Bolivien

Interview mit Evo Morales zum Thema Kapitalismus und Klimaschulden

Warum er ein Klimatribunal anstrebt und viele Themen mehr

Kopenhagen. Amy Goodman: Der Klima-Countdown läuft. Hier ist Democracy Now! www.democracynow.org Mein Name ist Amy Goodman. Wir berichten aus dem Bella-Center in Kopenhagen.

Noch ein Tag, dann wird der UNO-Klimagipfel zu Ende gehen. Der Gipfel wird als das größte Treffen zum Klimawandel in der Geschichte bezeichnet. Stehen die Gespräche - neun Tage nach dem Gipfelauftakt - kurz vor dem Kollaps?

Der Streit über Schlüsselthemen - einschließlich der Themen Treibhausgasemissionen und Klimaschulden - zwischen den reichen Ländern und den armen, zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden, bleibt ungelöst. Regierungschefs der Welt, aus über 110 Ländern, treffen nach und nach auf dem Gipfel ein. Während wir hier sprechen, halten sie ihre Reden vor dem Hauptgremium. Zum Thema Zivilgesellschaft: Das Einzige, was mir noch schlimmer erscheint als endlose Warteschlangen Tausender, die in das Bella-Center hinein wollen, ist das Fehlen eben dieser Warteschlangen - denn die Zivilgesellschaft blieb weitgehend ausgeschlossen.

Kurz bevor wir heute auf Sendung gingen, führte ich das folgende Interview mit Evo Morales. Er ist der erste indigene Präsident des Landes und wurde Anfang Dezember - in einem Erdrutschsieg - wiedergewählt.

Am Mittwoch rief Evo Morales die WeltführerInnen dazu auf, den (globalen) Temperaturanstieg in den nächsten hundert Jahren auf 1 Grad Celsius zu begrenzen. Dieser Vorschlag ist bis jetzt die ehrgeizigste Forderung eines Staatschefs auf dem Gipfel. Außerdem rief Morales die USA und andere reiche Nationen dazu auf, eine Ökosteuer an Bolivien und andere Entwicklungsländer zu zahlen.


Amy Goodman: Präsident Morales, willkommen bei Democracy Now!

Evo Morales (übersetzt): Vielen Dank für die Einladung.

Gestern haben Sie hier, im Bella-Center, eine Rede gehalten. Sie sagten, wir könnten die globale Erwärmung nicht stoppen, ohne den Kapitalismus zu beenden. Was meinten Sie damit?

Der Kapitalismus ist der größte Feind der Menschheit. Der Kapitalismus - ich spreche hier von einer irrationalen Entwicklung, einer Politik der unbegrenzten Industrialisierung - zerstört die Umwelt. Diese irrationale Industrialisierung ist Kapitalismus. Und solange wir diese Politik nicht überdenken und überarbeiten, wird es unmöglich sein, der Menschheit und dem Leben zu helfen.

Wie würden Sie vorgehen? Wie würden Sie den Kapitalismus beenden?

Durch eine Veränderung der Wirtschaftspoltik und durch ein Ende der Konsumhaltung und des Luxus; den Kampf... die Suche nach einem besseren Leben beenden. "Besser leben" heißt doch, andere Menschen auszubeuten. Es heißt, die natürlichen Resourcen zu plündern. Es bedeutet Egoismus und Individualismus. Aus diesem Grunde fehlt jenen Versprechungen des Kapitalismus auch das Element der Solidarität und der Wechselseitigkeit; die Reziprozität fehlt. Daher versuchen wir - wir denken über eine andere Lebensweise nach. Es geht darum, gut zu leben - nicht um besserleben. Es geht nicht um ein besseres Leben, denn das heißt immer, auf Kosten anderer. Ein besseres Leben geht auf Kosten der Umwelt, die dabei zerstört wird.

Präsident Morales, wozu rufen Sie - hier, auf dem UNO-Klimagipfel - auf?

... zur Verteidigung von Mutter Erde. Die Erde ist unser Leben. Die Natur ist unsere Heimat, unser Haus. Die UNO hat fröhlich den Mother Earth Day ausgerufen. Doch wenn man die Erde als Mutter akzeptiert, kann man sie nicht verkaufen. Sie ist etwas, das nicht - nicht vergewaltigt werden darf; sie ist heilig. Das gilt für die Natür, für den Planeten Erde. Aus diesem Grunde bin ich gekommen - um die Rechte von Mutter Erde und das Recht auf Leben zu verteidigen und um die Menschheit zu verteidigen und Mutter Erde zu retten.

Was ist mit 'Klimaschulden' gemeint, Präsident Morales?

Nach der Zerstörung, die Mutter Erde zugefügt wurde, ist es wichtig, ihre Rechte wieder anzuerkennen. Und der beste Weg, sie anzuerkennen, ist die Zahlung einer Klimaschuldsteuer. Zweitens ist es wichtig, die Schäden, die angerichtet wurden, anzuerkennen und den Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind beizustehen - Menschen, die ihre Heimatinseln verlieren werden und anderen, die zum Beispiel kein Wasser mehr haben werden.

Die US-Außenministerin Hillary Clinton sagte heute: "Wir können nicht zurückblicken; wir müssen nach vorne schauen".

Nach vorne schauen heißt, sich all das vor Augen zu führen, was der Kapitalismus angerichtet hat. Diese Dinge sind nicht allein mit Geld zu lösen. Wir haben Probleme zu lösen, bei denen es um Leben und um die Menschheit geht. Das ist das Problem, mit dem der Planet Erde heute konfrontiert ist. Außerdem bedeutet es, Schluss zu machen mit dem Kapitalismus.

Die US-Außenministerin Hillary Clinton versprach heute außerdem $100 Milliarden, falls ein Abkommen zustande komme. Diese Summe pro Jahr würde allerdings nicht von Amerika allein aufgebracht. Vielmehr soll es ein Private-Public-Partnership-Arrangement - unter Beteiligung mehrerer Staaten aus der ganzen Welt - geben, aber (wie gesagt) nur, wenn ein Abkommen erzielt wird. Sie wollte nicht sagen, wieviel die USA beisteuern würden. Was sagen Sie übrigens zu den Ausgaben der USA gegen die globale Erwärmung - im Gegensatz... nun, gestern sagten Sie etwas zum Thema Krieg.

Das Beste wäre, alle Kriegsausgaben umzuwidmen und dem Thema Klimawandel zugute kommen zu lassen - anstatt Truppen in den Irak zu schicken, nach Afghanistan oder in Militärbasen in Lateinamerika. Das Geld sollte besser benutzt werden, um die von den USA angerichteten Schäden zu beheben. Und natürlich reichen $100 Milliarden nicht aus. Wahrscheinlich wird es um viele Billionen Dollars gehen. Wie können wir nur Geld ausgeben, um zu töten anstatt zur Rettung von Menschenleben? Nein, wir müssen Geld ausgeben, um Leben zu retten, nicht um zu töten. So lauten unsere Differenzen mit dem Kapitalismus.

Sie haben den Krieg in Afghanistan als terroristisch bezeichnet. Bezeichnen Sie Präsident Obama als Terroristen?

Wenn Leute ihre Truppen losschicken, um im Ausland zu töten, ist das Terrorismus. Es gibt nicht nur zivile Terroristen - Terroristen, die sich als Zivilisten verkleiden. Sie können auch Militäruniformen tragen. Noch übler ist es, wenn sie mit dem Geld der Völker finanziert werden, mit Steuergeldern. Natürlich hat jedes Land das Recht auf Selbstverteidigung; ebenso, wie sich jedes Land verteidigen kann, aber mit Uniformierten in ein fremdes Land einzumarschieren ist Staatsterrorismus.

Folgendes kommt noch hinzu: Die Errichtung von Militärbasen in Lateinamerika, mit dem Ziel der politischen Kontrolle (und ihre Militärbasen hier sind imperial), hat nichts mit Respekt vor der Demokratie zu tun. Es gibt keinen Frieden, keinen sozialen Frieden. Für solche Länder gibt es keine Entwicklung, und für solche Regionen keine Integration. Das haben wir in Südamerika, in Lateinamerika, er-lebt.

Wie lautet Ihre Botschaft an Präsident Obama - bei den Klimagesprächen?

Nachdem ich seine Rede auf dem Amerikagipfel der Regierungschefs der amerikanischen Regionen (Americas) gehört habe, waren wir voller Hoffnung, dass er zu einem Verbündeten gegen die Armut werden könnte. Mittlerweile bin ich nicht mehr so hoffnungsfroh. Wir sind eher enttäuscht. Wenn sich in den USA etwas verändert hat, dann die Hautfarbe des Präsidenten.

In administrativen Resolutionen wurde mir vorgeworfen, Gewerkschaften zu verbieten bzw. Gewerkschaften zu eliminieren. Dabei tue ich genau das Gegenteil (Übersetzer: "Ich entschuldige mich"). In dem Bericht, der erstellt wurde, um - im Rahmen des ATPDEA-Programmes - Handelspräferenzen zu erzeugen, wird der Vorwurf erhoben, die Regierung Boliviens beteilige sich an der Unterdrückung von Gewerkschaften. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Die Regierung ist aktiv bemüht und zwar sehr bemüht, die Gewerkschaften zu unterstützen und ihnen infrastrukturell zu helfen, zum Beispiel, indem wir die Zentren verbessern, in denen sich Gewerkschaften treffen usw..

Selbst Präsident Bush unterließ damals Bemerkungen über die neuen Klauseln unserer Bolivianischen Verfassung. Doch unter der neuen amerikanischen Regierung werden Kommentare und Bemerkungen laut über die frisch entworfene Bolivianische Verfassung - vor allem, was die Verwaltung des Öl- und des Ergas-Sektors betrifft. Das ist eine klare Einmischung in die inneren Angelegenheiten Boliviens durch die Regierung Obama. Vielleicht wird es damit enden, dass sie uns auffordern, unsere Verfassung zu ändern. So etwas hat nicht einmal Bush getan. Betrachten wir nur diese eine Sache, und Obama scheint schon heute schlechter dazustehen als Bush. Die Dokumente liegen vor.

Sie müssen jetzt gehen, ich weiß. Hier meine letzte Frage: Sie haben ein Klimatribunal gefordert. Was meinen Sie damit?

Jene, die dem Planeten Erde schaden, jene, die zerstören, gehören verurteilt. Auch jene, die die Bedingungen des Kyoto-Protokolls nicht erfüllen, gehören verurteilt. Dazu müssen wir bei den Vereinten Nationen ein Tribunal für Klimagerechtigkeit organisieren.

Was bedeutet "1 Grad Celsius" (mehr)?

So lautet unser Vorschlag.

Glauben Sie, er ist realisierbar?

Ja. Wenn nicht, wird es an einem mangelndem Engagement für die Menschheit liegen.

Glauben Sie, dass in Kopenhagen ein Deal herauskommen wird?

Ich bezweifle es. Wir entwickeln andere Vorschläge für eine Einmischung meinerseits.

Halten Sie es für eine Katastrophe, dass kein Deal herauskommt?

Nein, Zeitverschwendung. Und wenn die Regierungschefs dieser Staaten zu keinem Abkommen finden können, warum verbünden sich nicht die Völker und entscheiden gemeinsam?

Belassen wir es an dieser Stelle dabei. Vielen, vielen Dank, Präsident Morales.


Übersetzt von: Andrea Noll

Beitrag auf ZNet

Orginalbeitrag Video bei Democracy Now!