"Die Opposition sollte sich stärker beteiligen"

Venezuela wirbt international für Verfassungsreform. KP-Abgeordneter Carolus Wimmer im BBC-Interview.

Verschiedene Funktionäre und Politiker reisen durch die Welt und werben für die Reform: einer von ihnen ist der Sekretär für internationale Beziehungen der Kommunistischen Partei Venezuelas und Abgeordnete im Lateinamerikanischen Parlament Carolus Wimmer. BBC Mundo sprach mit ihm über kontroverse Gesichtspunkte der Verfassungsreform wie zum Beispiel die Tatsache, dass diese ohne die Teilnahme von Oppositionsparteien durchgeführt wird. Stellt dies die Rechmäßigkeit der zukünftigen Carta Magna des Landes in Frage?

BBC: Im Jahr 1999 hat Venezuela mit großem Pomp seine neue Bolivarianische Verfassung verabschiedet, die das Resultat einer intensiven Arbeit der damaligen Nationalversammlung war, aber es sind kaum 10 Jahre vergangen und schon wird sie wieder reformiert. Warum, Herr Abgeordneter?

Carolus Wimmer: Weil die Prozesse in Venezuela mit revolutionärer Geschwindigkeit ablaufen und man muss auch berücksichtigen, dass die Änderungen nur 10% der zurzeit gültigen Verfassung betrifft. Außerdem gibt es einige Themenfelder, die Ergebnis des Prozesses einer zunehmenden Beteiligung des Volkes sind und eben angepasst und modernisiert werden müssen.

Aber gibt es denn nach weniger als zehn Jahren bereits einen Grund zur Veränderung?

In weniger als zehn Jahren, weil es in dieser Zeit einen Staatsstreich gegeben hat und eine Reihe direkter Erfahrungen der politischen Teilhabe des Volkes, die auf natürliche Weise in einer Übernahme von öffentlicher Macht ihren Ausdruck finden, was das Wesentliche dieses Reformblocks ausmacht.

Sie sagten, dass nur 10% der Verfassungsartikel verändert werden sollen, aber diesen 33 Artikeln sind gerade erst 25 weitere hinzu gefügt worden. Wenn die Carta Magna eines Landes ein so ernst zu nehmendes und würdiges Dokument ist, läuft man dann nicht Gefahr, dass dieser Prozess dabei zu leicht genommen wird?

Nein. Es geht vielmehr gerade um die aktuelle Dynamik, da es sich bei den 33 Artikeln nur um den anfänglichen Vorschlag von Präsident Chávez handelt... dass heißt, dass diese 25 zusätzlichen Artikel, die überarbeitet werden sollen, nicht aus der Exekutive stammen, sondern von außerhalb kommen. Das organisierte Volk besitzt ebenfalls das Recht Vorschläge zu machen und wir sind sehr glücklich darüber, dass dies so zum Ausdruck kommt, weil man ja auch ganz leicht sagen könnte, dass nur über Zustimmung oder Ablehnung eines Vorschlages des Präsidenten abgestimmt werden soll.

Herr Abgeordneter, einer der umstrittensten Gesichtspunkte dieses Projektes ist die unbeschränkte Wiederwahl des Präsidenten. Ist das nicht ein Thema, das eine breitere Diskussion verdient als die, die in der Nationalversammlung geführt werden kann?

Dies ist ein Thema, dass nach dem Putsch, nachdem der Präsident 47 Stunden lang verschwunden war, vom Volk auf den Tisch gebracht worden ist.

Aber, warum unbeschränkt?

Nein, nicht unbeschränkt. Es gibt zwei Bremsmechanismen: erstens, er oder sie, Präsident oder Präsidentin, müssen sich stellen, müssen sich dem Wahlprozess unterwerfen. Zweitens ist zu bedenken, dass die Möglichkeit besteht (die bereits in der Verfassung von 1999 existiert), dass es nach der Hälfte der Amtszeit ein Referendum zur Abwahl geben kann. Das bedeutet - in der Annahme Präsident Chávez tritt erneut an - dass es nach drei Jahren die Möglichkeit gibt, ein Referendum zu seiner Abwahl durchzuführen. Aber im Grunde genommen wird dem nichts entgegenstehen, dass er sich weiterhin zur Wahl stellt. Für den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin in Deutschland gibt es ja auch keine Begrenzung bei der Wiederwahl: er kann so oft antreten wie er will bzw. so oft er von seiner Partei aufgestellt wird.

Wie sehen Sie dann also die Rolle der Opposition? Was für ein Spielraum wird ihr in Venezuela gelassen?

Die Opposition hat alle möglichen Spielräume. Wir hoffen, dass sie diese bewusst und verantwortlich nutzt. Wir sollten daran erinnern, dass die Opposition nicht im Parlament ist. Wir sollten daran erinnern, dass sich die Parteien der Opposition im Jahr 2005 eine Woche vor den Wahlen zurückgezogen haben. Das heißt sie sind derzeit nicht im Parlament, weil sie nicht dort sein wollten.

Aber erscheint es Ihnen denn nicht sehr heikel, dass nun dort die Reform der venezolanischen Verfassung diskutiert wird, zu einem Zeitpunkt zu dem die Opposition nicht teilnimmt?

Nein. Die Opposition, einschließlich zweier Parteien, war im Parlament. Ohne dort vertreten zu sein, haben die Acción Democrática (Demokratische Aktion) und Primera Justicia (Gerechtigkeit zuerst) die Rednertribüne dazu genutzt, um dort ihre Vorschläge zu unterbreiten.

Aber in der aktuellen Nationalversammlung gibt es keine Opposition.

Es gibt keine, aber...

Aber erscheint es Ihnen denn nicht sehr prekär, Herr Abgeordneter, dass die Verfassung von Venezuela zur Debatte steht und es gibt keine Opposition?

Es gibt ja Opposition, sie kann genauso mitdiskutieren wie die übrige Bevölkerung, ich zum Beispiel bin ja auch nicht Teil der Nationalversammlung, beteilige mich aber, und die Parteien der Opposition, wenigstens in ihrer Mehrheit, beteiligen sich auch, andere dagegen rufen erneut zum Boykott auf. Wenn also eine Opposition sich nicht an die demokratischen Spielregeln hält, dann braucht sie sich nicht zu beschweren, dass man keine Rücksicht auf sie nimmt. Also sollte sich die Opposition am demokratischen Spiel der Kräfte beteiligen.

Bei allem Respekt, den der venezolanische Prozess und ihre Anwesenheit hier verdient, von außen betrachtet überrascht mich doch wirklich, dass in Venezuela über die Veränderung einer Verfassung entschieden wird, während die Opposition nicht an diesem Prozess teilnimmt. Liefern Sie auf diese Weise nicht die Gründe für eine schlechte Interpretation was die Rechtmäßigkeit des Ganzen angeht?

Wenn Sie darauf bestehen: an erster Stelle gilt es zu betonen, das der gesamte Prozess auf einer satten Mehrheit beruht. Der Präsident hat das Referendum über seine Abwahl und die letzten Wahlen mit über 60% gewonnen. In der Demokratie ist die Mehrheit zu respektieren.

Natürlich, aber die Opposition ist nun einmal ein grundlegendes Element der Demokratie und dort haben Sie keine.

Die Opposition war, wie ich schon sagte, mit zwei Parteien in der Nationalversammlung zugegen: das wurde im Fernsehen übertragen, sie haben ihre Argumente vorgetragen, neue Vorschläge gemacht. Und nun stammen sogar einige der besagten 25 neuen Artikel von der Opposition, die also pluralistisch und demokratisch das Recht zur Beteiligung hatte. Aber man muss auch schlicht und einfach sehen, dass die Opposition einen Staatsstreich angezettelt hat. Das ist schließlich nicht nur irgend so eine Sache.

Aber Präsident Chávez hat dies doch seinerzeit auch gemacht.

Nein.

Er hat es zumindest versucht.

Nein: das war eine militärische Rebellion, das sind ganz verschiedene Dinge. Außerdem kämpft die Opposition, wenn auch nur in ihrer Minderheit, um Aufnahme ins Parlament und lässt nicht freiwillig einen Platz frei, auf dem sie eigentlich präsent sein müsste, aber die Regierung kann nicht auf künstliche Weise eine Opposition herstellen. Es obliegt der demokratischen Verantwortung der Opposition, diesen Platz für sich zu nutzen.

Zum Schluss, Herr Abgeordneter, noch ihre Meinung: Werden wir noch für eine ganze Reihe von Jahren einen Präsidenten Chávez sehen?

Das entscheidet das Volk: solange er öffentlichen Rückhalt genießt und solange er gesund bleibt, solange da ein Projekt läuft, das seine Anwesenheit verlangt, denn auch Präsident Chávez hat ein Recht auf Mitwirkung, weiter nichts.


Quelle: Tribuna-popular.org