Ein Ereignis wie der jüngste Streik in Bolivien zeigt, wie wacklig das Fundament der Neugründung Boliviens ist und macht gleichzeitig die Notwendigkeit deutlich, dem derzeit immer noch sehr nebulösen Projekt der Regierung von Evo Morales eine klare Orientierung zu geben. Vizepräsident Alvaro García Linera beschrieb kurz nach dem ersten Wahlsieg 2005 das wirtschaftspolitische Ziel der Regierung als "andin-amazonischen Kapitalismus". Damit wollte man ein Zeichen gegen den Neoliberalismus setzen, dies aber durchaus mit Elementen des Kapitalismus. Gemeindewirtschaft, Kooperativwirtschaft, Staatswirtschaft und Privatwirtschaft stehen so in der neuen Verfassung nebeneinander.
Mit den Erlösen aus den Staatsunternehmen, insbesondere den Einnahmen aus den fossilen Rohstoffen, soll die Gemeindewirtschaft und damit die indigene Produktion unterstützt werden. Das Modell des Nebeneinanders läuft allerdings Gefahr, dass das Bestehende bestehen bleibt. Eine produktive Vereinigung der progressiven solidarischen Momente in Boliviens Wirtschaft findet so nicht statt, diese können so nicht die unsolidarische, kapitalistische Dominanz der Wirtschaft in den Hintergrund drängen. Dass der Kapitalismus in Bolivien nach wie vor intakt ist, hat sich insbesondere auch wieder im Streik gezeigt, der sich zum Teil gegen die Regierung und die von ihr kontrollierten Staatsunternehmen wandte. Dabei hat Federico Fuentes vom australischen Magazin "Green Left Weekly" recht, wenn er darauf verweist, dass es sich bei dem Streik keineswegs um eine landesweite Aktion, sondern nur um eine der privilegierten Arbeiter und zum Teil oppositionellen Staatsbediensteten gehandelt hat. Auch ist klar, dass eine Lohnerhöhung, die die Arbeiter erkämpfen wollten, nur auf Kosten der immer noch unterprivilegierten indigenen Bauern auf dem Land funktionieren würde.
Fuentes richtet seine Kritik zu Recht gegen die Linke weltweit, die sich ohne auf die konkreten Verhältnisse zu schauen, sofort mit der Arbeiterbewegung solidarisiert. Sicher, dafür gibt es gute Gründe. Auch ein revolutionärer Staat kann den Arbeitern Verhältnisse zumuten, die in Bezug auf das Ziel des revolutionären Prozesses in die falsche Richtung weisen. Da aber eine Bewegung in ihrer Organisation sich bereits an der neuen, noch zu schaffenden Gesellschaft auszurichten hat, ist die Unterdrückung der Arbeiter keine Option. Um die Abwehr einer solchen ging es den Arbeitern in Bolivien aber nicht. Sie wollten höhere Löhne. Ein Lohnkampf, der im Sinne des Antagonismus von Kapital und Arbeit geführt wird, verfestigt aber nur die Positionen und reproduziert letztlich die kapitalistischen Verhältnisse. Es kommt aber darauf an, diese fundamental in Frage zu stellen. Hier müsste auch Fuentes weiter denken, denn es reicht nicht nur auf die geringe Resonanz des Streiks oder auch den Einfluss von Außen zu verweisen. Eine Politik die nach vorne gerichtet ist, muss eine Alternative aufzeigen.
Wie aber sähe eine solche aus? Da die Organisation des revolutionären Prozesses sich an dem Ziel ausrichten muss, müsste eine revolutionäre Gewerkschaft das ihre tun, diesen Prozess zu bestärken. Die Arbeiter müssten nicht in erster Linie für Lohnerhöhungen im kapitalistischen Rahmen streiken, sondern für Arbeiterkontrolle über die Produktionsmittel - sowohl in staatlichen als auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen. Der Lohnstreik könnte ein Mittel dafür sein, aber nicht ausschließlich. Die angestrebte Arbeiterkontrolle müsste dabei immer an den Prozess rückgebunden bleiben, damit nicht wiederum die eigenen Interessen der Arbeiter - die sich in Eigenkontrolle nun höhere Löhne zahlen könnten - sondern die des ganzen revolutionären Prozesses zum Tragen kämen. Ein solcher Produktionskampf der Arbeiter unterstützte produktiv die Neugründung, gäbe ihr das fehlende Fundament im Bereich der Produktion und würde über den Kapitalismus hinaus weisen. Auch ein solcher Kampf würde den Präsidenten herausfordern, aber produktiv. Sowohl die bolivianischen Arbeiter als auch ihre Unterstützer verlieren das Ziel aus den Augen, wenn sie ihren Schwerpunkt reaktiv auf die Handlungen der Regierung ausrichten. Die revolutionäre Tat ist immer aktiv, sie erfordert die Aktion der Revolutionäre. Auch für die Neugründung Boliviens.
Helge Buttkereit ist freier Journalist, Publizist und Autor des Buches "Utopische Realpolitik. Die Neue Linke in Lateinamerika" (Pahl-Rugenstein, 2010).