarbeiter oder Städter wird, und das ist total verinnerlicht. Die restlichen fünf Prozent sind Mulatten, die das ganze Land unter ihrer Kontrolle haben.
Das strategische Interesse an dem mitten in der Karibik gelegenen Haiti hat zur Folge, dass nichts ohne die Zustimmung und Beaufsichtigung der USA geschehen kann. Daher kommt es fortwährend zu Interventionen. "Bis 1986 erzeugte Haiti genug Reis, um die gesamte Bevölkerung zu ernähren. Mit der Einführung neoliberaler Politiken sanken die Importzölle von 30 auf zwei Prozent, und der Reis wurde so billig, dass die Reisbauern nicht mit dem Reis konkurrieren konnten, der aus den USA importiert wurde. Wegen dieser wirtschaftlichen Gewalt gaben sie die Landwirtschaft auf und begaben sich als Binnenvertriebene in die Hauptstadt", kommentiert Gulin Bonhomme, haitianischer Professor und Friedensforscher.
Laut der Internationalen Migrationsorganisation hausen 55.000 Haitianer sieben Jahre nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 mit mehr als 200.000 Todesopfern weiterhin in provisorischen Lagern unter äußerst prekären Lebensbedingungen. Anfang Oktober 2016 schwanden die Hoffnungen auf wirtschaftliche Erholung noch mehr, als der Hurrikan Matthew über das Land fegte und einen geschätzten Schaden von mehr als zwei Milliarden US-Dollar hinterließ.
Die Politik des IWF
Bereits am 6. Juli war Haiti Schauplatz von Protesten gegen die Preiserhöhungen bei Benzin, Diesel und Kerosin aufgrund einer zwischen der Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ausgehandelten Vereinbarung. Angesichts der Gewalttätigkeiten wurde die Maßnahme am folgenden Tage zurückgenommen und Präsident Jovenel Moïse rief die Leute auf, in ihre Häuser zurückzukehren.
Die Proteste, bei denen mindestens drei Personen zu Tode kamen und Regierungsgebäude, Geschäfte, Hotels und Bürogebäude beschädigt wurden, dauerten jedoch an. Zu den Ausschreitungen kam es in der Hauptstadt Port-au-Prince, in Cap-Haitien und in den Gemeinden Les Cayes, Jacmel und Petit-Goave.
Infolge der durch die vom IWF geforderten Anpassungen ausgelösten Proteste und der soziale Unzufriedenheit erklärte der haitianische Premierminister Jack Guy Lafontant seinen Rücktritt.
"Humanitäre" Hilfe
Die vom IWF verordnete "Anpassungsmaßnahme" bedeutete eine Preiserhöhung bei Benzin von 38 Prozent, bei Diesel von 47 und von 51 Prozent bei Kerosin, das von der Mehrheit der Haitianer zur Beleuchtung ihrer Häuser benutzt wird, da sie keinen Anschluss ans Stromnetz haben.
Es handelte sich dabei um ein Abkommen über "humanitäre Hilfe" zwischen Haiti und dem IWF. Es wurde ohne das Einverständnis der Bevölkerung als Teil eines Anpassungsprogramms umgesetzt, das darauf abzielte, unter dem Vorwand, das Haushaltsdefizit zu verringern und die "Wirtschaft zu stabilisieren", die Subventionen für Mineralölerzeugnisse abzuschaffen.
Nach dem Erdbeben von 2010, das mindestens 222.570 Tote, 1,5 Millionen Obdachlose und materielle Schäden in einer Größenordnung von geschätzten 7,9 Milliarden hinterließ, stiegen Haitis Schulden beim IWF sprunghaft an. Es handelte sich um ein "Darlehen" in Höhe von 114 Millionen US-Dollar, mit dessen Rückzahlung nach fünfeinhalb Jahren begonnen werden sollte.
NGOs wie Schmeißfliegen angezogen
Die Versprechungen der internationalen Gemeinschaft ließen auf sich warten und beliefen sich dann auf 16 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau Haitis, ein Betrag, der bei den Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations, NGOs) verblieb und nie im Lande spürbar wurde. "Es ist das Land der NGOs, von denen es mehr als 14.000 gibt, und das in einem kleinen Land mit neun Millionen Einwohnern. Sie betreiben ihre Projekte und keiner kontrolliert sie. Von den zehn Milliarden US-Dollar, die von der UNO kamen, landete der größte Teil bei den NGOs, die niemals irgendwelche Entscheidungsbefugnisse den Haitianern überließen, sondern diese in Abhängigkeit, Passivität und Schutzlosigkeit beließen", merkt Bonhomme an.
Haiti wurde zur goldene Eier legenden Henne für die NGOs, die sich wie die Schmeißfliegen angezogen fühlten. Keiner weiß genau, wie viele es gibt, was sie treiben oder wofür sie die Mittel ausgeben. Die Verdoppelung der Dienstleistungen und die immense Anhäufung von nicht eingesetztem Material ist praktisch die Regel. Nur 300 sind eingeschriebene Vereine, so dass es Hunderte gibt, die ohne irgendwelche Kontrolle ihr Unwesen treiben. Die meisten von ihnen sind schwarze Löcher, die keiner kontrolliert.
Während der Brite David Harvey die These unterstützt, dass die NGOs trojanische Pferde der neoliberalen Globalisierung sind, vertritt Ricardo Seitenfus die Auffassung, dass "es ein Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen dem Unglück der Haitianer und dem Glück der NGOs gibt und die größte Gefahr, der wir uns jetzt gegenübersehen, die NGO-sierung des Landes ist. Haiti war nie zuvor so geschwächt wie jetzt, und es kommt nun darauf an, über viele Dinge in einen Dialog einzutreten und vieles zu akzeptieren, aber es existiert eine perverse Beziehung zwischen der Schwäche des haitianischen Staates und der Stärke der Nichtregierungsorganisationen im Land."
Der Kapitalismus verfügt über die Gabe, alles zur Ware zu machen. Wo es ein Bedürfnis zu decken gilt, findet ein möglicher Handel seinen Platz, werden Geschäfte bewerkstelligt und saftige Gewinne daraus gezogen. Krankheit, Bildung, Sex, Elternschaft, Sport, Erholung, frische Luft atmen, Kunst… Warum also nicht das Mitleid zur Handelsware machen?, fragt der Ökumenische und populare Informationsdienst (Servicio Informatico Ecuménico y Popular).
Die Merkantilisierung der Nichtregierungsorganisationen bedeutet, dass nicht mehr "die Geschädigten" im Zentrum der Aufmerksamkeit der Hilfehändler stehen. Jeglicher kapitalistischer Markt generiert bei seinen Betreibern die unausweichliche Notwendigkeit zu wachsen und sich in einem von einem immer schärferen Konkurrenzdruck beherrschten Umfeld zu behaupten. Der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit verlagert sich zu den "Gebern". Es handelt sich darum, ein immer attraktiveres "humanitäres Produkt" anzubieten und es unter Verwendung ausgeklügelter Verkaufstechnologien zu "verkaufen".
Dafür muss man über erfahrene Fachleute und Führungskräfte verfügen. Die spanische Zeitung El País widmete im Januar 2011 eine ganze Seite diesem Thema unter dem Titel "Solidaritätsprofis", ein Wirtschaftszweig, in dem in Spanien 529.000 bezahlte Angestellte beschäftigt sind (sicherlich viele davon schlecht bezahlt). Ganz unverfroren wird der beispielhafte Fall eines dynamischen Wirtschaftswissenschaftlers mit langjähriger Erfahrung als Verkaufsdirektor beim Konsumgüterkonzern Procter & Gamble angeführt, der von einer NGO unter Vertrag genommen wurde, die von einem Bankmagnaten gegründet worden war. Die an "Business Schools" angebotenen Lehrgänge und postgraduale Studiengänge mit Spezialisierung auf NGOs erfreuen sich immer größerer Beliebtheit.
Oftmals handelt es dabei um wahre multinationale Konzerne mit Filialen in Steuerparadiesen, um die erheblichen Fonds zu "verwalten", die sie unter Umgehung beschwerlicher Steuerregeln der "Regierungen" erhalten. Gegen 77 Nichtregierungsorganisationen laufen Untersuchungen wegen solcher Praktiken.
Wie der Minister für Planung und externe Zusammenarbeit, Avio Fleurant, mitteilte, sahen sich Haitis Behörden veranlasst, nach dem Skandal bei Oxfam, dessen Mitarbeiter in Fälle von Ausbeutung und sexuellem Missbrauch sowie Fahrlässigkeit und Vetternwirtschaft verwickelt waren, eine Untersuchung sämtlicher NGOs im Lande einzuleiten. Präsident Moïse versicherte, dass der Oxfam-Fall nur die Spitze des Eisberges sei und forderte auch die Untersuchung weiterer NGOs wie Ärzte ohne Grenzen.
Nach dem Erdbeben litt das Land auch unter einer Cholera-Epidemie, deren Ausbruch den UNO-Friedensstreitkräften angelastet wird. Mehr als 650.000 Personen erkrankten an Cholera und mehr als 8.000 Menschen fielen dieser Krankheit zum Opfer. Zu dieser Katastrophe gesellten sich dann 2016 respektive 2017 noch die Hurrikans Matthew und Irma, in deren Folge Tausende von Personen immer noch in Lagern leben.
Das Erdbeben diente als Vorwand für eine erneute "humanitäre" Intervention der USA in Haiti, wo sie Jahre zuvor, und zwar zwischen 1951 und 1986, für die Errichtung der Duvalier-Diktaturen verantwortlich waren, um mit deren Hilfe die Naturreichtümer der Insel unter ihre Kontrolle zu bringen und sie auszuplündern. Der beklagenswerte Zustand, in dem sich das Land befand, eröffnete die Gelegenheit für die "humanitäre Hilfe" der UNO, die mittels der Minustah-Mission (7.000 Soldaten und Polizisten) die Kontrolle über die Insel übernahm.
Die ausländische Intervention stellte sich letztendlich als wirtschaftlicher Betrug heraus, denn während das Land unter den Folgen des Erdbebens litt, kamen Millionen US-Dollar dieser "humanitären Hilfe" nie bei der Bevölkerung an. Fast 9 Prozent der Finanzierung blieb bei Stiftungen und ausländischen Nichtregierungsorganisationen stecken, darunter bei der Clinton-Stiftung.
Die Auslandsschuld Haitis wird auf cirka 890 Millionen US-Dollar geschätzt, von denen 41 Prozent auf die Interamerikanische Entwicklungsbank als dem größten Gläubiger entfallen und 27 Prozent auf die Weltbank.
Jean-Luc Mercier aus Haiti ist Soziologe und Mitarbeiter des Lateinamerikanischen Zentrums für Strategische Analyse (Centro Latinoamericano de Análisis Estratégico, CLAE)
- 1. In der Schlacht von Vertieres, der letzten großen Schlacht des Unabhängigkeitskrieges und der Revolution, wurden am 18. November 1803 die französischen Truppen von den haitianischen Rebellen endgültig geschlagen, die Unabhängigkeit Haitis gesichert. Die früheren Sklavinnen und Sklaven hatten Armeen der drei mächtigsten Nationen der Erde besiegt