Revolution in einer Sackgasse?

Die indigenen Yukpa in Venezuela kämpfen um ihr Land

Die neue Verfassung stärkte 1999 die Rechte der Indigenen in Venezuela deutlich. Wie schwierig die Umsetzung in der Realität ist, zeigt das Beispiel der Yukpa. Diese kämpfen im Westen Venezuelas um ihr angestammtes Territorium und agieren in einer komplizierten Gemengelage zwischen GroßgrundbesitzerInnen, Großkonzernen, Militärs und verschiedenen staatlichen Instanzen.

Früher wurde in Venezuela am 12. Oktober alljährlich der "Tag der Rasse" gefeiert. An jenem Tag betrat Christoph Kolumbus in der Karibik 1492 erstmals den amerikanischen Kontinent. Im Jahr 2002 war Schluss mit dem offiziellen Gedenken an den Beginn der Kolonisierung Amerikas. Die Regierung von Hugo Chávez nannte den 12. Oktober symbolträchtig in "Tag des indigenen Widerstands" um. In Venezuela wird vor allem Guaicaipuro gewürdigt. Der Kazike, wie sich die Indigenenführer auch heute noch nennen, soll vor fünfhundert Jahren den Eindringlingen heldenhaften Widerstand geleistet haben. Seine leiblichen Überreste liegen heute im nationalen Pantheon in der venezolanischen Hauptstadt Caracas neben den Gebeinen anderer Nationalhelden wie dem Befreier Simón Bolivar.

Doch neben allen Anstrengungen und Symbolik sieht die Realität heute immer noch schwierig aus, wie die Auseinandersetzungen der letzten Jahre um ein Territorium für das Indigenenvolk der Yukpa zeigen. Die Yukpa beanspruchen ein zusammenhängendes Gebiet im nordwestlichen Grenz-Bundesstaat Zulia, der von der rechten Opposition regiert wird. Einflussreiche ViehzüchterInnen wollen ihre Ländereien nicht den Indigenen überlassen. Diese GroßgrundbesitzerInnen verfügen über hervorragende Beziehungen zu Politik und Sicherheitsorganen um ihre Machtposition zu sichern. Zudem sind UnternehmerInnen und transnationale Konzerne mit von der Partie, die in den Indigenengebieten umfangreiche Bodenschätze ausbeuten wollen. Dabei bekommen sie Unterstützung von der oppositionellen Regionalregierung, die ohne Konsultation der Yukpa Bergbau-Konzessionen vergibt. Aber auch Verantwortliche der nationalen Regierung in der Hauptstadt Caracas bauen auf die Zusammenarbeit mit den Konzernen und missachten damit die Selbstbestimmungsrechte der Indigenen, denen die Zerstörung der Natur durch die Ausbeutung der Bodenschätze wie Kohle ein Dorn im Auge ist.

In dieser unübersichtlichen Situation mischt zudem das Militär mit, das im Zuge der besseren Absicherung der Grenze zu Kolumbien gegen erbitterten Widerstand einen Stützpunkt auf Yukpa-Land errichten will. Die Beziehungen der Yukpa zu den militärischen Verantwortlichen und der Nationalgarde vor Ort sind äußerst angespannt, auch weil diese immer wieder Yukpa-Gemeinden abriegeln. Willkürlich werden dann Bewohnerinnen an dem Verlassen ihrer Gebiete gehindert und Hilfslieferungen sowie BesucherInnen wie JournalistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen abgewiesen. Die Sicherheitskräfte scheinen über enge Verbindungen zur örtlichen Elite zu verfügen und sehen sich den offenbar gut zahlenden ViehzüchterInnenn und InvestorInnen verpflichtet.

In Venezuela gibt es heute etwa eine halbe Million EinwohnerInnen, die den über 30 Urvölkern im Land zuzurechnen sind. Das sind nur etwas mehr als zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Im lateinamerikanischen Land mit der größten indigenen Bevölkerung Bolivien sind es dagegen über 70 Prozent. Heute sind die meisten EinwohnerInnen indigener Abstammung in das öffentliche Leben Venezuelas integriert und nur noch wenige leben in unzulänglichen Gebieten weit weg von den Städten. Viele der Indigenen kämpfen heute mit neuem Selbstbewusstsein für ihre Rechte, die durch die neue Verfassung von 1999 garantiert sind. Ein ganzes Kapitel im Abschnitt über Menschenrechte widmet sich darin den Rechten der Indigenen Gemeinden. Damit sollte ein Ende der jahrhundertelangen Diskriminierung der Urbevölkerung eingeläutet und diese rehabilitiert werden. Bis zur Wahl von Hugo Chávez, der unter anderem auch indigene Wurzeln hat, Ende 1998, war Venezuela berüchtigt, die rückständigste Ureinwohner-Politik des Kontinents zu betreiben.

In den bereits über 10 Jahren an der Regierung bemühte sich die chavistische Bewegung, die umfangreichen Vorgaben der Verfassung umzusetzen: Indigene profitierten von der 2001 begonnenen Landreform, zur Klärung der Landfrage für diese wurde 2004 eine spezielle Kommission zur Bestimmung der Demarkation von Indigenengebieten ins Leben gerufen. Zudem wurde ein spezielles Ministerium für die Belange der Indigenen gegründet und die wichtigsten indigenen Sprachen sind heute als Amtssprachen anerkannt. Mit umfangreichen Sozialprogrammen soll den verbliebenen Ureinwohnern aus der oft extremen Armut geholfen werden: Sie bekommen Gesundheitsversorgung, Schul- und Weiterbildung, Stromversorgung sowie Arbeits- und Kommunikationsmittel zur Verfügung gestellt. Allerdings nicht im Sinne von Almosen sondern mit dem Ziel, die Menschen zu aktivieren und ihnen langfristig selbstständig die Entwicklung von Lebensqualität zu ermöglichen. Sogar eine spezielle indigene Universität, selbstverständlich offen für alle Teile der Bevölkerung, wurde mit staatlicher Unterstützung gegründet.

In den 1970er Jahren stiegen die Yukpa aus dem schutzbietendem Perijá-Gebirge hinab, um das Land ihrer Vorfahren wieder zu besiedeln. Heute leben sie auf beiden Seiten der unübersichtlichen kolumbianisch-venezolanischen Grenze. Doch der Großteil ihres angestammten Landes ist weiterhin in den Händen von vornehmlich weißen GroßgrundbesitzerInnen. Viele der heute 7.000 Yukpa kämpfen um ein würdiges Territorium. Dabei fordern sie die Restaurierung von Landrechten aus vorkolonialen Zeiten. Ihre Vorfahren waren seit der spanischen Eroberung gewaltsam von ihrem Land vertrieben worden, die meisten erst im vergangenen 20. Jahrhundert. Besonders intensiv war die Enteignung in den 1950er Jahren während der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez. Die Yukpa verbinden ihre Forderungen nach einem Territorium mit dem Anspruch, angestammte Lebens- und Produktionsweisen ausüben zu können, wie ihre Sprache zu erhalten und ihre Traditionen zu leben.

Einige kämpferische Yukpa-Gemeinden führen regelmäßige Protestkampagnen durch, um die Verletzungen der verfassungsmäßigen Rechte anzuklagen und ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Sie wollen auf Basis der Verfassung die "Wiedergewinnung" ihres angestammten Territoriums erreichen. KritikerInnen aus den Yukpa-Gemeinden sind mit der Arbeit der Demarkationskommission unzufrieden und werfen dieser Korruption vor, ihnen gehen die Fortschritte zu langsam und sie befürchten, dass sie mit faulen Kompromissen mit Viehzüchtern und transnationalen Konzernen abgespeist werden sollen.

Radikale AktivistInnen, wie der Kazike Sabino Romero, sind zudem starker Repression ausgesetzt. Gefährdete Großgrundbesitzer nutzen alle Mittel, um einflussreiche Interessenvertreter wie Sabino Romero unschädlich zu machen. Regelmäßig erhält er Morddrohungen, zuletzt wurde er im Oktober 2009 unter fadenschneidigen Gründen von Staatsanwälten, die den Großgrundbesitzern nahe stehen, angeklagt. Kurz darauf wurde er dann von den Behörden von Zulia verhaftet. Bis heute sitzt er im Gefängnis, sein Prozess beginnt nur schleppend. Die Anklagepunkte gegen ihn sind Mord und Viehdiebstahl. Diese Vorwürfe seien vorgeschoben und die juristische Verfolgung politisch motiviert, sagt Lusbi Portillo, Professor der Universität von Zulia, der sich für die Rechte der Indigenen engagiert. Er sieht sich ebenfalls der Repression der Regionalregierung ausgesetzt.

Die Anklage gegen Sabino Romero wurde kurioserweise kurz nach einem gewaltsamen Überfall auf die Gemeinde Sabinos durch so genannte Sicarios (dt.: Meuchelmörder) der Großgrundbesitzer erhoben und der Haftbefehl dann eine Woche später vollzogen. Während der Konfrontation war eine schwangere Frau, Mireya García, sowie ein Schwiegersohn Sabinos, Ever García, getötet worden, andere Indigene wurden von Schüssen verwundet, darunter auch Sabino selbst. Die Strafanzeigen der Indigenen wegen dieser Verbrechen wurden dagegen bisher nicht von den Justizbehörden behandelt. Im Juli 2008 hatte bereits ein anderer Fall für Aufsehen gesorgt: Der Vater Sabinos, José Manuel Romero, erlag im Alter von 109 Jahren seinen Verletzungen nach einem Überfall von Sicarios, die offenbar ein Großgrundbesitzer geschickt hatte. Zuvor hatte das Dorf von Sabino den Anspruch auf dessen Ländereien bekräftigt und dies auch mit Landbesetzungen untermauert. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt, die Verantwortlichen sind auf freiem Fuß und offensichtlich weiter aktiv. Fatalerweise scheinen andere Yukpa-Gemeinden in Angriffe auf das Dorf von Sabino verstrickt zu sein. So gibt es laut Portillo opportunistische Allianzen zwischen Indios und Viehzüchtern, die ihre ökonomische Macht nutzen, um Konflikte innerhalb der Yukpa anzuheizen.

Viele Yukpa hatten kurz vor dem Überfall Mitte Oktober 2009 den Kampf für ein eigenes zusammenhängendes Territorium aufgegeben und einen von der Zentralregierung angebotenen Kompromiss angenommen, der zähneknirschend auch von den Großgrundbesitzern akzeptiert worden war. Sie erhalten Entschädigungen für das bisher von ihnen okkupierte Land. Der genannte Kompromiss sah die Übergabe von großen Flächen Land an die Yukpa vor, jedoch nur für einzelne Gemeinden und fragmentiert über ihr gefordertes Territorium verteilt. Die Yukpa müssen daher weiter viele Kontrollposten der oft willkürlichen Nationalgarde passieren, um von ihrem Dorf zu ihren Feldern zu gelangen.

Die Vergabe der Landtitel war am 12. Oktober 2009, dem Tag des indigenen Widerstandes, im Rahmen einer pompösen Zeremonie vollzogen worden. Live im Fernsehen überreichten Minister aus Caracas mehr als 40.000 Hektar an drei Yukpa-Gemeinden mit ungefähr 500 Einwohnern. Die anderen Gemeinschaften gingen leer aus. Dementsprechend zeigten manche anwesenden Yukpa-Anführer damals ihre Zufriedenheit und ihre Unterstützung einer öffentlichen Politik, die aber nicht alle Mitglieder ihres Volkes begünstigt. Damit wurde die Bewegung der Yukpa gespalten, doch die Mehrheit der Yukpa will den Kampf nicht aufgeben und fordert weiter ein eigenes Territorium für das ganze Volk, darunter auch Sabino Romero. Dementsprechend beteiligte er sich nicht an der Veranstaltung zur Landübergabe: Seit Jahren fordert er Land für seine Gemeinde, doch diese Forderungen sind bisher nicht erfüllt worden. Doch die kürzliche Vergabe von Landtiteln an ausgewählte Gemeinden war offensichtlich auch eine Reaktion auf die unablässige Lobbyarbeit der Yukpa sowie unter anderem von Unterstützern wie Lusbi Portillo und seiner Organisation Homo Et Natura.

Die Forderungen von Sabino und Portillo nach einem Yukpa-Territorium bleiben allerdings weitestgehend ungehört, trotz immer wiederkehrenden öffentlichen Aufforderungen von Präsident Chávez an seinen Staatsapparat, den Ansprüchen der Indigenen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Doch offensichtlich scheuen die Verantwortlichen in der Regierung vor einem globalen Konflikt mit den mächtigen GroßgrundbesitzerInnen in Zulia zurück oder sind sogar mit ihnen verbunden, denn der von Chávez regierte Staat hat weitestgehend immer noch die alten Strukturen der vergangenen Vierten Republik. Überall sitzen opportunistische Beamte in der Verwaltung, die sich den alten Verhältnissen verpflichtet fühlen. Daher lief der Prozess der Landverteilung an die Yukpa bisher äußerst langwierig, auch weil im Rahmen der Landreform bereits Gebiete an regierungstreue Kleinbauern vergeben wurden, die heute von den Yukpa beansprucht werden, was zusätzliche Interessenkonflikte im Regierungsapparat hervorruft.

Doch die Yukpa geben nicht auf, sie setzen optimistisch weiter darauf, dass sie den Kampf gegen die alte und neue Oligarchie und ihre Handlanger gewinnen werden. Dabei sind sie ohne Illusionen, dass sie auf sich allein gestellt sind, auch wenn Präsident Chávez für sie eher ein Verbündeter als ein Gegner ist. Die Ministerien seiner Regierung sehen sie allerdings ebenso wie die oppositionelle Regionalregierung auf der anderen Seite, wie der Menschenrechtler Lusbi Portillo immer deutlicher betont.