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Brasilien 60 Jahre nach dem Putsch: Verweigerte Auseinandersetzung

Brasilien stellt sich nicht seiner Erinnerung und öffnet Raum für rechte Vereinnahmung, sagt die Historikerin und Aktivistin Carla Teixeir

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Demonstration am 23. März in Curitiba im Rahmen der landesweiten Mobilisierung #DitaduraNuncaMais
Demonstration am 23. März in Curitiba im Rahmen der landesweiten Mobilisierung #DitaduraNuncaMais

Die 60 Jahre zivil-militärischer Putsch in Brasilien am 1. April treffen auf einen "heiklen historischen Moment", so die Historikerin Carla Teixeira. Brasilien stellt sich nicht seiner Erinnerung und öffnet Raum für rechte Vereinnahmung, sagt die Aktivistin.

"Durch Verbot von Veranstaltungen zur Erinnerung an den Putsch bekräftigt die Regierung ihre politische Tradition, Konflikte zu verbergen", erklärt sie.

Während Präsident Luiz Inácio Lula da Silva Interviews gibt, in denen er sagt, er wolle "nicht in der Vergangenheit wühlen" und er die Wiedereinsetzung der Sonderkommission für die Toten und Verschwundenen (die unter der Regierung von Jair Bolsonaro gestrichen wurde) in der Schublade behält, werden Vier-Sterne-Generäle bei der Bundespolizei vorgeladen, um über die Putschaktivitäten vom 8. Januar 2023 auszusagen.

Parallel dazu hatte das Ministerium für Menschenrechte eine Veranstaltung "Ohne Erinnerung gibt es keine Zukunft" geplant. Mit ironischer Vorahnung schien der Titel vor den Konsequenzen zu warnen, die ein Verbot der Aktion bedeuten könne. In der Tat wurde der Akt von Präsident Lula mit einem Veto belegt, ebenso wie jede andere öffentliche Veranstaltung zur Erinnerung an die Diktatur.

Im Senat bekamen Abgeordnete Besuch von Verteidigungsminister José Múcio, der versucht, Vereinbarungen zum Thema "Militärs in der Politik" (Proposta de Emenda à Constituição dos Militares, PEC) voranzubringen. Der Vorschlag der Bundesregierung für eine Verfassungsänderung, für dessen Annahme drei Fünftel der Stimmen nötig sind, legt Regeln fest für den Eintritt von Militärs in die institutionelle Politik.

Der Text, über den noch verhandelt wird, soll verhindern, dass Angehörige der Streitkräfte nach einer politischen Kandidatur in ihre militärische Laufbahn zurückkehren und soll regeln, wie sie weiter zu besolden sind.

"Dieser PEC wird allerdings keine geringere Beteiligung des Militärs an der Politik zur Folge haben, denn dies wird viel subtiler gehandhabt", sagt Teixeira, die an der Bundesuniversität Minas Gerais in Geschichte promoviert. "Sie haben Waffen. Womit sie gegenüber der Zivilbevölkerung und ihren politischen Anführern in einer weit überlegenen Position sind", betont sie.

"Deshalb konnten sie putschen, deshalb blieben sie 21 Jahre lang an der Macht, deshalb haben sie den demokratischen Übergang unter Kontrolle behalten und ihre Privilegien in die Neue Republik gerettet. Deshalb gab es 2014, als die Nationale Wahrheitskommission einige der Verbrechen der Militärdiktatur aufdeckte, soviel Geschrei. Und deswegen unterstützten die Militärs den Putsch gegen Präsidentin Dilma Rousseff und die Einkerkerung von Lula. Und sie zögerten nicht, der Regierung von Jair Bolsonaro beizutreten", ergänzt Teixeira.

"Was wir brauchen sind tiefergehende demokratische Werte, damit das Militär sich den Interessen der Zivilgesellschaft unterordnet", meint Teixeira, Mitautorin des Buches 'Illegal und ohne Moral: Autoritarismus, politische Einmischung und Korruption des Militärs in der brasilianischen Geschichte'.

Die Regierung Lula und das Militär

Symptomatisch für den Widerstand des Militärs gegen die dritte Regierung Lula von Beginn an war die Weigerung des ehemaligen Marinekommandanten Almir Garnier Santos, an der Amtseinführung seines Nachfolgers teilzunehmen, um dem neuen Präsidenten keine Loyalität zu erweisen. Später war Santos einer derjenigen, die von der Bundespolizei wegen Beteiligung am Putschversuch des 8. Januar gesucht wurden.

"Wir erleben eine Situation, in der die Regierung Lula sich gleich zu Beginn mit den Streitkräften verständigen musste", analysiert Teixeira, für die das Militär derzeit dabei ist, "seine führende Rolle zurückzugewinnen, die es in den 1980er Jahren verloren hatte, als es die Macht aus den Händen gab".

"Während die Regierung Lula sich um Ausgleich bemüht", so die Historikerin, "ist es die Justiz, die eine verantwortliche Position einnimmt". Nach Ansicht der Historikerin "irrt die Regierung und ist mutlos". Die Aktionen vom 8. Januar sind exakt "die Rückkehr derjenigen, die nie gegangen waren".

"Weil sie für die Verbrechen während der Diktatur nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, sind solche Aktionen möglich", urteilt sie.

Für Teixeira ist Lulas Position "aus politischer Sicht miserabel, aus historischer Sicht noch viel schlechter und für die Schaffung eines Gedächtnisses zur Festigung der Demokratie ist sie absolut kontraproduktiv. Diese Position wiederholt unsere Tradition der Versöhnung und des Entgegenkommens, immer mit dem Ziel, Konflikte zu verbergen, um eine zutiefst ungerechte Sozialstruktur nicht in Frage zu stellen".

Débora Silva ist Gründerin der Bewegung "Die Mütter des Mai" [Mães de Maio]. Eine Bewegung, die entstanden war als Reaktion auf die Maiverbrechen, als die Polizei 2006 innerhalb von nur elf Tagen mindestens 429 Menschen tötete. Für sie, die gegen staatliche Gewalt auch in Zeiten der Demokratie kämpft, "reicht es nicht, über Vergangenes nachzugrübeln: Wir müssen begreifen, dass die Vergangenheit zur Gegenwart gehört. Das ist der Unterschied, ein Land ohne Gedächtnis bewegt sich Schritt für Schritt rückwärts".

Mit Blick auf die tödliche Operation "Schild und Sommer" [Escudo e Verão], die von der Regierung Tarcísio de Freitas, dem Governeur des Bundesstaates São Paulo seit Juli 2023 in der Küstenregion São Paulos durchgeführt wird und deren Ende nicht absehbar ist, weist Silva darauf hin, dass "die Polizei in den Randgebieten von São Paulo täglich AI-5 praktiziert". Ato institutional 5, die Gesetzgebung der Diktatur.

Teixeira, die auch Lehrbeauftragte für die Geschichte der brasilianischen Republik an der Bundesuniversität Uberlândia (UFU) ist, betont: "Von Beginn an war es die Aufgabe der Streitkräfte und der staatlichen Sicherheitsdienste, die Ordnung und den Erhalt des Privateigentums zu sichern".

"Und sie tun das nach wie vor. Wer glaubt, dass sie dazu dienen, die Interessen der brasilianischen Bevölkerung zu schützen, irrt sich. Tatsächlich dienen die Streitkräfte den Interessen des Großkapitals, des Großgrundbesitzes und den Interessen des Militärs selbst", fasst sie zusammen.

Die geringe Bedeutung, die das Thema in Brasilien hat

Im September 2023 erklärte der damalige Justizminister Flávio Dino, dass die Regierung ein Museum der Erinnerung und der Menschenrechte einrichten werde. Die Ankündigung erfolgte in Chile während der dortigen Veranstaltungen und Demonstrationen zum 50. Jahrestag des Militärputsches gegen die linke Regierung von Präsident Salvador Allende.

Monate später, mit vergleichbaren brasilianischen Erinnerungen 60 Jahre und angesichts einer lauen öffentlichen Debatte verbunden mit institutionellem Veto wurde das Museumsprojekt begraben.

Thiago Mendonça, einer der Organisatoren von "Cordão da Mentira" (Kette der Lügen) - einer Gruppe, die jedes Jahr am 1. April in São Paulo auf die Straße geht, um die staatliche Gewalt in diktatorischen und demokratischen Zeiten anzuprangern - versucht zu erläutern, warum die Debatte über die Diktatur in Brasilien im Vergleich zu Ländern wie Chile und Argentinien so wenig Resonanz findet.

"Einerseits denke ich, dass wir diesen Kampf symbolisch verloren haben, weil wir unfähig waren zu erklären, wie unheilvoll die Diktatur war. Was daran lag, dass wir die Verbrechen gegen die arme, nicht privilegierte Zivilbevölkerung zu wenig betont haben. Die Menschen in den Randbezirken sterben ohnehin ständig durch die Hand der Todesschwadrone, also die gleichen Gewalttäter, die in São Paulo als 'politische Polizei' foltern. Wir waren nicht in der Lage, diesen Zusammenhang deutlich zu machen", reflektiert Mendonça.

"Hinzu kommt, dass uns von der Linken in der Regierung geraten wird, die eigene Erinnerung beiseite zu lassen - während die Rechte sich diese Erinnerung als etwas Positives aneignet", so Mendonça.

Seiner Ansicht nach handelt es sich um einen symbolischen Streit, aus dem Brasilien sich seit den 1980-er Jahren zurückgezogen hat. "Das gilt für die Kunst, für die akademische Diskussion, aber vor allem gilt es für den Kampf innerhalb der sozialen Bewegungen, der Basisbewegungen".

"Wir selber haben das nicht in den Mittelpunkt gestellt. Der Preis, den wir dafür bezahlen, ist, dass diese Erinnerung ausgelöscht und nun von der Ultrarechten vereinnahmt wird. Das ist das Loch, in das wir hineinfallen", sagt Mendonça, und betont die Dringlichkeit, "diese kollektive Erinnerung sowohl für das Land als auch für die sozialen Bewegungen wiederzuerlangen".