Urbanisierung schafft Ungleichheit in Lateinamerika

Lateinamerika hat das stärkste Städtewachstum und die höchste Ungleichheit der Welt. UN-Organisation untersucht potentiellen Zusammenhang

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Favela in Rio de Janeiro, Brasilien
Favela in Rio de Janeiro, Brasilien

Rio de Janeiro. Lateinamerika ist die am stärksten urbanisierte Region der Welt und leidet zugleich unter der weltweit extremsten sozialen Ungleichheit. Dies ergab eine unlängst veröffentlichte Studie der UNO-Organisation für menschliche Siedlungen (UN-HABITAT).

Die Autoren untersuchten dabei die Auswirkung von Urbanisierung auf Gesellschaften und die Entwicklung sozial und ökologisch nachhaltiger Siedlungskonzepte. Dem Bericht zufolge hat der rasante Urbanisierungsprozess in Lateinamerika einem Großteil der Bevölkerung Arbeit und tendenziell bessere Lebensbedingungen gebracht. Die sozialen und ökonomischen Konsequenzen der Urbanisierung und die Auswirkungen auf die Umwelt seien aber gravierend.

Heutzutage lebe um die 80 Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung in Städten. Das sei mehr als in allen anderen Ländern der Welt, inklusive der Industrienationen. Der Massenexodus vom Land in die Stadt zwischen 1980 und 1990 sei mittlerweile zurückgegangen. Die Städte weiteten sich dennoch kontinuierlich und unkontrolliert aus. Der informelle Siedlungsbau armer Bevölkerungsschichten habe dazu geführt, dass Millionen Menschen in der Region in den als Slums, Favelas oder Barriadas bezeichneten Armenvierteln lebten. Nach Einschätzung der UNO-Organisation wird sich diese Situation in den kommenden Jahren noch verschärfen. Die UN-HABITAT fordert daher eine neue, nachhaltige Siedlungspolitik.

Die Städte Lateinamerikas seien der Wirtschaftsmotor der Region. Mehr als zwei Drittel des Reichtums der gesamten Region werde in den Städten generiert. Entgegen der landläufigen Auffassung, Migrationsströme beträfen hauptsächlich die Megastädte, sei der Migrationsdruck auf kleinere Städte erheblich größer. Über die Hälfte der Stadtbevölkerung lebe in Städten mit weniger als einer Million Einwohner.

Trotz des ökonomischen Vorteils der urbanen Zentren sei hier aber die Ungleichheit am deutlichsten. Schätzungen zufolge leben von 468 Millionen Stadtbewohnern, 111 Millionen in sogenannten Armenvierteln.

Ungleichheit in Lateinamerika bezeichnet die extrem ungleiche Verteilung von Einkommen und den ungleichen Zugang zu Gütern, Bildung, Gesundheit und Beschäftigungsmöglichkeiten verschiedener Gesellschaftsgruppen. Die Ungleichheit erfolgt meistens als eine geschlechterspezifische oder ethnische Benachteiligung.

Auch eine Studie des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) nennt als Grund für die extreme Ungleichheit in Lateinamerika und der Karibik vor allem die städteräumliche Entwicklung der urbanen Zentren. Als Folge dieser Entwicklung zeige sich einerseits die Entstehung von isolierten, privatisierten Wohnvierteln, den sogenannten gated communities, andererseits entstehen Slums. Konsequenz dieser sozialräumlichen Segregation sei vor allem ein hohes Gewaltniveau. Besonders negativ betroffen seien Frauen und Kinder.

Der Regionaldirektor des UN-HABITAT, Alain Grimard, sieht jedoch keine direkte Verbindung zwischen Urbanisierung und Ungleichheit. Was die Ungleichheit in urbanen Zentren aber besonders begünstigt habe, sei das ungleiche Wachstum von Bevölkerung und Raum. Die räumliche Ausweitung habe schneller stattgefunden als das Bevölkerungswachstum und somit zu einer Verminderung der Bevölkerungsdichte beigetragen. Dies wiederum habe zur Folge, dass Kosten für Infrastruktur und öffentliche Dienstleistungen stiegen und vor allem die ärmeren Gesellschaftsschichten hierunter zu leiden hätten, sagt Grimard.

Eine mögliche Lösung des Problems sei eine Erweiterung des vertikalen Siedlungsmodells, so Grimard. Die Bevölkerungsdichte in den Städten könne so wieder aufgebaut werden. Weiterhin empfiehlt die Studie städtebauliche Reformen, um gezielt gegen Armut vorgehen zu können. Diese müssten über konkrete Armutsbekämpfung erfolgen. Nationale Regierungen und regionale Behörden seien hierbei gleichermaßen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Durchsetzung einer nachhaltigen Baupolitik verantwortlich.

Deutlich negativ belastet habe der rasche Urbanisierungsprozess vor allem die Umwelt. Der willkürliche Straßenbau und die deutliche Zuname an Privatfahrzeugen spielten hierbei eine wesentliche Rolle. Auch wenn im Vergleich mit anderen Regionen in Lateinamerika die Anzahl an Fahrradfahrern und Nutzern der öffentlichen Verkehrsmittel relativ hoch sei, müsse diese Zahl steigen, um die Umweltschäden zu reduzieren, so Grimard.

Einige positive Beispiele für den Innovationsgeist der Region und das Engagement einzelner Kommunen in einer progressiven, nachhaltigen Stadtentwicklung seien die Einführung des Bürgerhaushalts in Porto Alegre oder das Schnellbussystem in Bogotá. Laut der Studie des BMZ haben diese Initiativen die Kommunen zu Referenzstädten der Region gemacht.

Das UN-HABITAT beabsichtige, in Zukunft eng mit den Regierungen der lateinamerikanischen Staaten zusammenzuarbeiten, um eine Umsetzung der in der Studie enthaltenen Verbesserungsvorschläge zu ermöglichen, so Grimard. Trotz des relativ kleinen Budgets der Organisation halte man an dem Ziel fest, alle drei Jahre einen Folgebericht vorzustellen.