Venezuela

Chávez und die Bringschuld

Während in Deutschland der Zugang zu Bildung mit einer sozialen Hürde nach der anderen versehen wird, ticken die Uhren in Venezuela anders

Statt Förderung von neuen Eliten- oder Exzellenzschwerpunkten spricht man in Venezuela heute von einer Bringschuld des Staates im Bildungsbereich. Mit den bolivarianischen Universitäten wird seit 2003 ein neues Instrument geschaffen, das dazu beitragen soll, im venezolanischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts das Recht auf Bildung für alle zu gewährleisten.

Dabei ist es noch gar nicht lange her, da dominierte auch in Venezuela ein auf sozialem Ausschluss beruhendes Bildungssystem. Neoliberale Umstrukturierungsmaßnahmen hatten seit den 1980ern zu einem Ausschluss weiter Bevölkerungsteile aus dem Bildungssystem geführt. Bildung wurde zu einem Privileg derer, die es sich leisten konnten. In Zeugnisnoten zementierte soziale Ungerechtigkeiten führten dazu, dass immer weniger Menschen aus den ärmeren Bevölkerungsgruppen den Weg an die öffentlichen Universitäten fanden, deren Zugangsvoraussetzungen an entsprechende Schulabschlüsse gekoppelt waren. Die staatlichen Universitäten, wie die UCV (Universidad Central de Venezuela), wurden somit zu Orten, die sich von einem Großteil der Gesellschaft entfernten.

Seit 2003 gibt es in Venezuela nun breit angelegte Bildungsprogramme, denen ein anderer Anspruch zu Grunde liegt. Sie sind in aufeinander aufbauenden so genannten Misiónes gestaffelt, die mit der Alphabetisierung in der Misión Robinson anfingen und bis zur Hochschulreife und universitären Bildung in den bolivarianischen Universitäten führen. Diese neuen Universitäten waren auch eine Reaktion darauf, dass es 2003 für 470 000 Abiturienten keine Studienplätze an den öffentlichen Universitäten gab. Mit den neu entstandenen Universitäten werden mehrere Ziele verfolgt: Zunächst soll mit ihrer Hilfe der Zugang zu Bildung demokratisiert werden. Statt auf sozialem Ausschluss beruht die bolivarianische Universität (UBV) auf dem Prinzip der sozialen Integration: Die Universität steht möglichst allen an Bildung Interessierten offen. Neben der 2003 gegründeten UBV in Caracas gibt es mittlerweile acht Zweigstellen in den venezolanischen Bundesstaaten, die entsprechend dem verfolgten Dezentralisierungskonzept wiederum viele weitere regionale Ableger aufgebaut haben. Dabei wird eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen, etwa im Gesundheits- oder Kulturbereich, und neu geschaffenen Institutionen des sozialen Lebens angestrebt. Zugleich liegt das Studienangebot der UBV vor allem in Bereichen, in denen es einen gesellschaftlichen Bedarf gibt. Dazu zählen unter anderem Studiengänge für die Lehrerausbildung, Medizin, öffentliche Gesundheit, Architektur, Informatik, Jura, soziale Verwaltung und Politologie, ebenso wie spezielle Studienangebote im Bereich der Erdölverarbeitung. Und schließlich sollen die bolivarianischen Universitäten eine wichtige Rolle im Aufbau der neuen sozialistischen Gesellschaft spielen. Die Wiedergewinnung der eigenen kulturellen Identität und das Erlernen einer neuen demokratischen Praxis sei - nach den Worten venezolanischer Bildungspolitiker - dabei besonders wichtig.

Wie sieht's in der Praxis aus?

Die mit der bolivarianischen Revolution verbundenen Bildungsprogramme eröffneten vielen neue Bildungsmöglichkeiten und führten zu einem enormen Anstieg der Studierendenzahlen. Heute essen Studierende aller Altersgruppen in den Mensen der bolivarianischen Universität kostenlos. Das pädagogische Konzept der UBV ist stark praxisorientiert. Vom ersten Tag des Studiums an werden die Studierenden dazu angehalten, ihr Wissen im praktischen Austausch mit der Gesellschaft zu erweitern. Die Studierenden führen über mehrere Jahre Projekte in lokalen Gemeinschaften durch, häufig in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld. Medizinstudierende begleiten Ärzte in die kommunalen Gesundheitszentren, Jurastudenten bieten Rechtsberatung an usw...

Die venezolanische Opposition kritisiert die neue staatliche Universität unter anderem als ein Konkurrenzprojekt zur Privatuniversität. Nicht selten ist zu hören, dass die Abschlüsse der UBV nicht viel wert seien. Dabei sind es gerade die bisher Benachteiligten und von Bildung weitgehend Ausgeschlossenen, die die neuen Möglichkeiten durchaus wertschätzen.

So ist, neben organisatorischen Startschwierigkeiten, das Hauptproblem der neuen Uni die hohe Zahl von Bewerbern, die die Zahl verfügbarer Studienplätze bei weitem übersteigt. Mit der Erweiterung des Angebots auf 500 000 Studienplätze im nächsten Jahr hat sich Hugo Chávez einiges vorgenommen. Nicht ohne Grund, sitzen doch immer noch 400 000 Abiturienten ohne Studienplatz da, was dem Anspruch, eine Uni für alle zu schaffen, immer noch klar entgegensteht. Und unter denen, die studieren, tun sich zum Teil große Unterschiede auf, was die Beherrschung grundlegender Voraussetzungen und Fähigkeiten für ein Studium anbelangt.

Die Umbrüche im Bildungsbereich sind heute ein Teil des Wandels in Venezuela, der sich durch die Parallelität unterschiedlicher Strukturen auszeichnet. Neben den bestehenden, alten Institutionen werden neue aufgebaut, die die Grundlage einer neuen demokratischen Gesellschaft bilden sollen. Die bolivarianischen Universitäten sind ein wichtiger Baustein dafür. Eine weitere Spaltung der venezolanischen Gesellschaft, die manche ironischerweise in diesem neuen Nebeneinander von alten und neuen Institutionen, von Volks- und Elite-Unis sehen, gilt es dabei zu verhindern. Dies ist dann auch die große Herausforderung, vor der die Macher der bolivarianischen Revolution und die venezolanischen Sozialisten des 21. Jahrhunderts stehen.


Alexander Schober war vom 23. Februar bis 16. März Teil einer Venezuela-Delegation des Studierendenverbandes DIE LINKE.SDS.

Den Originalartikel in der Tageszeitung Neues Deutschland finden Sie hier.