Scheitern als Chance

Die venezolanische Basisbewegung diskutiert die Ursachen der Niederlage des Verfassungsreferendums

Die Ablehnung der Verfassungsreform in Venezuela kam für viele überraschend, hatte man sich doch seit 1998 an die bequemen Mehrheiten in allen Wahlen gewöhnen können. Nun hat sich mit der knappen Niederlage ein Raum geöffnet, der zu einer breiten kritischen und selbstkritischen Diskussion innerhalb des heterogenen bolivarianischen Lagers geführt hat. Einen Teil davon bildet eine Vielzahl von sozialen, politischen und kulturellen Basisorganisationen, die, obwohl sie in der internationalen Sicht auf Venezuela kaum vorkommen, so charakteristisch für den Transformationsprozess sind. Im Folgenden sollen einige dieser Organisationen selbst zu Wort kommen. Darunter finden sich auch Stellungnahmen aus der Gewerkschaft UNT1, die das Referendum aktiv unterstützt hat, und einen Beitrag in der Debatte über nötige Konsequenzen und Entwicklungen des revolutionären Prozesses leistet.

Durch viele Erklärungen aus der Basisbewegung nach dem Referendum ziehen sich ähnliche Argumentationslinien. Trotz harscher Kritik am Zustand des Prozesses verstehen sie das Ergebnis des Referendums nicht als Ablehnung der Person Chávez oder gar des Transformationsprozesses an sich, sondern als Ausdruck der Unzufriedenheit vieler Menschen über Entwicklungen innerhalb der Bolivarianischen Revolution.

Diese Deutung findet in den Wahlergebnissen Unterstützung. Denn tatsächlich schafften es die Gegner der Reform nur gut 100.000 Stimmen mehr zu mobilisieren, als bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2006 für den Oppositionskandidaten Manuel Rosales.2 Und das, obwohl sie neben der bekannten Opposition auch ehemalige Teile der Regierungskoalition wie die sozialdemokratische Partei Podemos oder den ehemaligen Verteidigungsminister Raúl Isaías Baduel auf ihrer Seite hatten. Während 2006 aber 7,3 Mio. für Chávez gestimmt hatten, erhielt die Verfassungsreform nur den Zuspruch von 4,4 Mio. Menschen. Auch wenn Anhänger des Prozesses gegen die Reform gestimmt haben dürften, zeigt das Ergebnis, dass ein bedeutender Teil des bolivarianischen Lagers zu Hause blieb, anstatt der Opposition seine Stimme zu geben. Am Ende siegte das NEIN mit einem Abstand von 1,31%.

Unzufriedenheit an der Basis

Der Ausgangspunkt der meisten Analysen ist also die Frage, warum man nicht die eigene politische Basis mobilisieren konnte. Wiederholt wird dabei die Enttäuschung der Menschen auf Grund der Ineffizienz der Institutionen, der Korruption und Bürokratie angeführt. So erklären zahlreiche Nachbarschaftsorganisationen aus La Vega, einem Barrio in Caracas: "Unsere Leute sind vom bürokratischen Staatsapparat enttäuscht, der uns noch immer mit Verachtung behandelt [...]. Die Menschen, die neu in ihn eingetreten sind, haben sich an die Struktur angepasst und nicht ihre revolutionäre Rolle verstanden, die nichts anderes war, als diese Strukturen zu transformieren."3 In einer ähnlichen Weise äußern sich Gruppen aus Valencia: "Die Zusammensetzung unserer Regierung, die zum Großteil aus korrupten Bürgermeistern, verbürgerlichten Funktionären und aalglatten Gouverneuren besteht, in einem Staat, der weiterhin ein kapitalistischer bleibt, hat das Vertrauen des Volkes in die Organisation der Vertreter der Reform verwirkt."4 Die Frente Amplio de Guayana, ein Netzwerk von Organisationen aus dem Süden Venezuelas, das aus Basis- und Bauernorganisationen, Initiativen Schwarzer Menschen, TeilnehmerInnen der Bildungsmissionen und Gewerkschaften besteht, sieht darin eine "fehlende Übereinstimmung von revolutionärer Theorie und Praxis, zwischen dem, was gesagt wird und dem, was getan wird". In einer Erklärung heißt es: "Es wird vom Kampf gegen Korruption und Bürokratismus gesprochen und doch konsolidiert und intensiviert sich diese Praxis immer weiter [...]. Man predigt die Verteidigung der Arbeiterrechte und in der Praxis ist die Mehrheit der Arbeitskräfte ungeschützt. [...] Man postuliert die Selbst- und Mitverwaltung von Arbeitern und Bauern als Entwicklungsform der protagonischen und partizipativen Demokratie, doch gleichzeitig bietet man keine ausreichende Unterstützung für ihre Stärkung und Konsolidierung. Man spricht von einer revolutionären Regierung und fast alle leitenden Positionen der öffentlichen Einrichtungen befinden sich in der Hand der Konterrevolution."5 In dieselbe Kerbe schlägt die Gewerkschaftsströmung CCURA und fordert Hugo Chávez auf "in seinem vollen Ausmaß zu sehen, dass es enorme Probleme in seinen Ministerien, Landes- und Lokalregierungen gibt, die so nicht weitergehen können."6

"Endogene Rechte"

Über diese Kritiken am Funktionieren der Institutionen hinaus sehen aber viele eine »endogene«, also interne, Rechte am Werk, die sich in den Reihen des Prozesses eingenistet hat und diesen zu blockieren versucht. Beim Referendum habe sich dies teilweise offen in der Nicht-Unterstützung der Wahlkampagne gezeigt. So berichtet Guillermo Vizcaya, ein Basisaktivist aus Valencia, dass die Bürgermeisterämter und Landesregierungen ihren Teil zur Niederlage beigetragen haben: "In Carabobo zum Beispiel ist die Propaganda erst im letzten Moment angekommen, die Mutlosigkeit und das Fehlen von Willen standen auf der Tagesordnung." Häufig hätten er und seine GenossInnen im Wahlkampf geradezu betteln müssen, um Farbe und Sprühdosen für Wandbilder zu kaufen, während Millionen von Bolívares verschleudert werden.7 Bei einer solchen Verschwendung könne man nicht denen, die in Armut leben, Aufopferung erwarten. Diese Haltung derjenigen, die durch ihre Posten in Politik und Verwaltung direkt vom Prozess profitieren erklären Kollektive aus der selben Stadt mit der Gefährdung ihrer Privilegien durch die Verfassungsreform: "Dadurch, dass die Reform der Volksmacht Verfassungsrang gegeben hätte, hätte sie ihr die anderen Institutionen untergeordnet. Dies betraf direkt die Interessen einer Kaste von Bürokraten und Korrupten, die noch immer innerhalb der Regierung besteht und die, weit davon entfernt den Wahlkampf zu unterstützen, ihn offen sabotierte."8

Aus diesem Grund fordern nun viele eine "Reinigung des Prozesses", um in den eigenen Reihen aufzuräumen. In diesen Chor reiht sich z.B. auch die Coordinadora Simón Bolívar ein, die eine lange, kämpferische Tradition im Barrio 23 de enero in Caracas mit sich trägt und unterstützt die "Notwendigkeit, die Posten der oberen Regierungsfunktionäre zu überprüfen, die wie fünfte Kolonnen im Aufbau des Sozialismus handeln".9

Kritik am Weg zum Referendum

Auffällig an den Erklärungen fast aller Basisorganisationen ist, dass sie sich relativ wenig mit den Inhalten der Reform befassen. Diese werden, bis auf einige Kritiken am Rande10, nicht in Frage gestellt. Sehr deutlich kritisiert wird aber die Form, in der der Reformtext ausgearbeitet wurde und wie die Wahlkampagne für das Referendum geführt wurde. So wird sehr häufig die kurze Zeit genannt, die zwischen der Verabschiedung des Reformvorschlags durch das Parlament am 24. Oktober und dem Referendum am 2. Dezember lag. Diese habe nicht ausgereicht, um die teilweise komplizierten 69 Änderungen für alle verständlich zu machen. Kritik richtet sich aber auch gegen die Art der Ausarbeitung. Der Prozess sei zu wenig transparent gewesen, habe zu sehr von oben nach unten funktioniert und habe den sozialen Bewegungen nur wenige Beteiligungsmöglichkeiten zugestanden. Ähnliches gilt für den Wahlkampf. Dieser wurde vom Comando Zamora geleitet, welches vom Präsidenten zusammengesetzt wurde. Allerdings habe es die Basis - anders als bei Wahlkämpfen in der Vergangenheit - kaum einbezogen. So heißt es in einer Erklärung aus dem Gewerkschaftsbereich: "Während des Wahlkampfs haben sich die Machteliten, das Comando Zamora und andere Gruppen geweigert, die Kampagnenführung für die Basis zu öffnen. Sie haben so die Entscheidungen und die Organisation der Kampagne in ihren Händen konzentriert."11 Ähnliches wurde in Valencia kritisiert: "Wenn wir genug Ressourcen gehabt hätten, um die Wahlkampagne zu leiten, hätten sie niemals gegen uns gewonnen", schreibt Guillermo Vizcaya. "Aber mit drei Bolívares kann man nicht ein so starkes System wie den Kapitalismus angreifen. Es ist beschämend, wie unsere alternativen Medien quasi auf den Knien um Gelder betteln müssen."12

Aus der Kritik am Verfahren des Reformversuchs leiten viele eine klare Tendenz für die Zukunft ab: Sie schlagen vor, eine Verfassungsreform "von unten" anzustrengen. Die rechtlichen Möglichkeiten dafür sind gegeben. Zwar kann der Präsident kein zweites Mal den Vorschlag einbringen, jedoch besteht die Möglichkeit Unterschriften zu sammeln und so ein Referendum einzuberufen. Ein solches müsse dann aus "neuen Artikeln, die von den Vorschlägen von Hugo Chávez und unseren eigenen ausgeht" bestehen, schreiben die Kollektive aus La Vega. Gleiches fordern sie für die zu führende Wahlkampagne. An Chávez gerichtet schreiben sie: "Schaffen wir ein kommunales Wahlkommitee, das auf den Consejos Comunales, den städtischen Bodenkommitees, den Kooperativen, den Misiones, den Gesundheitskommitees und den Basisorganisationen basiert und nicht auf den Apparaten, die nicht effizient funktioniert haben."13

Kollektive Führung, Sozialismusmodelle und Aktionspläne

Ein weiterer Punkt, der - teilweise explizit, teilweise nur angedeutet - als Ursache für das Scheitern des Referendums angeführt wird, ist das Fehlen einer kollektiven Führung des bolivarianischen Prozesses. Zwar wird die Bedeutung der Rolle Hugo Chávez’ immer wieder betont, doch sei sie zu zentral und habe zu wenig Fundament. So schreibt die Frente Amplio de Guayana: "Die Abwesenheit einer kollektiven Führung des revolutionären bolivarianischen Prozesses hat die Integration der diversen Ausdrucksformen der verschiedenen Teile der Ausgebeuteten und Unterdrückten unserer Gesellschaft in die Aufgaben, die Revolution zu leiten, aufzubauen und zu vertiefen, begrenzt. Dies hat dazu geführt, dass die gesamte Verantwortung der Führung des Prozesses in die Person des Präsidenten Chávez gefallen ist."14 An diesem Problem müsse gearbeitet werden, um den Prozess weiter vertiefen zu können.

Die theoretische Undurchsichtigkeit des venezolanischen Sozialismusmodels hingegen wird von CCURA thematisiert. Noch seien wenige adäquate Maßnahmen zur Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise durchgeführt worden, was zur Verwirrung in der Bevölkerung beigetragen und eine ideale Atmosphäre für Falschinformationen und Manipulationen der reaktionären Sektoren geschaffen habe. Als konkrete Vorschläge zur Verankerung und Ausbau des venezolanischen Prozesses sei eine tief greifende Debatte zwischen Basis, Delegierten, der sich in Gründung befindenden Sozialistischen Partei (PSUV), Gewerkschaften und sozialer Bewegung ebenso notwendig15, wie ein Aktionsplan gegen Korruption, Bürokratie und Ineffizienz.16 Sie fordern außerdem die "Neustrukturierung einer pädagogischen und autonomen Kommunikationsstrategie, die die Ausdrucksformen der armen Bevölkerung als Medien und Kanäle nutzt und in der Lage ist, die konterrevolutionäre Medienkampagne zurückzuschlagen."17

Die Volksmacht aufbauen

Eine weitere Forderung, die von Basisorganisationen angestrebt wird, ist der Aufbau der Volksmacht auch ohne eine Verankerung in der Verfassung. Ein Gesetz regelt bereits seit Anfang 2006 die Gründung von kommunalen Räten (Consejos Comunales) als eine solche Struktur.18 Die Verfassungsreform hatte vorgesehen, diese in Kommunen als Verwaltungseinheiten zusammenzuschließen. Dies könne aber nicht "von oben" dekretiert werden, sondern soll nun auf Initiative der Räte entstehen. "Die Erfahrungen und Ergebnisse die aus dieser Umstrukturierung des Staates durch die Volksmacht resultiert, kann ein möglicher Ausgangspunkt sein, für einen neuen Verfassungsvorschlag, der nicht nur auf Partizipation basiert, sondern auf einer materiellen Erfahrung der Praxis" schreibt in diesem Zusammenhang der langjährige Basisaktivist Roland Denis. Ähnliches äußern Kollektive aus La Vega, die fordern, "die Reform in der Praxis zur Realität" zu machen: "In La Vega bereiten wir den Weg für eine Gemeinschaft aus Consejos Comunales und eine Gemeinschaft der Controlaría Social, zusammen mit der Unterstützung der Reserve. Dies wird uns erlauben weiter auf die kommunale Selbstregierung hinzuarbeiten, auch wenn die Reform nicht angenommen wurde."19 Diese Idee fand auch bei einem Treffen der städtischen Landkomitees (CTU) in Caracas Zustimmung, die darin die Möglichkeit sehen, "den Sozialismus des 21. Jahrhunderts von unten aufzubauen".20 Es wird also gefordert, den neuen "kommunalen Staat" von unten zu konstruieren, nicht von oben zu dekretieren.

Das knappe Scheitern der neuen Verfassung hat einen Diskussionsraum über Vorstellungen eröffnet, wie sich der revolutionäre venezolanische Prozess festigen kann und welche Maßnahmen hierfür in Angriff zu nehmen sind. Das Scheitern der Verfassungsreform wird dabei als Chance begriffen, die begangenen Fehler zu korrigieren.


Von den AutorInnen ist das Buch Revolution als Prozess. Selbstorganisierung und Partizipation in Venezuela (Hamburg: VSA 2007) erschienen.

Dieser Artikel erschien in leicht gekürzter Form in Analyse & Kritik 524 (18.01.2007)

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