Bolivien

Indigene Justiz sorgt für Zündstoff

Boliviens Rechtsreform verbietet de jure Lynchjustiz, de facto bleibt sie ein Problem

Ob Aymara, Quechua, Guaraní oder Mosetén - mit Annahme der neuen Verfassung 2009 wurde für Boliviens indigene Bevölkerung ein Traum zur Realität. Nach langem politischem Kampf um die "Dekolonisierung der Justiz" ist indigene Rechtsprechung endlich verfassungsrechtlich garantiert - und sorgt für Konfliktstoff.

Die jüngste Nachricht vom Lynchmord an vier Polizisten hat die alte Diskussion um die indigene Rechtsprechung neu entfacht. Aufgebrachte Bewohner mehrerer Ayllus (Aymara-Gebiete) der Gemeinde Uncía nahe der Hochland-Bergbaustadt Potosí hatten die Ermittlungsbeamten zunächst festgesetzt und wenig später erhängt. Polizeiquellen sprachen von einem "Racheakt", die Kollegen seien wegen der Entdeckung illegaler Kokainfabriken wenige Tage zuvor ermordet worden. Die Aymara-Indigenen hingegen gaben an, sie hätten die Uniformierten für "verkleidete Autodiebe" gehalten, in Bolivien eine gängige Masche.

Wiederholt waren in den letzten Wochen Gemeindemitglieder von einer kriminellen Bande ihrer Autos beraubt worden. Nachdem ein 22-jähriger Taxifahrer ums Leben gekommen war, sei "das Fass übergelaufen", so ein Dorfbewohner. Die betroffenen Gemeinden Llallagua, Uncía, Siglo XX, Catavi, Chayanta sowie einige Ayllus hätten insgesamt 15 Autodiebe in Abwesenheit zum Tode "verurteilt". Dabei hätten sie sich auf die "kommunitäre Justiz" berufen. Während der Verbleib der vier Toten weiter unbekannt bleibt, gilt in und um Uncía das "Gesetz des Schweigens". Man deckt sich gegenseitig, kein Dorfbewohner wird mit den Behörden zusammenarbeiten.

Gleich, ob es sich in Uncía um fatale Verwechslung oder Revanche handelt - mit dem Tod der Polizisten ist der Streit über eine hoch politische Frage neu entbrannt: Fördert oder gar legitimiert die neue indigene Rechtsprechung das Lynchen von Dieben und Kriminellen? Hat die neue Verfassung zur "Neugründung Boliviens" - das politische Vorzeigeprojekt des regierenden Linksbündnisses "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) - die Lage der Menschenrechte verschlechtert? Oder interpretiert die Bevölkerung die Regelungen zur indigenen Rechtsprechung schlicht falsch und betrachtet Lynchjustiz als legitimes Mittel der Notwehr gegen die allgegenwärtige Kriminalität?

Weder der politische Gegner der MAS noch die in ihrer Mehrzahl oppositionellen Medien tragen zur Beantwortung dieser Fragen bei. Die Konservative wittert beim Thema seit Langem eine günstige Gelegenheit, dem von Wahlsieg zu Wahlsieg eilenden Präsidenten Evo Morales eins auszuwischen. Das traditionelle, menschenunwürdige Phänomen der Lynchjustiz bauschen sie bewusst auf. Schon im Verfassungsprozess (2006-2009) wurde die Einführung indigener Rechtsprechung allenorten hysterisch verteufelt. Es drohe ein "Königreich des indigenen Faschismus" und der "Rückfall ins Mittelalter". Der MAS wolle das Rad der Zeit "500 Jahre zurückdrehen". Der "blutrünstigen" MAS-Klientel erteilten Morales & Co einen Freibrief zur Auslebung ihrer niederen Instinkte, so der O-Ton der rassistischen Kampagne.

La Paz wird derweil nicht müde, die Unrechtmäßigkeit der Lynchjustiz hervorzuheben. Die "illegalen Tötungen" hätten rein gar "nichts zu tun mit kommunitärer Justiz. Sie ist ein Akt der Menge, die eine schuldige oder nicht schuldige Person erhängt, schlägt und umbringt", pocht Roberto Quiroz vom Ministerium für Bürgerrechte auf klare Abgrenzung. Und sucht nach Gründen für Lynchmorde. "Die Menschen vertrauen dem Staat nicht mehr, weil er in Justiz und Polizei versagt hat. Weil sie keine Zeit und kein Geld verlieren wollen, nehmen sie die "Gerechtigkeit" in die eigenen Hände. Das ist auf keinen Fall legal, dadurch begehen sie Mord oder Tötung in der Gruppe", weiß Quiroz.

In fast ganz Lateinamerika bietet sich ein ähnliches Bild. Chronische Korruption, magere Gehälter und miserable Ausbildung unterhöhlen Rechtsstaat und Polizei. Armut und wachsende Kriminalität gefährden die Sicherheit aller Bevölkerungsschichten. Auch in Bolivien ist es kein neues Phänomen, dass Opfer von Kriminalität, die sich keine privaten Wachdienste leisten können, zum Selbstschutz greifen. Ceclia Ayllón, Präsidentin der Kommission für Plurale Justiz, beschreibt Lynchjustiz als "Erbe des neoliberalen Staates, das die aktuelle Regierung jetzt zu ändern sucht". Allerdings bestünde "bei einigen Dorfbewohnern Verwirrung". Im "falschen Glauben, kommunitäre Justiz anzuwenden, begehen sie Straftaten", stellt auch Ayllón klar.

Allen Uninformierten würde ein kurzer Blick ins neue Grundgesetz und seine drei Artikel (190, 191, 192) weiterhelfen. Dort wird die "originär-bäuerlich-indigeneRechtsprechung" erläutert, wie die neue offizielle Sprachregelung für "kommunitäre Justiz" wegen deren schlechten Images inzwischen lautet. Gemäß "eigener Prinzipien, kultureller Werte, Normen und Verfahren" können "Nationen und Völker" durch ihre "Mitglieder" und innerhalb ihres "Rechtsgebietes" eine eigenständige Rechtsprechung ausüben.

Aber: Garantiert werden muss "das Recht auf Leben, Verteidigung und weitere in der Verfassung festgelegten Rechte". An der gesetzlichen Ausarbeitung zur konkreten Umsetzung der Verfassungsnorm wird weiter gearbeitet. Erste Ergebnisse werden Ende Juni erwartet. Sicher ist: Lynchjustiz hat darin keinen Platz.