Venezuela

Eine Niederlage als Chance und Gefahr

Nach dem gescheiterten Referendum über die Verfassungsreform in Venezuela

Am 2. Dezember wurde in Venezuela in einer Volksabstimmung die Verfassungsreform mit 4.504.354 Stimmen (50,7%) abgelehnt; auf das Ja entfielen 4.379.392 Stimmen (49,29%). Die Wahlbeteiligung lag bei 55,89%. Damit hatte niemand gerechnet, nicht einmal die Opposition selbst. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen der Diskreditierung Chávez' und des Wahlrates gewidmet und am Wahlabend, noch während der Zählung, eine Anti-Wahlbetrugskampagne aktiviert. Chávez hingegen erkannte die Niederlage direkt nach Bekanntgabe der knappen Ergebnisse an.

Die Deutung der internationalen Medien, die Opposition habe einen großen Sieg, errungen, ist jedoch unbegründet. Eine genaue Analyse zeigt, dass die knappe Mehrheit weniger einem Stimmenzuwachs bei der Opposition geschuldet war, als vielmehr der Tatsache, dass große Teile der bolivarianischen Basis der Abstimmung fern blieben. Noch bei den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2006 hatte Hugo Chávez bei 74% Wahlbeteiligung 7.309.080 Stimmen (62,84%) erhalten, der Oppositionskandidat aber nur 4.292.466 Stimmen (36,90%). Die Opposition hat nur etwa 200.000 Stimmen hinzugewonnen, während der Bolivarianismus fast drei Millionen Stimmen verloren hat.

International und auch intern hat sich die Lage nicht unbedingt verschlechtert. Die rechte putschistische Linie in der Opposition ist ins Aus manövriert worden. Das Ergebnis wurde anerkannt, der Wahlrat funktioniert, und die Opposition hat die geltende Verfassung verteidigt, die sie zuvor noch bekämpft hatte. Das heißt, sie kann grundsätzlich auf die gesetzlichen Spielregeln verpflichtet werden. Und international wird es nun sicher schwieriger werden, Chávez weiterhin als gefährlichen Diktator hinzustellen.

Was die Inhalte der Verfassungsreform betrifft, werden einige über Gesetze verwirklicht werden können, wie etwa die Einrichtung eines staatlichen Sozialversicherungssystems für unabhängig und informell Beschäftigte. Hierzu hat sogar die Opposition schon ihre Zustimmung versichert. Andere Punkte können allerdings nicht umgesetzt werden, wie etwa die territoriale Neugliederung, die Möglichkeit einer erneuten Kandidatur Chávez' oder die Zuweisung von fünf Prozent des Staatshaushaltes an die Kommunalen Räte. Damit reduzieren sich die den Räten zur Verfügung stehenden Finanzmittel für das Jahr 2008 um mehr als die Hälfte.

Es ist aber auch möglich, dass von der Bevölkerung (mit den Unterschriften von 25% der Wahlberechtigten) ein erneutes Referendum über eine Verfassungsreform eingereicht wird. Chávez zumindest erklärte die Verfassungsreform für "vorerst" gescheitert - "por ahora", das sind die zwei Wörter, die ihn beim zivil-militärischen Umsturzversuch 1992 berühmt machten.

Für den internen Prozess könnten die Konsequenzen zwei völlig verschiedene sein: a) Die Rechte innerhalb des Prozesses wird gestärkt, denn sie kann darauf verweisen, dass das sozialistische Projekt abgelehnt wurde; zudem besteht nach einer solchen Niederlage die Tendenz, "die Reihen fester zu schließen". b) Die Linke innerhalb des Prozesses wird gestärkt, da erkannt wird, dass es mehr Einbeziehung der Basis, breiterer Debatten und tiefer gehender Veränderungen bedarf, die nicht auf die Zeit nach der Reform verschoben werden dürfen.

Die Basis ist enttäuscht, aber nicht entmutigt

Bestand eine Besonderheit der venezolanischen Entwicklung bisher darin, dass sich nach jeder "Schlacht" (Putsch, Erdölsabotage/Aussperrung, Referendum gegen Chávez usw.) sowohl die Basisbewegungen wie auch die Bürokratie gestärkt sahen, wird dies nun nicht möglich sein: Entweder die Basisbewegungen treten gestärkt hervor, oder der radikale transformatorische Prozess ist an sein Ende gelangt.

Chávez' Aussagen sowie die Debatten in der bolivarianischen Basis deuten auf erstere Entwicklung hin. In den Basisbewegungen, als Träger des Prozesses, herrscht Enttäuschung und Wut, aber ganz sicher keine Ohnmacht. Die Niederlage wird als Chance begriffen, den Prozess einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen und Änderungen in der politischen Praxis, der Regierungspraxis und den politischen Strukturen vorzunehmen.

Zwar wird auch auf die massive Oppositionspropaganda hingewiesen, die auch viele Chávez-AnhängerInnen verwirrt hat; z.B. diffamierte die Opposition das Recht auf einen Kinderkrippenplatz als Zugriff des Staates auf die Kinder, die den Familien weggenommen würden. Doch die Kritik konzentriert sich auf die eigenen Fehler, die als wesentlich für die schwache Mobilisierung gedeutet werden.

Dazu gehören die zu kurze Zeit, um der Basis, die nicht in organisatorische Strukturen eingebunden ist und nicht an Diskussionen teilgenommen hat, die Inhalte der Verfassungsreform nahe zu bringen; die verbreitete Korruption und Ineffizienz in der öffentlichen Verwaltung und eine starke verdeckte Strömung innerhalb des Bolivarianismus, die de facto für das Nein arbeitete. Zu dieser gehören vor allem viele Bürgermeister und Gouverneure, die - zu Recht - fürchteten, in Folge einer territorialen Neuordnung und stärkeren Übertragung der Macht an Rätestrukturen an Einfluss zu verlieren.

Überall wird intensiv diskutiert und eine Radikalisierung des Prozesses ebenso gefordert wie ein resolutes Durchgreifen gegen Korruption und Opportunismus in den eigenen Reihen. Die Basisbewegungen wollen Regierung und Institutionen stärker unter Druck setzen und zugleich die interne Debatte stärken. Auch die neue Partei PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) wird grundsätzlich in Frage gestellt. Immerhin hat sie über 5 Millionen Mitglieder, weit mehr als das Reformprojekt - zentrales Kampagnenthema der Partei in Gründung - Stimmen bekommen hat.

So ist die Niederlage eine Chance und eine Gefahr zugleich. Man sollte sich vor einer zu positiven Umdeutung hüten, schließlich hat Chávez den Vorschlag nicht gemacht, um zu verlieren. Aber die Niederlage bedeutet nicht das Ende der Bewegung oder des Projekts. Eine Reflexion darüber, was anders laufen muss, die Erkenntnis, dass nicht alles von der Bevölkerung durchgewunken wird, sind Faktoren, die zu einem Wachstum und einer Stärkung der Bewegung führen können, wenn die richtigen Schlüsse gezogen werden.