Venezuela

Auf dem Weg zur Räterepublik

Demokratie ist mehr als die liberaldemokratische Kümmerform, die im Rest der Welt als Demokratie verkauft wird

In Venezuela entschied am 15. Februar die Bevölkerung in einer Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung, die es allen Kandidaten erlaubt, für gewählte Ämter beliebig oft zu kandidieren. Damit gilt in Venezuela nun die gleiche Regelung wie etwa in der Präsidialrepublik Frankreich, wo der Präsident ebenfalls - so oft er will und aufgestellt wird - erneut für das Amt des Präsidenten kandidieren darf. Gewählt werden muss er selbstverständlich auch, das ist in Venezuela nicht anders als in anderen Ländern. Diese Klärung ist notwendig angesichts der Lügen, die auch von deutschen Medien massiv verbreitet wurden: "Chavez forever" (tagesschau), "Hugo Chavez strebt ewige Präsidentschaft an" ("Welt"), "Referendum über unbegrenzte Amtszeit" ("Focus") und "Unbegrenzte Wiederwahl für Chávez?" ("Zeit") sind nur einige Spitzen der medialen Märchenwelt.

In den meisten anderen Ländern dieser Welt werden Verfassungen und wesentlich gravierendere Verfassungsänderungen in Parlamenten entschieden. In Venezuela wurde die Verfassung von einer gewählten Versammlung mit Partizipation der Bevölkerung 1999 entworfen und in einem Referendum ratifiziert. Die venezolanische Verfassung in ihrer Genese ist wesentlich demokratischer als die Verfassungen aller Länder, aus denen Venezuela kritisiert wird. Es ist nur konsequent demokratisch, wenn die Bevölkerung aufgerufen wird, in einer Volksabstimmung eine vorgeschlagene Verfassungsänderung zu bestätigen oder abzulehnen.

Die Verfassung der Französischen Republik von 1793 legte in Artikel 28 fest: "Ein Volk hat stets das Recht, seine Verfassung zu revidieren, zu verbessern und zu ändern. Eine Generation kann ihren Gesetzen nicht die künftigen Generationen unterwerfen." Eine zutiefst demokratische Logik, die allerdings in der Folgezeit nicht nur in Frankreich der Angst der Regierenden vor der eigenen Bevölkerung weichen musste. In Venezuela herrscht diese Angst nicht. 15 Wahlprozesse hat es seit der ersten Wahl von Chávez zum Präsidenten gegeben. 14 wurden von der Regierung Chávez gewonnen. Ein Paket mit 69 Verfassungsänderungen war 2007 von einer knappen Mehrheit abgelehnt worden. Die aktuelle Verfassungsänderung wurde mit einer deutlichen Mehrheit von 54,85 Prozent gegen 45,14 Prozent angenommen. Die Wahlbeteiligung betrug 70,32 Prozent - mehr als bei den meisten Wahlen in Deutschland.

Warum die ganze Aufregung? Es ging um Präsident Hugo Chávez. Es war die Angst der Opposition im Land und international einem Kandidaten Chávez für das Präsidentenamt auch im Jahr 2012 keinen eigenen Kandidaten mit Aussicht auf Erfolg entgegensetzen zu können. Daher die enorme Propagandaflut national wie international. Das Ja zur Möglichkeit der erneute Kandidatur gewann trotzdem - obwohl es in Venezuela mittlerweile offen um den Aufbau eines sozialistischen Systems geht.

Trotz alledem wird hier auch eine zentrale Schwäche des revolutionären Prozesses in Venezuela deutlich: Nach zehn Jahren ist es immer noch nicht gelungen, eine kollektive politische Leitung aufzubauen. Und es gibt immer noch niemanden, der die Integrität, die Glaubwürdigkeit und das politische Format von Chávez besitzt. Das ist aber ein politisches Problem und sicher kein demokratisches Manko. Zumal historisch auch in formalen Demokratien häufig zu beobachten war, dass in entscheidenden politischen Phasen Staatsoberhäupter mehrere Amtszeiten regierten.

Die Bevölkerung Venezuelas weiß sehr genau, warum sie so gestimmt hat. Gemäß des chilenischen Forschungsinstituts Latinobarometro, das jedes Jahr über 10 000 Menschen in Lateinamerika befragt, ist Venezuela seit der Regierung Chávez stets unter den ersten zwei Plätzen bezüglich der demokratischen Wertschätzung der Bevölkerung und deren Zufriedenheit mit der eigenen Demokratie. Politische Partizipation ist in Venezuela zentral. So z. B. in den neuen Kommunalen Räten, eine Form der Selbstorganisierung auf kleinster lokaler Ebene. Diese "Kiezräte" funktionieren wie Räte, gewählt werden nur Sprecher und Sprecherinnen, entschieden wird in der Nachbarschaftsversammlung. Die Kommunalen Räte können nicht nur "mitbestimmen", sondern sie entscheiden über ihren Kiez. Und was sie entscheiden ist für die Institutionen bindend. Langsam wird das Rätesystem um weitere darüber stehende Ebenen ergänzt. Langfristiges Ziel ist es, den bürgerlichen Staat durch einen "kommunalen Staat" zu ersetzen - eine Art Räterepublik.

Demokratie ist mehr als die liberaldemokratische Kümmerform, die uns im Rest der Welt als Demokratie verkauft wird. Demokratie ist auch, Bedingungen für die demokratische Partizipation der Menschen zu schaffen. Das bedeutet z. B. die Armut zu senken und die Bildung zu stärken. Während im "demokratischen" Europa Millionen in die Armut gedrängt wurden, ist die Armutsrate in Venezuela, das hat die lateinamerikanische UNO-Kommission CEPAL bestätigt, zwischen 2002 und 2007 von 51 Prozent auf 28 Prozent gesenkt worden und die darin enthaltene extreme Armut von 25 Prozent auf 8,5 Prozent. Während in Deutschland Hunderttausende ohne Krankenversicherung sind oder nicht zum Arzt gehen, weil sie sich die Zuzahlungen nicht leisten können, wird in Venezuela seit 2003 ein flächendeckendes kostenfreies Gesundheitssystem aufgebaut. Während das Bafög in Deutschland als Darlehen ausgezahlt wird, sind in Venezuela die Studienplätze fast verdoppelt worden und etwa jeder dritte Studierende bekommt ein Stipendium. Während uns vorgegaukelt wird, kommerzielle Medien, also profitorientierte Unternehmen, hätten etwas mit Pressefreiheit, Kommunikation und Information zu tun, sind in Venezuela mit staatlicher Unterstützung etwa 400 Basisradios und ein Dutzend lokale Stadt- oder Stadtteilfernsehsender entstanden.

In Venezuela und auch in anderen Ländern Lateinamerikas sind große Bewegungen entstanden, um neue Demokratien zu entwickeln. Warum sollten sie sich dabei an Vorbildern orientieren, die längst ihr undemokratisches Wesen gezeigt haben? Es ist vielmehr an uns endlich zu erkennen, dass unsere Scheindemokratien - wo die meisten Entscheidungen von nicht-gewählten supranationalen Instanzen getroffen werden, die europäische Verfassung nicht einmal vollständig von den Bürgern eingesehen werden konnte, geschweige denn zur Wahl stand und der Profit mehr zählt als der Mensch - mit Demokratie im eigentlichen Sinne kaum etwas zu tun haben.

Dario Azzellini, 1967 geboren, ist Politikwissenschaftler, Autor und Dokumentarfilmer. Er hat über Venezuela diverse Bücher, Filme und Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Im April erscheint die "International Encyclopedia of Revolution and Protest. 1500 to the Present", für die der in Berlin und Caracas lebende Azzellini als Herausgeber u. a. für Lateinamerika und die spanischsprachige Karibik zuständig ist.


Der Originalbeitrag in der Tageszeitung Neues Deutschland finden Sie hier.