Bolivien / Politik

Evo Morales: Soziale Probleme herrschen dort, wo nur einige wenige an der Macht sind

Programmatische Rede des Präsidenten des Plurinationalen Staates Bolivien, Evo Morales, am 4. November 2015 an der Technischen Universität in Berlin

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Evo Morales am 4. November 2015 an der Technischen Universität Berlin
Evo Morales am 4. November 2015 an der Technischen Universität Berlin

Vielen Dank. Ich begrüße meinen Freund, den Rektor der Technischen Universität in Berlin, die Dozenten, die Studierenden, all diejenigen, die hier in der TU zusammengekommen sind, sowie auch unsere Freundinnen und Freunde aus Bolivien, die uns bei dieser Veranstaltung Gesellschaft leisten.

Zunächst möchte ich mich für die Einladung zur Teilnahme an diesem Gespräch über Bolivien, über das neue Bolivien, herzlich bedanken. Wir werden begleitet von unserem Außenminister David Choquehuanca, unserem Planungsminister, dem Bergbauminister, dem Minister für fossile Brennstoffe, der Produktionsministerin, den stellvertretenden Ministern und den Geschäftsführern einiger öffentlicher Unternehmen des Plurinationalen Staates Bolivien.

Wir befinden uns zum Staatsbesuch in Deutschland und hatten schon wichtige Begegnungen mit der hochgeschätzten Bundeskanzlerin, mit Bundestagsabgeordneten und mit weiteren Persönlichkeiten.

Lassen Sie mich kurz erwähnen, liebe Freundinnen und Freunde, dass nach so vielen Jahren der Fremdherrschaft und Unterwerfung in verschiedenen Epochen der Menschheitsgeschichte die Ursprüngliche Indigene Bauernbewegung, die trotz einer Mehrheit im Land am stärksten ausgestoßen, ausgegrenzt, verachtet und gehasst wurde und den größten Diffamierungen in der Geschichte Boliviens ausgesetzt war, nach so vielen sozialen, kommunalen und gewerkschaftlichen Kämpfen im Jahr 1995 gemeinsam mit weiteren Teilen der Gesellschaft beschloss, vom gewerkschaftlichen, sozialen Kampf zu einem Wahlkampf überzugehen. Wir erkannten, dass wir auch politische Rechte hatten, just 500 Jahre nach dem, was für die einen die Entdeckung Amerikas war, für andere die Begegnung zweier Welten, für andere wiederum die Ankunft in der Zivilisation von Abya Yala – wie der amerikanische Kontinent früher hieß –, und für viele schließlich eine europäische Invasion unseres Kontinents.

500 Jahre nach der Invasion haben wir in Amerika Bewegungen organisiert, nämlich das so genannte "Movimiento Indígena Popular", und bei den Gipfeltreffen anlässlich des 500. Jahrestages der Ankunft der Europäer in Amerika haben wir als Indigenen-Bewegung uns vorgenommen, anstatt weiter Widerstand zu leisten, die Macht zu übernehmen. Wir überlegten uns, dass wir Rechte haben, nicht nur wirtschaftliche und soziale Rechte, sondern auch politische Rechte, und so beschlossen wir in Bolivien, uns selbst zu regieren, sodass wir 1995 nicht eine Gruppe von Intellektuellen oder Politologen, und auch keine Gruppe von Akademikern, sondern die Ursprüngliche Indigene Bauernbewegung ins Leben riefen, um ein politisches Instrument der Befreiung, der Sozial-, Kultur- und Wirtschaftspolitik nicht nur für die Indigenenbewegung, sondern für alle Bolivianerinnen und Bolivianer zu schaffen.

Lassen Sie mich meine persönlichen Erfahrungen schildern: Ich zog mit meinen Eltern aus Orinoca (Departement Oruro) im bolivianischen Hochland in die Tropen von Cochabamba, um durchzukommen und die Einkommenssituation zu verbessern, und dort in den Tropen von Cochabamba begriff ich den Gewerkschaftskampf, den sozialen Kampf, begriff ich den ideologischen, politischen, programmatischen Kampf, und ich kann Ihnen sagen, dass er mir keine Angst machte.

Die Grundlagen der imperialistischen Herrschaft

In den Tropen von Cochabamba gab es einen Militärstützpunkt der USA, gab es bewaffnete US-Soldaten, was verfassungswidrig war. Diese bewaffneten US-Soldaten befehligten die Nationalpolizei, die Streitkräfte Boliviens, was ich nicht verstehen konnte, denn kurz zuvor hatte ich meinen Wehrdienst bei den Streitkräften abgeleistet und die Unteroffiziere, meine Ausbilder, hatten mich gelehrt, dass außer mit Genehmigung des Nationalkongresses sich kein bewaff­neter ausländischer Soldat in Bolivien aufhalten dürfe. Es ging jedoch um Unterdrückung. Sie benutzten die Bekämpfung des Drogenhandels als willkommenen Vorwand, um uns zu beherrschen. Mir wurde damals bewusst, dass hinter der Bekämpfung des Drogenhandels klare geopolitische Interessen steckten und es keinen echten Kampf gegen den Drogenhandel gab. So kämpften wir als gewerkschaftliche und kommunale Kräfte, nicht nur als Indigenen-Bewe­gung, sondern auch in Form des Gewerkschaftsbundes COB und weiterer gesellschaftlicher Akteure nicht nur für die Würde und Souveränität des bolivianischen Volkes, sondern auch gegen die imperialistische Dominanz und ihr neoliberales Modell. Und mit großem Erfolg gelang uns 1995 mit den indigenen Bauernorganisationen die Schaffung eines politischen Instruments, einer Gewerkschaft, einer sozialen Bewegung, die schließlich zu einer politischen Kraft wurde. Unser Programm geht dabei zurück auf die jeweiligen Forderungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Regionen, insbesondere nach Würde und Souveränität, politischer wie wirtschaftlicher Souveränität. Das ist unser politisches Instrument.

Ich glaubte nicht, dass unser politisches Instrument es schaffen würde, auf demokratische Weise an die Regierung zu gelangen, und muss Ihnen aus jener Zeit meines Lebens etwas Wichtiges erzählen: Als unsere Bewegung bereits politisch und sozial eine wichtige Rolle in Bolivien spielte, hatte ich Gelegenheit, von Mitternacht bis fünf oder sechs Uhr morgens mit Fidel Castro zu sprechen. Es waren wohlgemerkt die 90er Jahre und ich wollte hören, wann mir Fidel nun von der Guerilla erzählt, und wo man Waffen und Munition kaufen müsse, um Revolution zu machen. Fidel erzählte mir nur von Bildung und von Gesundheit, immer wieder, und ich wartete weiter darauf zu erfahren, wie man Revolution machte, doch auch später keine Rede von Waffen, Munition und Guerillas. Schließlich fragte ich: "Lieber Fidel, wie macht man Revolution, wie muss man sich für den Guerillakampf und die Revolution bewaffnen?" Und Fidel sagte: "Evo, diese Zeiten sind vorbei. Revolution macht man wie in Venezuela, per Abstimmung, auf demokratische Weise." Vergeblich hatte ich die ganze Nacht darauf gewartet, dass Fidel mir sagt, wo man Waffen für die Revolution kauft.

Sie wissen, was es mit den Forderungen in Bolivien auf sich hat und dass ich vielleicht ein Experte für Straßenblockaden und Proteste bin, aber hüben wie drüben gilt, dass sich ohne Dialog ein Problem nicht angehen lässt. In den Medien hörte ich einen bolivianischen Privatunternehmer sagen: „Ich bekomme lieber einen Stein ab als eine Kugel“. Dies machte mich nachdenklich und führte mich zu der Überlegung, dass der Kampf unbewaffnet erfolgen muss, dass die Revolution weder mit Waffen noch mit Munition gemacht wird, sondern mit den Stimmen und dem Gewissen des bolivianischen Volkes. Diese und viele weitere Überlegungen führten uns zu der Erkenntnis, dass es wichtig sei, uns ausgehend von Prinzipien, Werten und Programmen, die aus dem Volk heraus entstehen, parteilich zu organisieren.

Liebe Freundinnen und Freunde, daher stammt unser politisches Instrument, dessen voller Name "Politisches Instrument für die Souveränität der Völker" lautet. Da der ehemalige Nationale Wahlgerichtshof auf Betreiben der US-Botschaft die Rechtmäßigkeit dieses politischen Instruments niemals anerkannte, stellte uns die als legal eingestufte Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo – MAS) einige Personen zur Verfügung, sodass wir deren Bezeichnung übernahmen. Kurz nachdem wir an die Regierung kamen und ich Präsident wurde, nahmen wir das Politische Instrument für die Souveränität der Völker wieder auf. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir nach den Wahlen von 1995 bis zum Jahr 2005 jedes Mal angetreten sind, dass es aber vor allem wichtig war, eine politische Bewegung aufzubauen, deren Programm vom Volk ausgeht und das wieder die Prinzipien aufgreift, die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben, nämlich den antikolonialen Kampf. Wie Sie wissen, wurde die Republik vor 200 Jahren ausgerufen, und es fand ein harter Kampf um die Unabhängigkeit, die erste Befreiung statt. Es gab so viele Tote und Verletzte, vor allem davor opferte die Indigenen-Bewegung ihr Leben, ihre ganze Kraft. Sie wissen sehr gut, dass zu bestimmten Zeiten eine Politik zur Ausrottung der Indigenen-Bewegung bestand und dass einige Länder wie Guatemala, Mexiko, Ecuador, Kolumbien, Bolivien und vor allem unsere Vorfahren dieser Art vom Ausrottungspolitik widerstanden. Nach 500 Jahren des indigenen Widerstands haben wir uns organisiert und es wird nie wieder eine Politik der Ausrottung geben, denn die Zeiten haben sich gewandelt, und zwar, so glaube ich, dank der Geschlossenheit zunächst einmal dieser Bevölkerungsgruppe, nämlich der Indigenen-Bewegung, und zum zweiten aller weiteren Teile der Gesellschaft. Wir haben die inneren wie die äußeren Feinde ausgemacht, und ich kann Ihnen sagen, dass es in dem Land Lateinamerikas und der Karibik mit den meisten Putschen in den 180 Jahren seit Ausrufung der Republik wohl nie zu einer Konsolidierung der Republik gekommen ist. Putsche durch Militärs und Zivilisten, die von außen und von oben angetrieben wurden, nämlich vom US-amerikanischen Imperium, immer wieder Putsche. Ich erinnere mich, dass mir nach meinem Antritt als Staatspräsident ein von der Diktatur ausgewiesener Landsmann einmal riet: "Präsident Evo, nehmen Sie sich vor der US-Botschaft in Acht." Ich verstand das nicht und fragte "Warum denn?". Darauf sagte er: "Nur in den USA kommt es nie zu einem Putsch, weil es dort nämlich keine US-Botschaft gibt“.

Und es stimmt, der Botschafter der USA schmiedete mit meinen Gegnern politische Komplotte und traf sich im Geheimen mit ihnen. Der Außenminister und ich erinnern uns noch sehr gut, wie ich im Jahr 2008 bei einer Veranstaltung mit Jugendlichen ein Programm für menschenwürdige Arbeit vorstellte, und als ich den Jugendlichen das Programm erklärte und erläuterte, fiel mir auf, dass sie nicht applaudierten. Vielleicht drückte ich mich unklar aus, vielleicht war das Programm falsch konzipiert, ich wusste es nicht. Aber an jenen Tagen schmiedete der Botschafter geheime Pläne gegen mich, was mir bereits bekannt war, sodass ich die Veranstaltung nutzte – schließlich war fast die gesamte Presse anwesend– und erklärte, was der US-Botschafter vorhatte und dass er fortan eine unerwünschte Person und dementsprechend auszuweisen sei. Da applaudierten die jungen Leute, diese jungen Antiimperialisten, beim Beschäftigungsprogramm aber nicht.

Wirklich interessant wurde es aber erst, nachdem ich die Öffentlichkeit darüber informiert hatte, dass der Botschafter der USA eine unerwünschte Person sei und nach internationalen Übereinkünften binnen zwei oder drei Tagen Bolivien zu verlassen habe.

Da ich immer irgendwo auf dem Land zu tun habe, nehme ich das Auto, und als ich diesmal beim Außenministerium vorbeifuhr, rief ich meinen Außenminister David Choquehuanca an und sagte ihm, er solle eine offizielle Note aufsetzen, da ich den US-Botschafter zur unerwünschten Person erklärt hätte, worauf er entgegnete: "Das gibt es ja nicht, ich sitze gerade in einer Besprechung mit ihm".

Ich erzähle Ihnen das, weil der US-Botschafter und somit die USA unsere Wirtschaftspolitik bestimmten. Auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der oberste Polizeichef, vor allem Minister, so auch einige Verteidigungsminister, bedurften der Zustimmung der Botschaft, um von der bolivianischen Regierung ernannt werden zu können. Dort fielen die Entscheidungen. Wer keine Zustimmung erhielt, konnte nicht Minister werden. Da könnte ich Ihnen so einiges berichten.

Stellen Sie sich jedenfalls die imperialistische Dominanz in politischen Fragen vor. Und in wirtschaftlichen Fragen war es der Internationale Währungsfonds, der die Entscheidungen traf. Nachdem wir an die Regierung kamen, haben wir die Daten überprüft, und tatsächlich: Ein Kredit in Höhe von 30 oder 40 Millionen Dollar war seitens des IWF an die Bedingung geknüpft, dass die Raffinerien privatisiert werden. Die Regierung musste sie privatisieren, um einen Kredit von 30 oder 40 Millionen Dollar zu erhalten. Wie soll man sich das vorstellen?

Deshalb sage ich, liebe Freundinnen und Freunde, Akademiker, Studierende, dass es diese politische Dominanz und eine wirtschaftliche Dominanz gegeben hat und dass wir jetzt politische Souveränität und wirtschaftliche Souveränität haben.

Der Prozess des Wandels geht weiter

Außerdem möchte ich Ihnen sagen, dass es nicht leicht war, diese Einheit herzustellen und uns mit den verschiedenen Teilen der Gesellschaft zu verständigen. Ich spüre, dass in einigen Ländern Lateinamerikas hier immer noch ein Defizit besteht, denn wir Lateinamerikaner sind organisiert und haben soziale Bewegungen, egal ob Arbeiter, Urvölker, Lehrer oder Kraftfahrer – alle, Bürger und Zivilgesellschaft, selbst Akademiker durch ihre Berufsverbände. Und manchmal ist es eben schwierig, sich zu einigen.

Zumindest in Bolivien haben wir uns mit einem guten Teil der Gesellschaft, nämlich Arbeitern, Urvölkern und einigen Organisationen der Mittelschicht, zusammengeschlossen und in ideologischer, programmatischer und sozialer Hinsicht verständigt. Darin liegt der Vorteil, den dieser Prozess hatte.

Was nun die Wahlen betrifft, so kann ich Ihnen sagen, dass ich zum ersten Mal im Jahr 2002 antrat, und wenn ich ganz ehrlich bin, war ich selbst sehr skeptisch, denn mir wurde vorgeworfen, ich sei ein Drogenhändler, ein Mörder, ein Terrorist, ich gehöre der Koka-Mafia an, um nicht zu sagen Kokain-Mafia. Wissen Sie, was bei den Wahlen 2002 der ehemalige US-Botschafter Manuel Rocha sagte? "Evo ist der Bin Laden der Anden und die Kokabauern die Taliban. Wählt auf keinen Fall den Bin Laden der Anden, denn wenn Ihr ihn wählt und er Präsident wird, dann wird es keine Zusammenarbeit und keine Investitionen mehr geben." Es tut mir leid, dass das bolivianische Volk antiimperialistisch ist, und auch wenn Teile der Gesellschaft zunächst nicht so dachten: Als sie diese Äußerung des US-Botschafters hörten, Evo sei der Bin Laden der Anden, reagierten sie prompt und begannen, für Evo Morales Wahlkampf zu machen und ihn zu wählen, weshalb ich damals immer sagte, mein bester Wahlkampfleiter sei der Botschafter der USA.

Bis ich die Ergebnisse der Wahlen im Jahr 2002 nicht sah, war ich mir selbst nicht sicher. Was sagten die Umfragen? Die MAS würde sechs oder sieben Prozent der Stimmen erhalten, die internationalen Medien sagten "Sie kommen auf zwölf Prozent", und als wir das hörten, war das eine Riesenfreude, stolze zwölf Prozent, aber alle anderen sagten sechs oder sieben Prozent.

Als dann die Wahlen stattfanden, erreichten wir über 20 Prozent. Wahlsieger wurde ein proimperia­listisches, prokapitalistisches und neoliberales Fünf-Parteien-Bündnis der Rechten, das knapp ein Prozent mehr erhielt. Es kam auf über 21 Prozent und übertraf uns um 0,9 Prozent. Außerdem nahm es uns in den Städten Stimmen ab.

2002 gewannen eigentlich wir die Wahlen, was uns überraschte, und sobald wir sahen, dass wir auf über 20 Prozent gekommen waren, und die vereinigte Rechte auf über 21 Prozent, sagte ich: "Jetzt kann ich jederzeit Präsident werden, jetzt muss ich mich vorbereiten." Denn ich war mir nicht sicher, schließlich wurde ich als Drogenhändler bezichtigt, als Bin Laden der Anden, als Mörder. Wie kann ich da Präsident sein?

Natürlich wurde ich dann zur Kandidatur genötigt, womit ich nicht einverstanden war, denn ich war nicht nach Chapare in die Tropenregion gezogen, um führender Politiker oder gar Präsident zu werden, sondern um mit meiner Familie irgendwie durchzukommen.

Während des Wahlkampfs begegnete ich an den Flughäfen einigen Kandidaten der Rechten, Unternehmern. Ich kam immer mutterseelenallein mit meinem Rucksack angetrudelt, um mir die Bordkarte zu besorgen und dann für den Wahlkampf in andere Departements zu fliegen, und sie kamen immer mit ihrem ganzen Gefolge, ihren Sicherheitsleuten, ja selbst Minister waren mit dabei. Da kam jemand auf mich zu und sagte: "Ich möchte kein Kandidat sein, denn ich habe kein Geld." Ein Unternehmer wohlgemerkt. Und da fragte ich mich: Welches Geld habe ich denn, um Präsident zu werden? Gar keines.

Meine Kollegen werden sich erinnern, dass nach den Wahlen 2002 der Staat den Parteien proportional zu den erhaltenen Stimmen Geld geben musste und dass die Ausgaben mit Rechnungen zu belegen waren. Manchmal hatten wir Rechnungen, manchmal aber auch nicht. Ich glaube, dass wir damals weltweit die ersten waren, die gesagt haben: Was machen wir jetzt mit dem Geld? Wir müssen es zurückgeben. Woraufhin wir eine Million Dollar, die der MAS zugestanden hätten, dem Staat zurückgegeben haben. Wobei ich mit einigen Mitgliedern Probleme bekam; einige Mitglieder sagten zu mir: "Evo, es wird halt nicht immer mit Rechnung gekauft, das Geld muss nicht zurückgegeben werden." Aber wenn keine Rechnung da ist, ist keine Rechnung da, was soll ich da machen? Das Geld muss erstattet werden, und wir haben es erstattet, was eine völlige Überraschung war, eine Weltnachricht, und international für Aufsehen sorgte. Eine Partei gibt dem Staat Geld zurück! Nein, wir nahmen uns, was uns zustand, hatten einen Teil ausgegeben, aber eben nicht alles.

Und deshalb möchte ich Ihnen sagen, dass nach meiner Überzeugung das Gewissen und der Kampf des Volkes für das Gewinnen der Wahlen wichtiger ist als Geld. Wir machen immer eine kleine Sammlung, mit freiwilligen Beiträgen, und damit bestreiten wir dann den Wahlkampf.

Wir gewannen die Wahlen, Verzeihung: Wir wurden des Wahlsiegs beraubt, denn diejenigen, die gewonnen hatten, hatten sich mit vier Parteien zusammengetan. Die Nationalistische Revolutionsbewegung (Movimiento Nacionalista Revolucionario – MNR) und andere konnten ebenso wenig eine Mehrheit im Kongress erreichen. Die MAS bzw. ich selbst hätte 2002 Präsident werden können, wenn der Kongress mich gemäß Gesetz und Verfassung unterstützt hätte.

Verzeihen Sie, wenn ich mich so ausdrücke, aber ich denke, wir haben auch hier Befürworter von Imperialismus und Kapitalismus. Nur glaube ich nicht so sehr an die Intelligenz des Kapitalismus, vor allem des US-Imperialismus, wissen Sie? Wäre ich damals US-Botschafter gewesen, dann hätte ich Evo Morales zum Präsidenten gemacht, denn wir verfügten gerade mal über 27 der 130 Abgeordneten und acht der insgesamt 28 Senatoren. Was hätte ich mit acht Senatoren und mit 27 Abgeordneten erreicht? Eine lächerliche Minderheit.

Hätten sie sich geeinigt und mich zum Präsidenten gemacht, dann hätte ich es sicher keine sechs oder sieben Monate ausgehalten. Sie gingen Bündnisse ein, und jener US-Botschafter, der sagte, Evo sei der Bin Laden der Anden, umgab sich nun mit zwei landesweit bekannten kriminellen Politikern, nämlich einem Drogenhändler und einem Korrupten, der ebenfalls mit Drogen handelte. Einer von ihnen ist jetzt in die USA geflohen. Die Bewegung der Revolutionären Linken (Movimiento de Izquierda Revolucionaria – MIR) und die MNR schloss der Botschafter also zusammen, damit die Parlamentarier denjenigen zum Präsidenten wählen, der sich gegen uns durchgesetzt hat, nämlich Gonzalo Sánchez de Lozada. Er war mittendrin. Es gibt Fotos, es gibt Videos, auf denen zu sehen ist, wie der US-Botschafter die Rechte in Reih und Glied antreten ließ. Aber letztlich war ich froh, denn in Wirklichkeit hatten wir kein gutes Regierungsprogramm, und manchmal sage ich, dass sich unser Programm wie der Forderungskatalog des Gewerkschaftsbundes COB las, denn an ihm wirkten einige Gewerkschaftsführer mit. Ich hatte große Angst, aber glücklicherweise täuschten sie sich.

Mittlerweile spüre ich großes Vertrauen. Was ich Ihnen sagen möchte, ist, wie wichtig die Einheit des Volkes war, da es zuvor keine politische Stabilität und deswegen auch keine soziale Stabilität gab, geschweige denn wirtschaftliche Stabilität, und erst recht kein Wachstum und keinen wirtschaftlichen Wohlstand.

Vor meinem Amtsantritt, vor unserem Prozess, vor unserer demokratisch-kulturellen Revolution, die im Januar 2006 beginnt, gab es fünf Jahre lang jährlich einen neuen Präsidenten, und zwar 2001 Banzer, 2002 Tuto Quiroga, 2003 Gonzalo Sánchez de Lozada, 2004 Carlos Mesa und 2005 Rodríguez Veltzé. 2005 gewannen wir die Wahlen und 2006 traten wir diese Präsidentschaft an.

Während ich bei den Streitkräften 1978 meinen Wehrdienst als Soldat ableistete, lernte ich drei Präsidenten kennen. Als ich eingezogen wurde, war General Banzer Präsident, eine Diktatur, dann gab es einen Putsch und General Pereda Asbún kam an die Macht, und ich musste als Soldat die Kokabauern und die Campesino-Bewegung unterdrücken. Ich war recht groß und schlank, sodass man mich für den militärpolizeilichen Dienst bestimmte und zum Generalkommando der Streitkräfte versetzte, als Sicherheitsposten, als Wache. Eines Abends, eines Nachts, verließ ich meinen Kommandanten Padilla, meinen Generalkommandanten, und als ich am nächsten Tag aufwache, ist mein General bereits Präsident. Ich konnte nicht verstehen, was da vor sich ging, es war nicht begreiflich, drei Präsidenten!

Bei einem dieser Putsche 1978 waren binnen 24 Stunden sogar drei Generäle Präsident, ein Triumvirat, sechs Präsidenten allein in einem Jahr. So sah die politische Situation in Bolivien aus.

Inzwischen ist es unsere Verantwortung dafür zu sorgen, dass die soziale Stabilität sichergestellt wird. Aber abgesehen davon bin ich von einer Sache jetzt stärker überzeugt. Denn was haben sie mit uns gemacht? Warum diese Putsche? Schließlich sind im Laufe der Epochen immer politische Befreiungsbewegungen entstanden. Wenn eine Partei der Linken gewann, dauerte es nur Wochen oder Monate, und schon gab es einen Putsch. Wenn die Rechte gewann, gab es nie einen Putsch, für sie gab es Bündnisse und politische Absprachen unter der Protektion der US-Botschaft.

Wenn es soziale Konflikte gab, kamen sie manchmal von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), einer entschiedenen Verfechterin der etablierten rechten Parteien, um sie zu unterstützen. Wenn die neoliberalen Regierungen wirtschaftliche Probleme hatten, stattete die US-Botschaft ihnen einen Besuch im Regierungspalast ab, und beim Verlassen des Gebäudes hieß es "Wir stellen der regierenden Partei zehn, 20 Millionen Dollar zur Verfügung, um die Demokratie zu unterstützen". Uns dagegen, die wir 2005 mit mehr als 50 Prozent demokratisch die Wahlen gewannen, schließen sie vom Anden-Programm für Handelserleichterungen und Drogenbekämpfung (ATPDEA) wie auch vom Entwicklungshilfefonds MCA aus. Ich beschwere mich gar nicht, denn uns geht es besser ohne ATPDEA und ohne MCA. Ihre Beteiligung wäre zwar wünschenswert, aber dafür wird unsere Wirtschaftspolitik jetzt nicht von der US-Regierung bestimmt.

Das sind interessante Entwicklungen, aber ich möchte Ihnen etwas erzählen: Im Jahr 2002 hatten wir Kandidaten, denn davor stellte die siegreiche Partei zwei Senatoren, die nächststärkste Partei einen. Ich hatte Kandidaten für die beiden Senatorensitze sowohl in Potosí als auch in La Paz, aber ich erwähne Potosí, denn die Akademiker wollten sich nicht als Kandidaten aufstellen lassen, also mussten die zwei Bewerber aus der Bauernbewegung aus dem Norden des Departements rekrutiert werden. Da hatte ich also diese beiden Freunde aus dem Norden von Potosí als Erst- und Zweitkandidat, und ein oder zwei Wochen vor der Wahl sagt der zweite: "Lieber Evo, du nutzt mich aus, den zweiten Senatorensitz werden wir nicht erringen, ich verzichte." Ich sagte ihm, er möge doch bitte weitermachen, aber nein, er verzichtete. Und das auch noch sehr spät, denn ich konnte ihn nicht mehr durch jemand anderes ersetzen, und so traten wir mit nur einem Senatskandidaten an.

Bei den Wahlen dann erringen wir mit den Stimmen der Landbevölkerung beide Senatorensitze, und das ohne Kandidaten für den zweiten Sitz. Und der Kollege, der aufgegeben hatte, sagte mir dann: "Lieber Evo, was kann ich jetzt tun? Wir haben ja doch gewonnen." Aber er hatte bereits verzichtet, niemand hat ihn dazu gezwungen. Er war fix und fertig und bereute es natürlich. Es ist kaum zu begreifen: Stellen Sie sich vor, zwei Senatorensitze zu erringen, ohne entsprechende Kandidaten zu haben.

In La Paz hatten wir, wie unser Außenminister hier weiß, eine Kokabäuerin, die als stellvertretende Senatorin kandidierte und die mir sagte: "Ich habe kein Geld, um meine Papiere in Ordnung zu bringen, damit sie vom Wahlgerichtshof beglaubigt werden. Bitte borge mir was." Es ging vielleicht um 100 Bolivianos, etwas mehr als zehn Dollar, aber ich hatte sie auch nicht und sagte ihr, ich könne ihr nichts leihen, tut mir leid. Weil sie ihre Papiere nicht in Ordnung bringen konnte, verzichtete sie auf die Kandidatur. Es finden die Wahlen statt, wir gewinnen sie, und die Kokabäuerin wendet sich weinend an mich: "Was kann ich jetzt tun? Jetzt habe ich die 100 Bolivianos." Aber was nützen die 100 Bolivianos, wenn die Wahlen vorbei sind. Jedenfalls, und ich will das nicht weiter ausführen, nenne ich das das Gewissen des bolivianischen Volkes.

Etwas Wichtiges möchte ich Ihnen aber noch erzählen. Als ich am 22. Januar 2006 mein Amt antrat, was sagten da einige unserer Gegner? "Armer kleiner Indio, der wird nicht regieren können, der ist bald weg, den werden wir verjagen." Diese Putschisten-Mentalität, diese koloniale Mentalität, nichts als putschen. Wie dem auch sei, es verging das erste Regierungs­jahr, wir sorgten für die Einrichtung der verfassunggebenden Versammlung, wir nationalisierten die fossilen Brennstoffe und begannen, die wirtschaftliche Situation zu verbessern.

Als ich nach einem Jahr im Amt meinen Tätigkeitsbericht im Nationalkongress vorstellte – ich sprach wohl drei, vier oder fünf Stunden, wie bei der Gewerkschaft, das sind halt meine Gewerkschafts­erfahrungen – und dem Parlament, ja ganz Bolivien die Dinge erklärte, hieß es bei denen dann: "Dieser Indio bleibt wohl doch eine ganze Weile, wir müssen etwas unternehmen." Und das ganze Jahr 2007 arbeiteten sie darauf hin.

2008 kam dann zuerst das Abberufungsreferendum, das nach der Verfassung natürlich nicht verboten ist, aber vorgesehen ist es dort auch nicht. Wie sagen die Juristen? Was nicht verboten ist, ist erlaubt. Ich fragte mich nur: Wenn wir die Wahlen mit 54 Prozent gewonnen haben, wie können sie dann unsere Abberufung verlangen? Wir hatten wohlgemerkt keine Mehrheit im National­kongress, aber wir haben es akzeptiert.

Für diejenigen, die mit 20 oder 25 Prozent regierten, gab es nie ein Abberufungsreferendum, für mich aber schon. Aus der geplanten Abberufung wurde dann aber eine Bestätigung, man hat uns mit 67 Prozent im Amt bestätigt. Hier spricht das Volk, es ist das Volk, das diesen Prozess will, nicht Evo Morales. Dieser Prozess, diese Revolution ist nicht die des Evo Morales, sondern die des Volkes.

Es scheitert das Abberufungsreferendum, und im September 2008 kommt der Putsch. Ich danke den Streitkräften, dass sie sich dem Putsch nicht angeschlossen haben. Unsere Gegner haben die Kasernen belagert und dort um Unterstützung geworben. Das Volk war natürlich dagegen. Die Unasur trat zusammen und erteilte jeder Art von Staatsstreich eine Absage. Wir konnten den Putsch also niederschlagen.

Danach gab es einen großen Marsch der COB, der sozialen Bewegungen und der MAS, mit dem sich das Volk klar zur Verfassung bekannte. Worum es ging, war kurz gesagt Folgendes: Politisch war es die Neugründung Boliviens, wirtschaftlich die Nationalisierung der natürlichen Ressourcen, sozial die Umverteilung des Reichtums. Darin bestand zusammengefasst unser Regierungsprogramm.

Diese Neugründung Boliviens sicherzustellen, hatte ihren Preis, und 2006, 2007 und 2008 war es ein harter Kampf. Ohne ein solchermaßen organisiertes Volk wäre die entsprechende neue Verfassung sicher nicht angenommen worden.

Vorher hatten wir einen Staat ohne Klassen, einen Scheinstaat, mit Repräsentanten, die sich nur als solche ausgaben. Wenn dieser Kolonialstaat so etwas wie eine Klasse hatte, dann waren es kleine dominierende Gruppen, einige Oligarchien. Wir begrüßen die Privatwirtschaft, aber inzwischen ist die bolivianische Privatwirtschaft nur noch klein und winzig gegenüber den großen Investitionen, die der Staat tätigt.

Aus welchem Grund haben sie uns das neoliberale Modell auferlegt? Sie sagten, der Staat wüsste nicht, wie man wirtschaftet, und erst recht nicht die Linken. Und sie erzählten uns, dass die Indigenen-Bewegung nur zum Wählen, nicht aber zum Regieren tauge. Jetzt haben wir ihnen bewiesen, dass die Indigenen-Bewegung besser regiert als die Neoliberalen, und niemand kann das bestreiten.

Plurinationale gesetzgebende Versammlung

Sicherlich haben einige von Ihnen, vielleicht alle, schon in den Medien gesehen, wie unser Parlament jetzt aussieht. Da sieht man Helme von Bergarbeitern, Helme von Ölarbeitern, Helme von Bauarbeitern, man sieht Akademiker, Intellektuelle, die wirklich das Volk vertreten. Man sieht Polleras in allen Farben – das sind die Röcke, die man bei uns trägt –, Ponchos in allen Farben, aber auch Vertreter der Mittelschicht, ja selbst Vertreterinnen der schönen Frauen wie Miss Bolivien und Schönheitsköniginnen der Departements, die jetzt im Parlament sitzen. Das ist die große Integration, das ist das wirkliche Volk.

Einige Präsidenten, die meiner letzten Amtseinführung beiwohnten, zeigten sich erstaunt, aber das ist das Volk. Davor – bitte verzeihen Sie, es ist nicht despektierlich gemeint – gab es nur Krawatten. Ich möchte jetzt nicht, dass mir die Krawattenträger böse sind, ich verstehe schon. Verzeihen Sie, lieber Rektor. Aber mir hat man gesagt, dass eine Krawatte Herz und Verstand voneinander trennt.

Sie müssen sich also vorstellen, dass sich das geändert hat. Natürlich gibt es noch Krawattenträger, wir brauchen sie, mit ihnen planen wir, selbst unser Planungsminister gehört dazu, der Minister für fossile Brennstoffe, Akademiker, Intellektuelle, die sich für ihr Heimatland einsetzen. Sie sind hochqualifiziert, internationale Einrichtungen bieten ihnen 15 oder 20.000 Dollar, aber sie arbeiten lieber für 2.000 Dollar und helfen ihrem Land. Engagierte Profis, die ihr soziales Gewissen, das von ihrem Gewerkschaftskampf, ihrem sozialen Kampf, ihrem kommunalen Kampf herrührt, mit ihren intellektuellen Fähigkeiten und ihrer fachlichen Qualifikation verbinden.

Jetzt ist es nicht mehr der Internationale Währungsfonds, der die Wirtschaftspolitik bestimmt, sondern es sind wir, die Bolivianer, die entscheiden. Ich habe einmal gesagt: Es sind jetzt nicht mehr die Gringos, die in Bolivien das Sagen haben, sondern die Indios.

Ich möchte Ihnen sagen, dass wir uns, nachdem wir für diese Neugründung Boliviens gesorgt hatten, von einem Kolonialstaat zu einem Plurinationalen Staat gewandelt haben. Wir haben Würde erlangt und sind kein Bettlerstaat, kein Bittsteller mehr wie früher, sondern ein Staat mit Würde, jawohl.

Nationalisierung der fossilen Brennstoffe

Aber hier hat etwas Wichtiges hineingespielt, nämlich die Nationalisierung der fossilen Brennstoffe. Ich will Ihnen gar nicht groß erzählen, wie unsere Planungen verliefen. Das Kabinett wusste nicht Bescheid, nur mein lieber Außenminister und der ehemalige Minister für fossile Brennstoffe wussten Bescheid.

Hinter verschlossenen Türen feilten wir an den Gesetzen, diskutierten, ich hatte sogar Probleme mit den bolivianischen Akademikern. Wie wir schon im Wahlkampf gesagt hatten, wollten wir Teilhaber, und keine Eigentümer oder Herrscher über unsere natürlichen Ressourcen.

Die Präsenz, die Investitionen bolivianischer Unternehmen wie auch internationaler Unternehmen sind wichtig. Laut Verfassung hatten wir nun eine pluralistische Wirtschaft, nach der das Eigentum geachtet wird, nach der Investitionen geachtet und garantiert werden, nach der aber auch das staatliche Eigentum geachtet wird, das kommunale Eigentum, das kollektive, das genossenschaftliche Eigentum. Auch das steht in der Verfassung.

Nun war es so, dass die Fachleute im Ministerium sich auf maximal 70 Prozent für die Bolivianer und 30 Prozent für die Unternehmer einließen, die Teilhaber sind bzw. sein würden. Denn davor, liebe Freundinnen und Freunde, gingen von allen Einnahmen 82 Prozent an das Unternehmen und 18 Prozent an die Bolivianer, das heißt, sie schöpften praktisch das ganze Geld ab.

Der Reichtum wurde exportiert, und das bisschen, das blieb, privatisiert. Jetzt wird der Reichtum nicht exportiert; er bleibt und wird vergesellschaftet, wird demokratisiert. Dieses Geld landet wieder beim bolivianischen Volk.

Als ich Gewerkschaftsführer war und wir zusammen mit der COB die Nationalisierung der fossilen Brennstoffe forderten, was sagten uns da die Regierungen? Dass das Erdgas und das Erdöl den Bolivianern gehöre, solange es unter der Erde sei, und dass es, sobald es an die Oberfläche gelange, nicht mehr den Bolivianern gehöre. Und nach den Verträgen, die sie abschlossen, nach den Bestimmungen, erwirbt der Inhaber, das heißt der Konzern, das Eigentums­recht am Bohrloch. So etwas haben die ersonnen! Wir sagten: Ob drinnen oder draußen, es muss den Bolivianern gehören, es kann nicht nur den Bolivianern gehören, wenn es unter der Erde ist. Wir haben diesen Passus, nach dem der Inhaber das Eigentumsrecht am Bohrloch erwirbt, gestrichen und gesagt, dass es so oder so den Bolivianern gehört. Allerdings hatte ich eine Diskussion mit den Akademikern in Bolivien, denn ich wollte, dass jetzt 82 Prozent den Bolivianern gehört und 18 Prozent den Unternehmen, das war jetzt der Knackpunkt.

Die bolivianischen Akademiker ließen sich maximal auf 70:30 ein. Wie das so ist, holt man sich Experten, ich erinnere mich an Spanier, ich erinnere mich an Kubaner, an Venezolaner und ich glaube auch Ecuadorianer. Wir setzten uns zusammen und ich sagte ihnen: "Also, ich möchte wissen, Kollegen, ob ein Unternehmen auf den großen Öl- und Gasfeldern mit 18 Prozent noch Gewinn erzielt, das möchten Sie doch bitte herausfinden." Ich glaube, das waren zwei oder drei Wochen Arbeit, und die Ausarbeitung des Präsidialdekrets lag solange auf Eis.

Diese Spanier, Venezolaner, auch einige Lateinamerikaner sagten mir dann: "Präsident, mit 18 Prozent bleibt ihnen immer noch ein Gewinn.“ Als mir diese Expertengruppen das sagten, habe ich auf den Minister für fossile Brennstoffe und seine Fachleute nicht mehr gehört, denn sie wollten ja höchstens ein 70:30-Verhältnis, und ich wollte 82:18, also den Spieß komplett umdrehen. So erließen wir das Dekret, nämlich das Präsidialdekret zur Nationalisierung, und sind nun Eigentümer unter wie auch über der Erde, und darüber hinaus werden dem Staat 82 Prozent der Einnahmen zugutekommen.

Die Unternehmen sind wohlgemerkt nicht abgezogen, nur sind sie jetzt nicht mehr Eigentümer oder Herrscher, sondern Teilhaber, und die meisten erbringen eine Dienstleistung. Sie sind gewissermaßen Arbeiter, die wir bezahlen, so wie die Arbeiter in der Anlage zur Flüssigkeits­abscheidung oder der Harnstoff-Anlage. Sie sind nicht Eigentümer, sie erbringen eine Dienstleistung. Samsung etwa baut gerade bei uns. Wir zahlen ihnen 100 Prozent und wenn sie fertig sind, gehen sie.

Durch diese Rückgewinnung hat sich die wirtschaftliche Situation geändert, und als es hieß, bei einer Nationalisierung würde es keine Investitionen mehr geben – und hier sitzt unser Minister für fossile Brennstoffe: Wie hoch waren 2005, bevor ich Präsident wurde, die Investitionen in diesem Sektor? 240 Millionen Dollar, die natürlich von den Ölkonzernen stammten und nicht von den Bolivianern. Und welche Investitionen sind dieses Jahr für den Öl- und Gassektor vorgesehen? 2,4 Milliarden Dollar. 80 Prozent davon sind unser Geld, 20 Prozent sind Beiträge der Unternehmen, und hinzu kommen noch die so genannten rückzahlbaren Kosten, d. h. es werden Beiträge geleistet, die wir dann zurückerstatten.

Mit anderen Worten, 100 Prozent Investitionen. Zu Unrecht sagte man uns, bei einer Nationalisierung würde es keine Investitionen mehr geben. Wir haben nationalisiert, und die Investitionen haben zugenommen, mit unserem Geld und auf würdevolle Weise. Ich möchte Ihnen eines sagen: Es gibt gute Unternehmen, aber auch schlechte. Es gab ein US-amerikanisches Unternehmen, dem die Pipelines gehörten, und wir mussten dringend weitere Pipelines verlegen, um Erdgas zu fördern, nämlich die Gaspipeline Carrasco-Cochabamba (GCC). Da sagt das Unternehmen: "Herr Präsident, die Regierung muss für den Bau dieser Gaspipeline Carrasco-Cochabamba eine Garantie in Höhe von 100 Millionen Dollar leisten." Und ich fragte mich: Das ist doch ein multinationales Unternehmen, eines aus den USA, das mich um Geld angeht, 100 Millionen Dollar als Kreditsicherheit, ich konnte das nicht verstehen.

Während des Verfassungsprozesses hat dieses Unternehmen dann auch noch meine Gegner bezahlt, finanziert. Da habe ich mich geärgert und gesagt: Die Pipelines müssen nationalisiert werden, da wird nicht verhandelt, ob 18:82 oder 50:50, nein, raus. Die Pipelines gehören jetzt wieder uns, das Unternehmen hat das Land verlassen, wir haben ihnen zurückgezahlt, was ihnen für ihre Investitionen zustand, und jetzt haben wir selbst die GCC-Pipeline ausgeführt. Wir haben 40 Millionen Dollar ausgegeben, von unserem eigenen Geld und ohne irgendeinen Kredit. Jetzt überlegen Sie mal, wie die uns übers Ohr gehauen haben und dann noch Geld haben wollten, es ist verrückt. Jedenfalls konnte ich es kaum fassen, wir hatten damit nicht gerechnet, ich bin kein Experte, und der Vizepräsident auch nicht. Aber taucht ein Problem auf, dann sind politische Entscheidungen zu treffen, und so wurde die GCC mittlerweile mit unserem Geld ausgeführt. Ich könnte Ihnen etliche solcher Beispiele aus meiner Amtszeit nennen.

Diese Nationalisierung hat uns wirklich befreit. Wie hoch waren die Einnahmen aus Öl und Gas im Jahr 2005, ohne die direkte Steuer auf fossile Brennstoffe (Impuesto Directo a los Hidro­carburos – IDH), deren Aufnahme in das Gesetz über fossile Brennstoffe wir dank Blockaden, Streiks und Protesten in jenem Jahr erzwingen konnten? 300 Millionen Dollar aus Öl und Gas im Jahr 2005, damit fing es an, dann weitere 300, 600 Millionen Dollar. Und letztes Jahr? 5,4 Milliarden Dollar aus Öl und Gas, wobei wir jetzt, wo der Ölpreis gesunken ist, einige Pro­bleme haben und vielleicht auf 3,5 Milliarden kommen. Ohne die Nationalisierungen und die durch den Kampf des Volkes herbeigeführte Gesetzesänderung gäbe es dieses Geld nicht und wir kämen vielleicht auf Einnahmen von einer Milliarde Dollar. Unsere wirtschaftliche Situation hat sich gewandelt, Die Unternehmen arbeiten weiter, es wird jetzt Investitionen geben, vielleicht einige Unternehmer, deren Repräsentanten, junge Leute, deren Eltern Unternehmer sind. Wir haben das Investitionsgesetz, das Schlichtungs- und Schiedsgesetz verabschiedet, und zwar mit Billigung des bolivianischen Verbandes der Privatunternehmer, ja selbst einige Botschafter waren damals anwesend. Wir haben also gewährleistet, dass investiert wird. Doch noch immer sagen einige, er herrsche keine Rechtssicherheit. Durch die Verfassung und die neuen Vorschriften, die sie ergänzen, herrscht hier jedoch absolute Sicherheit in Bolivien.

Diese Nationalisierung, liebe Freundinnen und Freunde, erlaubte uns also, uns in wirtschaft­licher Hinsicht zu befreien. Wir genießen jetzt wirtschaftliche Souveränität.

Eine kleine Sache sollten Sie auf jeden Fall noch wissen. Am Anfang behandelten uns einige internationale Einrichtungen ein bisschen nach dem Motto "Was kann dieser Indio schon ausrichten, der wird nicht regieren können." Die Weltbank etwa, und erst recht der IWF, wobei wir auf die Einmischung des IWF gerne verzichten können, denn ich bin überzeugt, dass die Länder, die sich dem IWF unterwerfen, wirtschaftliche Probleme haben, und zwar nach meiner Einschätzung weltweit. Aber was ist passiert? Bis 2005 hatten wir in Bolivien wohlgemerkt 40 Jahre lang ein Defizit. Um die Gehälter und das Weihnachtsgeld auszuzahlen, musste Geld geborgt werden, stellen Sie sich das vor! Gerade für das Weihnachtsgeld machte sich zum Ende eines jeden Jahres das Wirtschaftsteam der neoliberalen Regierungen auf den Weg in die USA, um nach Geld zu fragen, um sich Geld zu leihen für das Weihnachtsgeld. Und ich sagte: Was machen wir da? Ich würde zwei oder drei Jahre brauchen, um dafür zu sorgen, dass wir kein Bettlerstaat mehr sind. Doch schon bald nach den Nationalisierungen vom 1.Mai 2006, als ich mit unserem Freund Álvaro García, unserem Vizepräsidenten, im September oder Oktober die Wirtschaftsdaten durchging, fehlte kein Geld, es blieb sogar Geld übrig. Wir waren richtig erschrocken und fragten uns, was wir jetzt machen sollten. Wirklich. Eine Gruppe von Fachleuten im Wirtschaftsministerium, die noch von der neoliberalen Regierung stammten, sagte mir dann: "Präsident Evo, wir müssen ein vernünftiges Paket schnüren und es dem Pariser Klub vorlegen, der Pariser Klub wird uns Geld geben." Ich hörte zu und sagte weder ja noch nein. Ich war nicht einverstanden, aber wenn ich nein sagte, war es vielleicht ein Fehler.

Später sagten mir dann die Wirtschaftsexperten des Finanzministeriums dasselbe: "Präsident Evo, wir müssen ein vernünftiges Paket schnüren, damit uns der Pariser Klub Geld gibt. Er soll außerdem nach Bolivien kommen und hier tagen, dann lässt er sich bestimmt darauf ein und wir machen richtig Geld." Das war die Denkweise der Fachleute im Ministerium, die noch von früher stammten, und vielleicht denken sie heute noch so. Ich bedaure auch sehr, dass wir momentan noch keinen Gesandten nach Deutschland schicken können, weil wir in unserem politischen Team keine Kolleginnen und Kollegen haben, die deutsch sprechen, da hapert es bei uns noch, das geben wir zu. Ah, da drüben haben wir wohl doch Freiwillige, nehmen Sie das zur Kenntnis, Frau Bundeskanzlerin, jetzt haben wir eine Gesandte.

Die Sozialzuschüsse sind garantiert

Was sollten wir also tun? Uns war das nicht geheuer, wir rechneten nochmals durch, doch wie gesagt, es war Geld übrig. Was machen wir jetzt? Und da fiel uns der "Bono Juancito Pinto" ein: Wir beschlossen die Einführung eines Zuschusses für Kinder, die das Schuljahr beenden, denn die Quote der Kinder, die nicht zur Schule gehen, lag bei über sechs Prozent. Damit es keine neuen Analphabeten gibt, beschloss ich also, dort zu investieren, als Sofortmaßnahme, ohne es im Wahlkampf versprochen zu haben. So haben wir also diesen "Bono Juancito Pinto" für die Kinder eingeführt, und jetzt liegt die Quote bei einem Prozent. Wir haben also mit unserem Geld einen wichtigen Schritt getan.

Sie müssen wissen, dass wir Politik machen, indem wir auf das Volk hören. Die Nationalisierung haben wir beschlossen, weil uns die sozialen Bewegungen dazu einen Auftrag erteilt haben. Diesen Auftrag haben wir erfüllt. Die wirtschaftliche Situation hat sich gewandelt, denn früher stand Bolivien beim Wirtschaftswachstum an letzter Stelle in Südamerika, und an vorletzter in ganz Amerika, und dieses Jahr wird es in Südamerika an erster Stelle und amerikaweit wohl an zweiter Stelle stehen. So etwas gab es früher nicht, da müssen Sie sich nur die Wirtschaftsdaten ansehen.

Worum geht es bei dieser Sozialpolitik, dieser Umverteilung, diesem Zuschuss für Kinder, der "Renta Dignidad" für Menschen, die über 60 sind und nie eine staatliche Rente bezogen haben? Worum geht es bei den Programmen, den kleinen Programmen in ländlichen Gebieten, bei denen die Erzeugung mit 70 oder 80 Prozent bezuschusst wird? Nun, es geht darum, die Leute aus der Armut zu befreien. Nach Daten internationaler Organisationen haben wir die Armut von 38 Prozent auf 18 Prozent im Jahr 2013 reduziert. Nach unseren Daten werden wir dieses Jahr eine Armutsquote von 15 Prozent erreichen. Von 38 auf 15 Prozent, das ist das Resultat, und es hat mich sehr beeindruckt.

Das nennen wir Umverteilung des Reichtums. Er wird gebündelt und der Staat bewirtschaftet seine natürlichen Ressourcen. Und abermals möchte ich Ihnen sagen, dass man uns zu Unrecht vorwarf, der Staat wüsste nicht zu wirtschaften, schlimmer noch: schon die Linken, die Antiimperialisten wüssten ihre Unternehmen nicht zu führen, geschweige denn die Indigenen-Bewegung. Die Indigenen-Bewegung tauge, wie ich vorhin schon sagte, zum Wählen, aber nicht zum Regieren. Und jetzt stehen wir hier und sind sehr stolz. Wir machen zwar Fehler, aber wir lernen dazu und regieren jetzt besser, als es früher der Fall war. Wir, die indigene Bauernbewegung, die sozialen Bewegungen, unterstützt von unseren Akademikern. Das ist unsere Erfahrung.

Grundversorgung als Menschenrecht

Nun zu einem wichtigen Thema. Wir haben beschlossen, dass die Grundversorgung ein Menschenrecht sein soll. Wie kann so etwas wie die Grundversorgung ein privates Geschäft sein?

Insbesondere Wasser, aber auch Strom, Telekommunikation, die grundlegenden Dinge eben. Im Jahr 2000 wollten sie das Wasser privatisieren, da sind die Unternehmer, die Akademiker an der Spitze der indigenen Bauernbewegung auf die Barrikaden gegangen, es herrschte Belagerungszustand, und wir konnten die Privatisierung des Wassers verhindern.

Wir hatten das bereits in unser Programm aufgenommen: Wenn wir regieren, dann ist die Grundversorgung ein Menschenrecht. Und wir gewannen, sorgten für die Neugründung Boliviens, verabschiedeten die Politische Staatsverfassung, und inzwischen ist in ihr verankert, dass die Grundversorgung ein Menschenrecht ist. Seit wir an der Regierung sind, sind weder die Wasserpreise noch die Preise für Telekommunikation gestiegen, sehr wohl jedoch die Energiepreise für Unternehmer, denn sie verdienen gut und sollten ihren Beitrag leisten. Dafür haben wir die Preise für die Armen gesenkt, etwa mit der „Tarifa Dignidad“, und gut, wir haben den Energiesektor nationalisiert. Am wichtigsten ist aber, dass wir den Vereinten Nationen einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet haben, vor allem für Wasser, das kein Privatgeschäft sein kann, denn Wasser ist Leben. Wir schlugen das vor, und die Vereinten Nationen beschließen fast einstimmig, dass Wasser ein Menschenrecht, ein weltweites Grundrecht ist.

Jetzt müssen die Regierungen umsetzen, dass Wasser ein Menschenrecht ist. Man wird wohl beginnen müssen, das Geschäft mit dem Wasser zu nationalisieren.

Es handelt sich um politische Maßnahmen, deren Umsetzung enorm wichtig war. Natürlich kann man nicht auf alle Forderungen der letzten 500 Jahre, 200 Jahre oder der letzten 180 Jahre seit Bestehen der Republik eingehen, doch möchte ich Ihnen auch sagen, dass in Bolivien die sozialen Bewegungen an der Regierung sind. Es regieren weder Banker noch Privatunternehmer, das ist ein weiterer erheblicher Unterschied zu anderen Systemen.

Es tut mir leid, aber soziale Probleme herrschen dort, wo nur einige wenige regieren beziehungsweise. an der Macht sind, und wir akzeptieren nicht, dass Oligarchien, Hierarchien oder Monarchien regieren. Ich respektiere, dass es Monarchien in Europa gibt, aber da sollen sie auch bleiben. Monarchien sind nichts für Lateinamerika. In Ihren Ländern ja, das respektieren wir, das ist ein Recht, das wir achten, aber unsere Meinungen gehen eben auseinander.

Liebe Freundinnen und Freunde, wir könnten über so vieles reden, aber Sie sollten auf jeden Fall wissen, dass wir, die wir von der sozialen, von der gewerkschaftlichen Kampfbewegung kommen, an der Seite unserer patriotischen Akademiker dafür gesorgt haben, dass die Politik für den Politiker kein Geschäft ist, kein Gewinn und kein Profit. Für den Politiker bedeutet Politik derzeit Dienstleistung, Verpflichtung und erst recht Aufopferung für unsere Völker. Das ist Politik.

So um 1997 oder 2000 – meine Kollegen hier wissen das – wollte ich nicht für das Parlament und auch nicht für das Präsidentenamt kandidieren, denn ich sagte mir: Wie kann ich einer Gruppe von Leuten angehören, die als Gauner, Schwindler, ja regelrechte Verbrecher verschrien waren? Ich wollte nicht dazugehören, aber man drängte mich ins Parlament. Dann wurde ich hinausgeworfen, worüber ich heilfroh war und was ich nicht bereue. Ich wollte nicht Präsident werden, hatte große Angst, war nicht überzeugt, aber meine Erfahrung als Anführer, die ich an künftige Generationen weitergeben konnte, war eben die, dass wenn ein Anführer seine Basis konsequent verteidigt, so wie ich meine Basis gegen Unterdrückung, gegen Eingriffe von oben etc. verteidigt hatte, dass diese Basis dann auch ihn verteidigt, ja mehr noch, ihren Anführer umsorgt. Und jetzt als Präsident erlebe ich das Gleiche. Ich arbeite Tag und Nacht für Bolivien. Apropos: Heute Morgen nahm mich Kanzlerin Merkel in die Kabinettssitzung mit, und ich fragte, um welche Zeit denn das Kabinett üblicherweise tagt. Mittwochs um neun Uhr, sagte sie. Nun, auch in Bolivien machen wir unsere Kabinettssitzung mittwochs, allerdings schon um fünf Uhr.

Das konnte die Kanzlerin nicht verstehen, nichts als Arbeit. Also, wenn es wirklich Resultate gibt, dann unterstützt einen das Volk, verteidigt es einen und stärkt einem den Rücken. Und in puncto Demokratie möchte ich Ihnen sagen, dass wir die einzige Partei sind, die seit 2005 bei Wahlen und Referenden insgesamt sechsmal gewonnen hat, dreimal mit mehr als 50 Prozent und dreimal mit mehr als 60 Prozent. Das hat es seit Gründung der Republik nie gegeben, und ich sage abermals: Das ist das Gewissen des bolivianischen Volkes.

Patriotische Agenda 2025

Außerdem hat es Erfolge im Bereich der Verwaltung gegeben. Was sind unsere Ziele? Bolivien wurde im Jahr 1825 gegründet, das heißt, die Gründung jährt sich 2025 zum 200. Mal. Für den 200. Jahrestag haben wir uns Großes vorgenommen, den "Plan Bicentenario 2025". Wir arbeiten mit den sozialen Bewegungen an einem Bolivien, wie wir es 2025 sehen wollen: flächendeckende Trinkwasserversorgung, flächendeckende Kanalisation, flächendeckende Energieversorgung – bei der Energie- und Stromversorgung liegen wir momentan bei 90 Prozent –, eine Grundversorgung eben, und null Prozent Armut, wobei es auch in entwickelten Ländern wie den USA oder Deutschland da immer einen kleinen Anteil geben wird, aber eben keine zehn oder 15 Prozent. Jedenfalls wollen wir bis 2020 die Armutsquote auf sieben oder acht Prozent und bis 2025 auf nahezu null Prozent senken, das ist unser Ziel. Wir planen auch Energieausfuhren, worüber wir momentan diskutieren, und ich kann Ihnen versichern, lieber Rektor, liebe Dozenten und Studierenden, dass deutsche Technologie auf der Welt sehr gefragt ist, vor allem für Heizkraftwerke, für die wir einiges eingekauft haben. Trotzdem haben wir ein Handelsbilanzdefizit, das heißt, wir kaufen mehr bei Ihnen als Sie bei uns, und das diskutieren wir gerade.

Wir werden jedenfalls weiter kaufen. Auf dem Plan steht zunächst ein Ausbau unserer Heizkraftwerke. Wie unser Botschafter weiß, werden wir über eine Milliarde Dollar in den Erwerb von Turbinen für die Gas- und Dampf-Kombikraftwerke von Siemens investieren. Ich schätze und bewundere Ihre Technologie, ja ich beneide Sie darum, sie hilft uns wirklich weiter. Wir haben damit Heizkraftwerke gebaut, wir haben sie für die Industrie erworben, etwa die Zuckerfabrik und die Anlagen zur Flüssigkeitsabscheidung. Wir haben es auch mit Windkraft probiert, wobei wir zunächst die Technologie für die Erzeugung von drei Megawatt erworben haben. Es lief gut, jetzt sind wir bei 50 Megawatt, und nächstes Jahr wollen wir mit 200 Megawatt beginnen. Wir möchten also mit deutscher Technologie saubere Energie erzeugen und freuen uns in diesem Zusammenhang sehr über die heute getroffenen Vereinbarungen. Wir haben großes Interesse an weiteren Investitionen.

Wir haben also diese Agenda 2025, konkrete Zielvorgaben, und ich möchte meinen lieben Landsleuten, die hier anwesend sind, sagen, dass wir mehr als genug Energie haben. Wir haben große Reserven. Vor zwei Wochen haben wir mit Argentinien vereinbart, zunächst gut 400 Megawatt zu exportieren. Jetzt, mit der Technologie aus Deutschland, können wir das Investitionstempo weiter erhöhen und in ein oder zwei Jahren 1.000 Megawatt erreichen, was mich wirklich erstaunt und womit ich nicht gerechnet hatte.

Damit wird Bolivien, liebe Freundinnen und Freunde, zum Energiezentrum werden. Wir werden nicht nur Erdgas verkaufen, wie wir es jetzt tun. Als wir an die Regierung kamen, importierten wir Flüssiggas, jetzt exportieren wir es. Wir werden auch verflüssigtes Erdgas exportieren, wir werden vom kommenden Jahr an Harnstoff exportieren, auch ein absolutes Novum. Wir sind bzw. werden zu einem Energieexporteur. So wird die neue Wirtschaft aussehen und das ist das neue Bolivien, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Diese Erfolge geben uns erheblichen Auftrieb in diesem Prozess. Nun sind in einer Demokratie Differenzen zu respektieren. Es gab Anschuldigungen, und einige Kollegen und Minister waren besorgt und sagten, es gäbe ziemlichen Druck aus den sozialen Netzwerken. Aber ich sagte ihnen: Als ich Gewerkschaftsführer war, wurde jede Woche jemand erschossen, an einem Tag sogar drei Menschen, das war echtes Leid. Die Regierung von Banzer, von Tuto Quiroga, alle Regierungen, selbst unter Carlos Mesa wurden zwei Menschen erschossen. Es schmerzte, die Familie protestierte, was sollte man nun tun?

Einige Vorwürfe gibt es noch immer, aber sie sind kaum der Rede wert. Am schlimmsten war es für uns während der verfassungsgebenden Versammlung, da gab es Kundgebungen, es hieß "Weg mit Evo", "Mörderpräsident", Evo sei ein "macaco menor", ein Unteraffe, denn der Oberaffe war ja Hugo Chávez.

Den Evo müsse man umbringen, alles Mögliche haben wir durchgemacht, aber wirklich wichtig hierbei war, Geduld zu bewahren sowie Standhaftigkeit und Zuversicht zu zeigen.

Die Ministerinnen und Minister, die mich begleiten, die ehemaligen Minister, wissen, dass das Kabinett bei der Planung und Durchführung hart ist, aber wir schaffen im Kabinett auch viel Vertrauen, indem wir ehrlich sind. Das wissen die ehemaligen wie auch die neuen Minister: Wir sind ehrlich, um Vertrauen zu schaffen, und deshalb kommen wir voran. Und ganz ehrlich: Ich bin selbst überrascht. Eben erst meinte ich zu David: "Wir Indios, was machen wir hier in Deutschland?" Wir hätten nie gedacht, dieses Projekt einmal so weit zu bringen. Es gibt Probleme, es ist noch viel zu tun, natürlich, das muss gelöst werden. Aber es gibt auch Erfolge und es gibt Vertrauen in unseren Prozess.

Den zahlreichen Kooperationsinitiativen, die sich mit Bolivien solidarisieren, möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Wir werden auch künftig vertrauensvoll zusammenarbeiten und auf diese Weise für Bolivien weiter Geschichte schreiben, und wer weiß, vielleicht auch für andere Teile der Welt, denn unsere Sozialpolitik wird jetzt exportiert, vorher wurde sie importiert. Dies ist ein weiterer Vorteil, den wir haben.

Die Sozialpolitik ist zurückzuführen auf die sozialen Bewegungen. Dabei sehe ich, dass in einigen Ländern Europas, in Lateinamerika, den USA angesichts der Finanzkrise des kapitalistischen Systems Sozialleistungen gestrichen werden. In Bolivien dagegen führen wir weiter neue Sozialleistungen ein.

Im Oktober haben wir das allgemeine Schwangerschaftsgeld eingeführt, das heißt alle Frauen, die schwanger werden, bekommen jetzt eine Beihilfe. Das gab es früher nicht. Und sie gilt nicht nur für Frauen, die arbeiten.

Zum Abschluss möchte ich Ihnen nur noch dies sagen: In Bolivien haben jetzt wirklich nicht mehr die US-amerikanischen Gringos das Sagen, sondern die bolivianischen Indios, zusammen mit unseren Akademikern.

Vielen Dank.