"Was nicht unter Kontrolle der USA steht, wird zu einer Bedrohung"

Interview mit Theotonio dos Santos, brasilianischer Sozialwissenschaftler und einer der einflussreichsten Intellektuellen Lateinamerikas

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Bei einer Demonstration am 4. September in São Paulo forderten Zehntausende Neuwahlen
Bei einer Demonstration am 4. September in São Paulo forderten Zehntausende Neuwahlen

Vorbemerkung der Redaktion: Das Gespräch fand im Juli statt, also vor dem parlamentarischen Putsch, mit dem Brasiliens Präsident Dilma Rousseff am 31. August abgesetzt wurde


Theotonio dos Santos kann im Alter von 79 Jahren von sich sagen, dass er die großen politischen Prozesse der Region am eigenen Leib miterlebt hat: von seinem Exil in Chile nach dem Staatsstreich von 1964 in Brasilien und seinem erneuten Aufbruch nach Mexiko ab 1973 bis hin zur Rückkehr in sein Heimatland mit der Wiederkehr der Demokratie im Jahre 1985. Er ist einer der Mitbegründer der Dependenztheorie und später der Weltsystem-Theorie. Nun, auf dem Sprung nach Buenos Aires, wo er vom Lateinamerikanischen Rat der Sozialwissenschaften (Clacso), den er selbst mitgegründet hatte, eingeladen ist, ist er an der Reihe zu erläutern, warum die Regierung von Dilma Rousseff in ihren letzten Zügen liegt und die Region eine Rückkehr zum Neoliberalismus erleidet, der bereits weit entfernt zu sein schien. "Ich betrachte die Situation in Lateinamerika als Teil einer allgemeineren Offensive auf weltweiter Ebene", sagt er in den Büroräumen von Clacso, wobei das entscheidende Element ein ökonomischer und politischer Kontrollverlust seitens des hegemonialen Zentrums des Weltsystem sei, nämlich der USA.

Wie zeigt sich diese Offensive?

Es existiert eine ziemlich verzweifelte Haltung, die Macht wiederzuerlangen und auch wenn dies nicht das beabsichtigte Resultat hatte, hatte sie äußerst destruktive lokale Auswirkungen. Dies ist der Fall im Mittleren Osten, wo eine tiefgreifende Krise bestehen geblieben ist. Und Russland, das ein Projekt der Zusammenarbeit aufgebaut hatte, wird wieder zum großen Feind Europas.

Diese neue Auseinandersetzung begann in Syrien?

Russland wird insbesondere aufgrund seiner Allianz mit China als Bedrohung gesehen, wodurch es erneut im Schema eines weltweiten Konfliktes eingeordnet wird. Bislang ist es nur gelungen, einige wirklich schwierige Bedingungen in der ehemaligen sowjetischen Welt herzustellen, aber die USA haben die Situation nicht unter Kontrolle.

Der Angriff gegen die Regierung von Dilma würde sich demnach durch die Annährung an die Brics-Staaten erklären lassen?

Alles, was nicht unter Kontrolle der USA steht, wird zu einer Bedrohung und die Brics-Staaten sind eine strategische Bedrohung für die USA. Und in gewisser Weise macht dies auch Sinn, denn sie beanspruchen einen Platz, den zuvor die USA einnahmen. Im Fall von Lateinamerika entsteht ihre Beunruhigung durch das Öl und in erster Linie durch Venezuela, das die größten Reserven der Welt besitzt und durch Brasilien nach der Entdeckung des Pre-Sal, die einen Teil der Ölrente den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wissenschaft und Technologie widmen.

Sie bremsten und boykottierten die Regierung von Dilma, sie füllten den Kongress mit vollkommen Unfähigen...

Das ist nicht schwer (lacht)

Die Frage ist, warum die PT nichts dagegen unternehmen konnte.

Die PT hat immer auf Verhandlungen gesetzt und eine der Konsequenzen dieser Politik bestand darin, die Intensität der sozialen und politischen Mobilisierung zu verringern.

Dies war ihr großer Fehler?

Wann immer ich mit Lula über diese Dinge sprechen konnte, habe ich ihm gesagt, dass es eine Einheit der Linken geben müsste, mit wem auch immer sie verhandelt, aber dass es eine sehr starke Basis für die Verhandlung geben müsse. Wenn du dich auf dich selbst beschränkst, wirst du im Ergebnis immer abhängiger von der Verhandlung. Lula hatte ein ausgesprochen großes Verhandlungsgeschick und es gab die Möglichkeit, dass PT und PSDB im Wechsel regiert hätten. Dies war die Vorstellung von Fernando Henrique Cardoso, nachdem er mit der Dependenztheorie gebrochen hatte. Aber es kam zu vielen unnötigen und sehr negativen Kompromissen. Denn ein Land darf sich nicht den Luxus erlauben, die Schaffung und Stärkung einer kleinen Finanz- Minderheit zu unterstützen, die von der Unproduktivität und Spekulation lebt.

Aber die PT hat dieses Finanzgruppen nie angegriffen.

Im Gegenteil, der Präsident der Zentralbank von Lula, Henrique Meirelles, ist nun Wirtschaftsminister (von Michel Temer) und er kommt aus der Zeit von Fernando Henrique. Er ist eine Figur des internationalen Bankgeschäfts. Dies half dabei, die Beziehung zwischen Lula und dem Finanzsystem zu konsolidieren, doch das Resultat katastrophal.

Was ist danach passiert? Besitzt Dilma nicht das gleiche Verhandlungsgeschick?

Es gibt einige Aspekte, erstens der Fall des Ölpreises aufgrund des Anstiegs der Produktion in den USA durch das Fracking, was eine große Auswirkung hatte, allerdings für einen begrenzten Zeitraum. Um Dilma herum bildetet sich eine Gruppe, die stark kritisierte, wie die PT diesen schwierigen Situationen zu begegnen versuchte und die sagten, es müsse eine Anpassung geben. All dies geschah in einem Rahmen, in dem gesagt wurde, dass wir eine äußerst gefährliche Krise erlebten und eine ansteigende Inflation, die nicht existierte – sie lag bei etwa vier Prozent -, die dann jedoch mit der Anhebung des Zinssatzes entstand.

Das war im Januar 2014, als sie ihre zweite Amtszeit begann.

Bereits 2013 begann sie, die von der Zentralbank aufgezwungene Idee zu akzeptieren, den Zinssatz anzuheben. Dies öffnete den Weg für die Eindämmung des Wachstums, nicht für den Stopp der Inflation. Im Gegenteil, eine Sache die ich seit Jahren mit verschiedenen Strömungen des bürgerlichen ökonomischen Denkens diskutiere, ist diese Geschichte, dass die Inflation das Ergebnis eines ökonomischen Überschusses sei, die nur durch eine Anhebung des Zinssatztes aufzuhalten sei.

Ein klassisches monetaristisches Rezept.

Das dramatische Ergebnis ist, dass die Inflation ansteigt. Was ziehst du daraus für einen Schluss? Dass die Theorie und die Anwendung schlecht sind, aber nein, sie sagen, dass der Zinssatz zu wenig angehoben wurde. Für all das wurde ein Klima geschaffen und wir sind schon bei einem Zinssatz von 14 Prozent und einem immer geringeren Wachstum.

Wie steht es um die Zukunft, wird Dilma zurückkommen oder nicht?

Der Eindruck ist, dass es nicht die Bedingungen gegeben sind, zurückzukommen, denn die Kampagne ist äußerst stark gewesen. Aber die Übergangsregierung hat viele abscheuliche und außerdem paradoxe Dinge gemacht, denn ein Gewerkschaftsführer, der einer Regierung hilft, die so sehr gegen Gewerkschaften und Arbeiter eingestellt ist, hat einen Preis, nicht nur bei der Wahl, sondern auch innerhalb der eigenen Klasse. Die Gewerkschaftsführer, inklusive derjenigen, die auf der Seite der Rechten und des Impeachment waren, weichen zurück um nicht den Anschein zu erwecken, für einen Anstieg des Renteneintrittsalters zu sein und solche Sache. Es ist sehr heftig, dass vorgeschlagen wird, die Anzahl an wöchentlichen Arbeitsstunden zu steigern und dass sogar der Mindestlohn angegriffen wird, den Lula um fast 200 Prozent angehoben hatte. Dies hat im Leben der Bevölkerung eine große Dimension. Wenn du anfängst zu glauben, du kannst dies in einer Ausnahmeregierung vorschlagen, stell dir vor was du machen könntest, wenn du dich in deiner Macht bestätigst. Dies führt zu einer schwierigen Situation, die bislang nicht zu einer Unterrstützung für Dilma geführt hat. Doch in der PT wurde mir gesagt, dass es die Möglichkeit der Rückkehr gibt, die Differenz ist sehr klein, es geht um die Stimmen von sechs Abgeordneten. Klar, jeder Abgeordnete ist eine Welt für sich und Dilma ist nicht einfach. Sie würde schwerlich über den Kauf von Stimmen verhandeln, sie kommt aus der revolutionären Bewegung und hat noch eine gewisse Treue was das angeht, auch wenn sie dabei weiß, dass es notwendig ist, diese Dinge zu tun...

Aber es gefällt ihr nicht.

Es gefällt ihr nicht, das ist der Punkt.

Es macht den Eindruck, als würde Brasilien auf eine historische Bestimmung der Führung verzichten, die das Außenministerium nach dem Brics-Eintritt erfüllt sah.

Seit 200 Jahren wird der Kampf für die Unabhängigkeit Lateinamerikas geführt. Die Vorfahren der Spanier und Portugiesen haben jahrelang darum gekämpft, sich an der Macht zu halten, als Spanien und Portugal lediglich Instrumente Englands waren. Diese Leute denken noch immer, dass ihr Überleben als herrschende Klasse von dieser historischen Allianz abhängt. Und sie glauben, dass die USA über allem stehen und sehen nicht wirklich, wie sie mit dem Potential umgehen können das beispielsweise China mit sich bringt. Und das ist schwerwiegend, denn die Chinesen verhandeln auf kollektive Art und Weise, im Rahmen von großen Projekten und folglich von Staat zu Staat. Die Unternehmer sind wichtig, jedoch als Helfer einer staatlichen Planung. Unsere Bourgeoisie glaubt daran nicht. Diese Leute sind wie die Gegenbewegung zur Unabhängigkeit Lateinamerikas.

Wie sehen Sie die Zukunft der Region? Denn der Erfolg von Mauricio Macri hat mit Sicherheit den Putsch in Brasilien und den Vorstoß gegen Venezuela beschleunigt.

Es scheint, als gebe es für sie eine äußerst günstige Phase. Doch wenn ein effektiver Widerstand entsteht, zweifle ich stark an ihrer Fähigkeit, die Situation zu kontrollieren. Denn all dies basiert auf einer Welt, die durch die Kommunikationsmedien geschaffen wurde, durch eine Negation der Realitäten, durch die Schaffung psychologischer Situationen mit hochspezialisierten Personen, die sehr gut wissen, wie sie diese den Massen vermitteln können.Tatsächlich ist die Idee, die Welt so zu steuern als sei der freie Markt die Quelle des wirtschaftlichen Wachstums und der Entwicklung eine absurde Sache. Es lässt sich kein Wirtschaftssektor finden, der nicht durch staatliches Eingreifen gelenkt wäre und kein Prozess der Bereicherung, der nicht durch den Transfer staatlicher Mittel geschehen würde. Was uns zu der falschen Fragestellung führt, das muss auch die Linke lernen, dass Ausgaben gekürzt werden müssten, um den Mittel an diese Minderheit zu transferieren, die vor allem im Finanzsektor liegt. In Brasilien bezahlen wir 40 Prozent mehr als für alle öffentlichen Ausgaben für Schulden, die explizit durch makroökonomische Ursachen entstanden sind.

Dieses Szenario impliziert, dass es in einem bestimmten Moment große Aufstände geben kann. Könnte dies nicht auch Zustände wie im Mittleren Osten zur Folge haben?

Im schlimmsten Fall, ja, doch ich glaube nicht, dass die Vereinigten Staaten dies wollen, da der Preis sehr hoch ist in einem Moment, in dem sie ihre Truppen zusammenziehen um eine Sache zu machen, die unglaublich klingt und die sie klar benennen: China einkreisen. Im Mittleren Osten waren die Ergebnisse katastrophal. Es könnte sein, dass es die Strategie des kreativen Chaos war. Wenn es so ist, dann haben sie es bereits geschafft.

Das Interview erschien am 1. August 2016 in der unabhängigen argentinischen Wochenzeitung Tiempo Argentino

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