Bolivien / Chile / Uruguay / Honduras

Kommentar: Dreierlei Wahlen

Ein Kommentar zu den Wahlen in Uruguay, Honduras, Bolivien und Chile

Ein Tupamaro wird gewählt

Die Nacht in Montevideo war lang. Immer wieder versuchte Pepe Mujica zu seiner Rede anzusetzen, doch der Jubel der Uruguayer ließ ihn nicht zu Wort kommen. Für dieses Szenario hätte die lateinamerikanische Linke noch vor einigen Jahren nur Spott übrig gehabt - zu viele Gründe sprachen historisch gesehen gegen ein parlamentarisches Engagement. Pepe selber ist gezeichnet von der Geschichte der gewaltsamen Unterdrückung auf dem Subkontinent. Vierzehn Jahre Haft in den Kerkern der Diktatur, elf lange Jahre in Isolation, die engsten Freundinnen und Freunde ermordet, zu Tode gefoltert - viele haben unter diesen Bedingungen ihren Idealen abgeschworen und Freunde verraten. In Uruguay begannen die aus der Haft entlassenen Guerilleros und Guerilleras ein politisches Projekt aufzubauen, das auf eine Beteiligung an der parlamentarischen Macht zielte. Immer wieder trat die Frente Amplio zu den Wahlen an und scheiterte. Aber sie scheiterte von Jahr zu Jahr weniger und lernte von den traditionellen Parteien einen wichtigen Grundsatz, den auch Pepe Mujica beherrscht: Konziliant in der Form und konsequent in der Sache. Dass dem Sozialisten Tabaré Vázquez nun der Guerillero Mujica folgt, macht allerdings auch deutlich, dass ein großer Teil der Uruguayer mehr Bedarf an moralischer Glaubwürdigkeit und Basisnähe hat als an bürgerlichem Politikgeschick.

Zahlen? Fehlanzeige

Auch in Honduras zog sich die Wahlnacht in die Länge. Mitglieder der Widerstandsbewegung versuchten sich vor Polizei und Militär zu verstecken. Nicht allen gelang das. Oppositionelle wurden schwer misshandelt und gefoltert. Doch auch die Repräsentanten des Putsch-Regimes hatten alle Hände voll zu tun. Sie mussten der Weltöffentlichkeit erklären, dass es die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte von Honduras gab, ohne dass sie Schlangen vor den Wahllokalen vorweisen konnten. Die internationale Presse übernahm gefällig die Redewendung, verzichtete aber wohlweislich darauf irgendwelche Zahlen zu nennen. An dieser Farce beteiligte sich nicht mehr der Reuters-Fotograf Herbert Villarreal. Er wurde in San Pedro Sulas, wo die einzige öffentliche Protestaktion zustande kam, von der Polizei schwer verletzt. Auch ein spanischer Kollege kam nicht mehr dazu über die Wahlfarce zu berichten. Er wurde von Zivilpolizisten in seinem Hotel festgenommen und ausgewiesen. Die EU und die USA bereiten sich dennoch darauf vor, eine Regierung anzuerkennen, die in einem Wahlkampf ohne Meinungsfreiheit gekürt wurde. Bei der entsprechenden Abstimmung im Bundestag hatten die Abgeordneten der SPD zu diesen Vorgängen übrigens keine Meinung. Selbst im Wahlkampf hatte SPD-Außenminister Steinmeier darauf verzichtet, die FDP wegen ihrer offensiven Unterstützung für den Putsch zu ermahnen.

Sozialdemokratie überflüssig

Und es gibt eine dritte Variante von Wahlen in Lateinamerika: Concertacíon. In Chile wird sich das von Michelle Bachelet geführte Bündnis aus Sozial- und Christdemokraten im Dezember zur Wahl stellen und voraussichtlich verlieren. Das Modell Concertacíon stellt die Herrschaftsalternative zu Vorgängen wie in Honduras dar. In Venezuela bis 1989 erfolgreich als Punto-Fijismo praktiziert, basiert es auf Absprachen zwischen verschiedenen Fraktionen der politischen Klasse, auf Kooption von Interessensgruppen und Verbänden - bei Beibehaltung neoliberaler Politik. Dieses Modell der Zwei-Parteien-Herrschaft ist auch in Deutschland gut bekannt - Vertreterpolitik und Ausschluss der Bevölkerung von konkreten politischen Entscheidungen. Die Concertacíon-Regierungen profitieren dabei vom Erbe der Militärdiktatur, welche die organisierte Linke gründlich zerschlagen hat. 20 Jahre nach der Abwahl der Diktatur wird die Linke den Prognosen zufolge gerade mal 4 Prozent bekommen, während die Alianza de Derecha mit 40 Prozent gewinnen wird. Die Sozialdemokraten werden das tun, was sie schon immer taten: Die Regierungsgeschäfte sang- und klanglos der Rechten übergeben, nachdem sie die Chance für einen Neuanfang gründlich verpfuscht haben.

In Lateinamerika lässt sich damit eine Entwicklung beobachten, die sich auch in Europa abzeichnet: In einer post-neoliberalen Transformation scheint von keiner Seite mehr Bedarf am sozialdemokratischen Mitgestaltungsmodell zu bestehen. Niemand ist auf Politiker angewiesen, denen weder der Schlips noch die Arbeitshandschuhe gut stehen. Das wird sich auch am kommenden Wochenende in Bolivien bestätigen. Evo Morales, Koka-Gewerkschafter und Schlipsverächter wird allen Prognosen nach seine bisherigen Wahlergebnisse übertreffen. Das Rezept: Unbestechlichkeit und engster Kontakt zu den sozialen Bewegungen - mit einem Schuss Konzilianz in der Form.