Aufruf zur Solidarität mit Protesten in Kolumbien

Kolumbien-Gruppen in Deutschland rufen zur internationalen Solidarität mit Protesten auf. Protestierende in Kolumbien sind Opfer extremer Polizeigewalt

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Kundgebung in Bonn am 7. Mai
Kundgebung in Bonn am 7. Mai

Wir – die unterzeichnenden Organisationen, Kollektive/Diasporas und Einzelpersonen – bringen hiermit unsere Empörung und enorme Besorgnis über die Reaktion der kolumbianischen Regierung auf die seit dem 28. April andauernden sozialen Proteste zum Ausdruck. Um die aktuellen Proteste in Kolumbien zu unterstützen, kommen inzwischen auch Bürger:innen in Deutschland auf öffentlichen Plätzen zusammen und zeigen ihre Solidarität mit Tausenden Kolumbianer:innen, die ihre Stimme für das Recht auf ein Leben in Frieden und Würde erheben.

Mit dieser gemeinsamen Erklärung bringen wir ein weiteres Mal unsere Ablehnung gegenüber den Aktionen der Regierung zum Ausdruck. Und zwar insbesondere die Aktionen seitens des Verteidigungsministeriums und der Polizeikräfte: Für ihre exzessive Gewaltanwendung, für die Erzeugung einer beispiellosen und völlig inakzeptable Eskalation der Gewalt, für die Verletzung des Rechts auf Protest und für die systematische Ignorierung der Forderungen der Bürger auf den Straßen.

Seit Beginn des nationalen Streiks am 28. April bis zum heutigen Tag haben nationale und internationale Organisationen zahlreiche Beschwerden über Polizeigewalt gemeldet und verifiziert, darunter Opfer von mörderischer Gewalt, Opfer von Folter, Fälle von sexueller Gewalt sowie Beschwerden im Zusammenhang mit willkürlichen Verhaftungen. Protestierende, vor allem jungen Menschen, sind mit massiven Gewalteingriffen der polizeilichen Kräfte konfrontiert. Die Zahlen ändern sich täglich. Auch Pressevertreter:innen, Gesundheitspersonal und Menschenrechtsaktivist:innen sind Opfer willkürlicher Gewalt und Bedrohungen ausgesetzt.

Hintergrund: Warum es die sozialen Proteste gibt

Die sozialen Proteste, die vor allem Garantien zum Schutz der Demokratie anstreben, entstehen als Antwort einer Bevölkerung, die seit mehr als fünf Jahrzehnten gegen Maßnahmen diverser Regierungen und Eliten kämpft. Regierungen und Eliten, die das Armuts- und Ungleichheitsgefälle verschärfen und gleichzeitig staatliche Diskriminierung, Rassismus und strukturelle Gewalt manifestieren. Verschiedene Wirtschaftssektoren, Student:innen, indigene und afrokolumbianische Gruppen, Frauen in all ihrer Vielfalt, LGBTIQ+-Community und Bäuer:innen haben sich bereits im November 2019 vor Beginn der Pandemie zusammengeschlossen und protestierten gemeinsam dagegen. Diese sozialen Bewegungen agieren gemeinsam, nicht nur um eine Steuerreform und eine Gesundheitsreform auszusetzen, die oligopolistische, privatisierte und ineffiziente Systeme begünstigen. Sie wenden sich auch gegen die Verschärfung der Militarisierungspolitik und fordern, dass die kolumbianische Regierung, die für den Krieg bestimmten Mittel in Bildung, Gesundheit und Soziales investiert. Diese Priorisierung von Investitionen in die öffentliche Verteidigung kontrastiert mit der monetären Armut des Landes, die im Dezember 2020 bei 42,5 Prozent lag. Nach neuesten Angaben des Nationalen Statistikamts (Dane) leben 21 Millionen Menschen in Kolumbien in Armut und Obdachlosigkeit.

Ein weiterer Grund für die Proteste: Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens in 2016 wurden mehr als 1.000 soziale Akteur:innen, Umweltschützer:innen, Aktivist:innen, Journalist:innen, professionellen Ökolog:innen und ehemalige Farc-Kämper:Innen systematisch ermordet. Der politische Wille für die Umsetzung dieses Friedensabkommens resultiert bisher ausschließlich in einem rhetorischen Diskurs gegen die Dissidenten der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc-EP) und lässt andere, ebenso wichtige bewaffnete Akteure, wie die Nationale Befreiungsarmee (ELN) und eine Vielzahl paramilitärischer Gruppen außen vor – wobei letztere für die meisten Massaker und Morde an sozialen Akteur:innen in den letzten zwei Jahrzehnten verantwortlich sind.

Obwohl das 2016 unterzeichnete Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla eine solide Grundlage für den Aufbau eines stabilen und dauerhaften Friedens schaffen sollte, wie der vierte umfassende Bericht des Krocs-Instituts belegt, sind die Fortschritte bei der Umsetzung des Abkommens im November 2019 nur ansatzweise erkennbar. Es gibt vor allem Schwierigkeiten:
· mit der Implementierung einer effektiven politischen Beteiligung von Gemeinden und von Opfern
· mit der Substitution des illegalen Anbaus der Koka-Pflanze
· mit der sozioökonomischen Wiedereingliederung von Ex-Kombattanten
· und generell mit der Implementierung auf territorialer Ebene

Auch wenn die von der Regierung vorgenommene Prioritätensetzung in einigen Fragen wichtige Fortschritte ermöglichte, entsprachen diese Fortschritte nicht dem Ziel des Abkommens. Das führte zu weiteren zentralen Forderungen an die kolumbianische Regierung im Rahmen des Nationalen Streiks: die angemessene, vollständige und kohärente Umsetzung jedes der vereinbarten Punkte, da die immer noch bestehenden Bedürfnisse der Opfer des kolumbianischen Konflikts immer noch nicht erfüllt werden.

Selbst inmitten eines scheinbar demokratischen Staates und wie es nur in Diktaturen üblich ist, werden Proteste im In- und Ausland von der kolumbianischen Regierung und insbesondere von der Regierungspartei delegitimiert und kriminalisiert: die traditionellen Medien bieten Raum für Hass und Polarisierungsparolen, die an die aggressivsten Momente des Kalten Krieges erinnern. Dies führt zu einer ständigen und unverhältnismäßigen Konfrontation zwischen den öffentlichen Kräften und den Demonstrant:innen, wobei nachweislich öffentliche Kräfte dabei nicht vor dem Einsatz von Agent Provocateuren zurückschrecken, um die soziale und öffentliche Ordnung noch weiter zu destabilisieren. Die sozialen Proteste werden systematisch als Vandalismus und die Demonstrant:innen als Marionetten in den Diensten unbestimmter internationaler geopolitischer Interessen diffamiert. Trotz zahlreicher Beweise für die Brutalität der Polizei haben sich die traditionellen Medien, Zeitschriften, die großen Zeitungen und die Fernsehnachrichten wie El Tiempo, Caracol, RCN, Semana, u.a. dazu entschlossen, diese zu ignorieren und sogar zu verzerren, was zu zusätzlicher Verbreitung von Falschnachrichten über die Motive und Forderungen des sozialen Protests führt. Es sind die sozialen Netzwerke, wie Facebook, Twitter und Instagram, und die alternativen Medien in Kolumbien im Internet, die es uns heute ermöglichen, das Ausmaß der Übergriffe der letzten Tage zu dokumentieren.

Aufruf zur internationalen Solidarität

Die Regierung von Iván Duque ignoriert jetzt schon seit über drei Wochen die Proteste über die strukturellen Probleme, die sich durch die Pandemie weiter verschlechtert haben. Es hat keinen inklusiven Dialog und Garantien gegeben, der die Teilnahme und sinnvolle Vertretung der vielfältigen und unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen garantiert, die auf den Straßen demonstrieren. Sie werden nach wie vor marginalisiert, diskriminiert und strukturell zum Schweigen gebracht. Die Regierung Kolumbiens ignoriert internationale Konventionen zum Schutz des Rechts auf Protest und auch Aufrufe von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen, der CIDH (Interamerikanischen Menschenrechtskommission), der Europäischen Kommission, mehrerer deutscher, schweizerischer und britischer Parlamentarier oder der deutschen Menschenrechtskommission.

 Unsere Forderungen

Aus diesem Grund fordern wir die internationale Gemeinschaft dazu auf, die Verteidigung und Einhaltung der Menschenrechte und die Umsetzung des Friedensvertrags von 2016 mit aller Entschiedenheit einzufordern. Sie hat bei der Bereitstellung von Ressourcen für die Umsetzung des Abkommens eine wichtige Rolle gespielt. Das Freihandelsabkommen zwischen Kolumbien und Europa steht aus unserer Sicht unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung von Menschenrechten definitiv auf dem Prüfplan. Wir rufen den deutschen Bundestag dazu auf, das Lieferkettengesetz im Sinne der Menschenrechte möglichst schnell zu verabschieden.

Sehr kritisch und für die Deeskalation des Konflikts in Kolumbien überaus wichtig ist der Einsatz von deutschen Waffen, die völlig unsachgemäß und gegen jeden Menschenrechtsnorm gegen die Bürger:innen eingesetzt werden. Daher fordern wir die Gremien der Vereinten Nationen und die Staatschefs der Mitgliedsstaaten dringend auf, vor dem Internationalen Strafgerichtshof die Verübung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit an zivilen Teilnehmer:innen der Proteste durch die kolumbianische Polizeikräfte zu unterstützen, damit alle Verantwortlichen – direkte und indirekte – vor Gericht gestellt werden.

Der Aufruf wird von folgenden Gruppen getragen: Kolumbienkampagne, Colpaz, Unidas por la Paz, Puente Colectivo, Colombia Viva, Was ist Los Kolumbien, Red Colombia Rhein-Main, Raíces Nomades, Videpaz Nordrhein-Westfalen, Colombia Solidaria Hamburgo, Aluna Minga, Ciudadanías por la Paz de Colombia.