Schweizer Entwicklungshilfe, Nestlé und Wasserprivatisierung

Großkonzerne besetzen zunehmend den öffentlich-rechtlichen und demokratisch legitimierten Raum

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Wasser wird weltweit knapper
Wasser wird weltweit knapper

Im Februar 2019 kündigte die Schweizer Regierung die Gründung einer Stiftung in Genf unter dem Namen "Geneva Science and Diplomacy Anticipator" (GSDA) an. Ziel dieser Stiftung ist es, neue Technologien zu regulieren, zum Beispiel den Umgang mit Drohnen, selbstfahrenden Autos oder Gentechnik, wie der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis anlässlich der Lancierung dieser Initiative erklärte.

Bundesrat Cassis unterstrich, dass sich neue Technologien sehr schnell entwickeln würden und die Stiftung die Folgen dieser Fortschritte für Gesellschaft und Politik “antizipieren" solle. Die GSDA solle auch eine Brücke zwischen der wissenschaftlichen und der diplomatischen Gemeinschaft sein, weshalb sie ihren strategischen Sitz in Genf hat, wo sich mehrere internationale Organisationen der Vereinten Nationen sowie die Welthandelsorganisation (WTO) befinden.

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten wird von 2019 bis 2022 insgesamt drei Millionen Schweizer Franken in die Anfangsphase der Stiftung einbringen. Die Stadt und der Kanton Genf wollen im gleichen Zeitraum jeweils 300.000 Franken zuschießen und es werden auch Beiträge der Privatwirtschaft erwartet.

Als Präsident dieser neuen Stiftung wurde der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Nestlé (2005-2017), Peter Brabeck-Letmathe, gewählt. Vizepräsident ist Patrick Aebischer, der Ex-Präsident der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). Aebischer ist seit 2015 auch Mitglied des Nestlé Health Science Steering Committee, das 2011 von dem Konzern gegründet wurde und sich direkt auf dem Campus der EPFL befindet.

Dass die Wahl für die Leitung der Stiftung ausgerechnet auf Brabeck und Aebischer fiel ‒ beide mit enger Verbindung zu Nestlé ‒ folgt einer klaren Logik: der Anerkennung der Macht des Unternehmens innerhalb der Schweizer Regierung. Ein ehemaliger CEO von Nestlé ist scheinbar per Definition und fraglos kompetent, eine solche Initiative voranzutreiben. Die Wahl von Brabeck ist zudem ein weiteres Beispiel der immer engeren "Partnerschaft" zwischen Regierungen und großen transnationalen Unternehmen. Solche “Partnerschaften” ermöglichen die Herausbildung einer internationalen Konzernoligarchie, die allmählich sichtbar wird und die Macht in den westlichen Demokratien übernimmt.

Es ist ausführlich dokumentiert, dass Nestlé als Privatunternehmen staatliche Regulierung bekämpft hat. Am deutlichsten zeigte dies der Fall der Regulierungsbemühungen von Vermarktungsstandards für Säuglingsnahrung, insbesondere für Milchpulver. Der Konflikt zwischen Nestlé unter der Leitung von Brabeck und dem International Baby Food Action Network (IBFAN) erlangte viel Öffentlichkeit.

Doch die größte Ironie ‒ und die größte Gefahr ‒ ist, dass die Wahl von Brabeck als Stiftungspräsident darauf hindeutet, dass der eigentliche Zweck der GSDA darin besteht, jegliche Formen von Regulierung durch die Regierung zu verhindern. Vielmehr scheint es darum zu gehen, dass der Privatwirtschaft keine Grenzen gesetzt werden, um dank technologischem Fortschritt Profite zu erzielen.

Es ist auch nicht zu erwarten, dass die GSDA den Schutz der Gesellschaft und der Umwelt vor möglichen Bedrohungen durch neue Technologien ins Zentrum stellt. Im Gegenteil: die Einsetzung Brabecks an die Spitze macht deutlich, dass der vorrangige Stiftungszweck die Unterstützung und Verteidigung der Interessen des Privatsektors ist.

Was wir von dieser Stiftung erwarten können sind Vorschläge zur Selbstregulierung durch die Privatwirtschaft, und dies selbst bei Themen, wo sich die Interessenkonflikte sichtbar zugespitzt haben – ein gänzlich ineffizientes Vorgehen. Da es sich bei dieser Stiftung trotz möglicherweise vorherigen Absprachen mit der Wirtschaft vordergründig um eine Initiative der Schweizer Regierung handelt und sie ihren Sitz in Genf hat, wird sie einen enormen Einfluss haben. Soziale Bewegungen sollten die künftigen Schritte der GDSA sorgfältig verfolgen, da sie eine große Bedrohung für die Demokratie darstellt.

Nur wenige Monate nach der Gründung hat die Schweizer Regierung angekündigt, dass Christian Frutiger, Global Head of Public Affairs von Nestlé, in Kürze die Vizepräsidentschaft der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA)Wikipedia: “Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA ist zuständig für die Umsetzung der außenpolitischen Strategie der Schweizerischen Eidgenossenschaft in den Bereichen humanitäre Hilfe, globale und regionale Entwicklungs- und Ostzusammenarbeit. Sie ist eine von sechs Direktionen des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA, des schweizerischen Außenministeriums” übernehmen wird. Ein weiteres Beispiel für die wachsende Zusammenarbeit zwischen Privatwirtschaft und Regierung, diesmal jedoch in einem viel sensibleren Bereich: der Entwicklungszusammenarbeit.

Und dieses Beispiel zeigt auch den wachsenden Einfluss und die Präsenz von Nestlé innerhalb der Schweizer Regierung. Bereits vor mehreren Jahren hat die DEZA die Gründung der Water Resources Group (WRG), der Initiative von Nestlé, Coca-Cola und Pepsi zur Privatisierung von Wasser, finanziell unterstützt und der DEZA-Leiter höchstpersönlich ist Mitglied des Leitungsgremiums, dem WRG-Governance Board.

Der Widerspruch, dass die Schweiz über eine der besten öffentlichen Sanitär- und Wasserversorgungsdienste der Welt verfügt, aber gleichzeitig mit dem Steuergeld der Schweizer Bürgerinnen und Bürger die Wasserprivatisierung im Ausland durch die Partnerschaft der DEZA mit Nestlé unterstützt, scheint niemanden zu stören.

Das Budget der internationalen Zusammenarbeit der Schweiz für den Zeitraum 2017 ‒ 2020 beträgt rund 6,635 Milliarden Franken. Als stellvertretender Direktor wird Christian Frutiger großen Einfluss auf die Entscheidungen über die Verwendung der Gelder haben. Vor allem aber wird er direkt für die Abteilung "Globale Zusammenarbeit" der DEZA und das Globalprogramm Wasser verantwortlich sein.

Frutiger begann seine Karriere bei Nestlé im Jahr 2007 als Public Affairs Manager, nachdem er beim Internationalen Roten Kreuz gearbeitet hatte. Im Jahr 2006 wurde die Nestlé-Marke "Pure Life" für abgefülltes Wasser zur profitabelsten Marke und im Jahr 2007 wurde Nestlé mit dem Kauf der Gruppe Sources Minérales Henniez AG zum führenden Unternehmen für abgefülltes Wasser auf dem Schweizer Markt. Im Jahr 2018, nur ein Jahrzehnt nach seiner Lancierung, wurde "Pure Life" zur weltweit meistverkauften Marke für abgefülltes Wasser. In so einem Kontext war es nur naheliegend, dass sich Frutigers Arbeit als Public Affairs Manager bei Nestlé auf das Thema Wasser konzentrierte.

Im Jahr 2008 kam in der Schweiz der Nestlé-Spionageskandal ans Licht. Ein Schweizer Fernsehjournalist prangerte in einer Sendung an, dass Nestlé das Sicherheitsunternehmen Securitas beauftragt habe, Spione in Nestlé-kritische Gruppen in der Schweiz, insbesondere in die Attac-Gruppe, einzuschleusen. Es ist bestätigt, dass zwischen 2002 und 2003 eine Spionageoperation stattfand, aber es gibt auch Hinweise auf weitere Spionage-Tätigkeiten bis ins Jahr 2006. Attac reichte eine Klage gegen Nestlé und Securitas ein und 2013 wurde Nestlé schließlich deswegen verurteilt. Im Gerichtsfall gab es zudem Hinweise auf die Beteiligung von mindestens vier hochrangigen Nestlé-Managern an dieser Operation.

Die Tatsache, dass Nestlé eine illegale Spionageoperation in der Schweiz organisiert hat und von den Schweizer Gerichten dafür verurteilt wurde, hatte entgegen den Erwartungen indes keinen Einfluss auf die Beziehungen des Unternehmens zum Bund und insbesondere nicht zur Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit. Niemand fragte Brabeck, den damaligen CEO , was man von seinem Unternehmen in Ländern mit schwächeren demokratischen Institutionen erwarten könne, wenn Nestlé selbst in der Schweiz zu Maßnahmen wie Spionage und Infiltration unliebsamer Gegner greift.

Undercover-Agenten mit falschen Identitäten einzusetzen, um die Attac-Gruppe auszuforschen, ist, gelinde gesagt, grob unethisch. Aber es scheint, dass “Ethik” kein Kriterium war, das die DEZA bei der Einstellung von Frutiger berücksichtigte. Denn dieser schwieg während der ganzen Spionage-Skandals, hat sich nie bei den Leuten entschuldigt, die vom Unternehmen, für das er arbeitete, bespitzelt wurden, und er tat alles, um allfällige Auswirkungen oder Reputationsschäden zu minimieren. Mit andern Worten: Er hat das unethische Verhalten seines Arbeitgebers mitunterstüzt.

Aber die Ernennung von Frutiger zum Vize-Direktor der DEZA und die Wahl von Brabeck zum Vorsitzenden der neuen Stiftung der Schweizer Regierung in Genf weisen auf noch viel tiefere und weitreichendere Probleme hin, insbesondere in Bezug auf Wasser. Sie zeigen die starke Verbindung zwischen dem Privatsektor und der Schweizer Regierung auf und deuten auf eine Vertiefung der Privatisierungspolitik insbesondere im Bereich Wasser sowie auf den wachsenden Einfluss und die Kontrolle der Konzerne über die öffentliche Politik hin.

Doch die Wirkung geht weit über die Schweizer Regierung hinaus und wird vor allem auf der Ebene der in Genf vertretenen internationalen Agenturen und Organisationen erfolgen, nicht zuletzt weil die Kontakte zu vielen dieser Organisationen in den neuen Zuständigkeitsbereich von DEZA-Vizedirektor Frutiger fallen.

Dieses Beispiel zeigt auch, dass sich der transnationale Unternehmenssektor sehr bewusst auf verschiedenen Regierungsebenen organisiert und einbringt, um sicherzustellen, dass seine Forderungen und politischen Vorschläge erfüllt werden.

Von den großen Schweizer Hilfswerken ist angesichts dieser Entwicklung keine weitere Reaktion zu erwarten, denn die DEZA ist für fast alle die Hauptgeldgeberin. Dieser Umstand erklärt auch das große Stillschweigen in der Schweiz zu Nestlé und dessen Aktivitäten.

Ein jüngstes Beispiel dafür gab es in Brasilien beim Weltwasserforum in Brasilia im März 2018, einem Anlass, der in Realität vor allem den großen Privatunternehmen dient. Nestlé und die WRG waren im Rahmen des offiziellen Schweizer Pavillons anwesend, ebenso wie Helvetas, Heks und Caritas Schweiz, drei der größten privaten Hilfswerke der Schweiz, die alle von der DEZA unterstützt werden. Heks ist das Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz, Caritas Schweiz dasjenige der Katholischen Kirche.

Während des Forums besetzten 600 Frauen der Landlosenbewegung die Räumlichkeiten von Nestlé in São Lourenço (Minas Gerais, Brasilien), um gegen die von Nestlé und der Flaschenwasserindustrie verursachten Probleme zu protestieren. Keines der Schweizer Hilfswerke bekundete Solidarität mit der Landlosenbewegung, keines der Hilfswerke verurteilte die Praktiken von Nestlé, und keines der Hilfswerke erwähnte bei der Rückkehr in die Schweiz, dass diese Besetzung stattgefunden hat. Gleichzeitig behaupten HEKS und Caritas Schweiz dass sie für das Menschenrecht auf Wasser kämpfen und soziale Bewegungen "unterstützen" würden ‒ doch wenn sie sich gegen Nestlé stellen müssten, scheinen sie ihre eigenen Absichten zu vergessen.

In São Lourenço, in der Region Circuito das Águas in Minas Gerais, und an vielen weiteren Orten in Brasilien gibt es zahlreiche Probleme mit der Übernutzung von Wasser durch Nestlé und viele Bürgerbewegungen versuchen ihre Quellen zu schützen. Obwohl Heks ein Büro in Brasilien hat, suchte das Hilfswerk nie den Kontakt mit den Gruppen, die sich gegen die Wasserausbeutung durch Nestlé wehren.

Für die DEZA sind die Probleme mit Nestlé in vielen Teilen der Welt ‒ nicht nur in Brasilien ‒ anscheinend kein Grund, um die Partnerschaft mit dem Unternehmen zu hinterfragen. Es gibt umfassend dokumentierte Fälle von Wasserübernutzung in Abfüllbetrieben von Nestlé, zum Beispiel in den USA, Kanada oder Frankreich ‒ allesamt Länder mit etablierten Demokratiesystemen. Doch selbst dort ist ersichtlich, dass sich die Regierungen für das Unternehmen einsetzen und nicht davor zurückschrecken, sich damit gegen ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger zu stellen.

In der Stadt Vittel, Frankreich, ist die Situation absurd: Studien französischer Regierungsbehörden zeigen, dass sich der Grundwasserträger, aus dem die Bevölkerung von Vittel ihr Wasser bezieht und aus dem Nestlé ihr Flaschenwasser “Vittel” abpumpt, zu Entleeren droht. Der Grundwasserträger kann langfristig nicht dem Bedarf der lokalen Bevölkerung und der Nutzung des Nestlé-Abfüllbetriebs standhalten. Die von den Behörden vorgeschlagene Lösung: Es soll eine etwa 50 Kilometer lange Pipeline zur Wasserversorgung der Bevölkerung der Region Vittel gebaut werden, damit Nestlé gleichzeitig vor Ort weiterhin das Vittel-Grundwasser abpumpen kann.

In Wellington County, Kanada, hat sich eine lokale Gruppe zusammengetan und die "Wellington Water Watchers" gegründet, um ihr Wasser vor der Übernutzung durch Nestlé zu schützen. Der Konzern hat die Unterstützung der lokalen Regierung, um die Konzession zum Abpumpen des Wassers zu erneuern. Auch in Michigan, USA, zeigt sich eine ganz ähnliche Situation.

Nichts davon scheint die Schweizer Regierung, die DEZA oder Christian Frutiger zu stören. Wenn solche Probleme selbst in Ländern mit etablierten Demokratien auftreten, mag man sich nicht vorstellen, was in andern Ländern geschieht, in denen soziale und politische Organisation in einem viel fragileren Kontext arbeiten. Als derzeitiger Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von Nestlé hat sich Frutiger vor allem damit beschäftigt, die Probleme, die sein Arbeitgeber in vielen Ländern verursacht hat, schönzureden.

Europa hat diesen Sommer unter einer intensiven Hitzewelle gelitten. In Frankreich gab es Wasserrationierungen und vielerorts Waldbrandgefahr. Großstädte wie Paris litten unter Rekordtemperaturen, der Wasserverbrauch steigt an. Andererseits schmelzen die Gletscher in Rekordtempo, das Wasser wird knapper.

Gerade in einer solchen Situation müssen Grundwasserquellen, viele davon fossiles Wasser, als wichtige Ressource für die Zukunft erhalten und daher unberührt bleiben. Doch Konzerne wie Nestlé bringen immer mehr Wasserquellen in ihren Privatbesitz ‒ die verbleibenden unbelasteten Gewässer befinden sich zunehmend in den Händen einiger weniger Unternehmen.

Unter der Regierung von Jair Bolsonaro verschärft sich aktuell die Situation in Brasilien, hat er doch einen Umweltminister, der es sich zur Aufgabe macht, den Ausverkauf der natürlichen Ressourcen an den internationalen Finanzsektor voranzutreiben. Auch hier gibt es eine Verbindung zur Schweiz: Der Hauptaktionär der Ambev-Gruppe ist der Schweiz-Brasilianische Staatsbürger Jorge Paulo Lemann, der über ausgezeichnete Kommunikationskanäle mit der Schweizer Regierung verfügt. Ambev ist auch Teil der WRG, die bereits ihr erstes Büro in Brasilien eröffnet hat, um die Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgungsgesellschaft im Bundesstaat São Paulo (SABESP), zu unterstützen.

Was sich zurzeit in der Schweiz abspielt, ist nur die Spitze des Eisbergs, der sichtbare Teil eines internationalen Trends, bei dem Großkonzerne zunehmend den öffentlich-rechtlichen und demokratisch legitimierten Raum besetzen und als Weltkonzern-Oligarchie politische Entscheidungen durchsetzen. Wir müssen wachsam und gut organisiert sein, um unsere Gewässer, unsere Erde und unsere Gesellschaft vor dem Angriff auf das Gemeinwohl zu schützen.