Brasilien: Bedrohter Aktivismus

Der "Runde Tisch Brasilien" traf am Wochenende in Bonn zusammen. Brasiliensolidarität KoBra e.V. erhält erste Anfragen wegen politischem Asyl in Deutschland und sammelt Kontakte zu Helfern

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Transparent der katholischen Jugendpastorale bei der KoBra-Tagung in Bonn
Transparent der katholischen Jugendpastorale bei der KoBra-Tagung in Bonn

Bonn. Drei Wochen nach der Wahl des ultrarechten Jair Bolsonaro haben sich 115 Akteure der deutsch-brasilianischen Brasiliensolidarität in Bonn getroffen. Unter dem neu gewählten Präsidenten befürchten sie massive Repressionsmaßnahmen gegen die sozialen Bewegungen im Land.

Die brasilianische Landlosenbewegung (MST) wird möglicherweise als terroristische Vereinigung kriminalisiert werden. Soziale Bewegungen in Brasilien fürchten, in Zukunft entrechtet, gegängelt, totgespart und verboten zu werden. Am vergangenen Wochenende hat KoBra e.V., der Verein zur Brasiliensolidarität, ein wichtiges und intensives deutsch-brasilianisches Treffen zum erschütternden Rechtsruck seit der Wahl in Brasilien und zu Handlungsstrategien veranstaltet.

Beim "Runden Tisch Brasilien" zum Thema Jugend waren mit vertreten: Amnesty International, Terre des Hommes, die Anti-Hunger-Hilfsorganisation FIAN, die Heinrich-Böll-Stiftung der Grünen, die Brasiliensolidarität der Gewerkschaften und Studenten aus der Gruppe „Amigos do MST“. Die christlichen Hilfsorganisationen Brot für die Welt, Caritas International, Adveniat, Misereor haben den politischen Austausch finanziell ermöglicht und sich an den Diskussionen beteiligt.

115 Teilnehmer haben sich von 16. bis 18. November in Bonn getroffen, rund 40 waren Brasilianer, aus Salvador de Bahia oder dem Bundestaat Paraiba im Nordosten Brasilien. Aus Rio de Janeiro waren Jugend-Sozialarbeiterinnen eingeladen und eine Journalistin aus der Favela. Brasilianische Bildungsexperten, Akteure sozialer Bewegungen haben mit Brasilienfreunden und Pfarrern detailliert zum Thema diskutiert. "Was tun?“, so ihre Frage vor einem ungewissen, aber möglichen zukünftigen Repressions-Szenario in Brasilien.

Mit dem parlamentarischen Putsch gegen Dilma Rousseff, dem jüngsten Wahlkampf und der Wahl des ultrarechten Bolsonaro, der am 1. Januar 2019 sein Amt antreten wird, erlebt Brasilien eine Welle von Intoleranz und Aggressivität.

Das Klima zunehmender Bedrohung ist auf dem Podium und in Workshops analysiert worden: "Ich weiß nicht, ob ich in einem Jahr noch am Leben sein werde", sagt Adriano Ferreira von der Bewegung der Landarbeiterinnen und Landarbeiter in Brasilien (MTC). Der Aktivist fürchtet, dass unter der Präsidentschaft von Bolsonaro sein Leben in Gefahr geraten könnte. Viele andere Engagierte in sozialen Bewegungen spüren die Bedrohung ebenfalls. "Wir haben bereits viele Anfragen von Brasilianern zu politischem Asyl in Deutschland erhalten", sagt Fabian Kern, Pressesprecher von KoBra. In der KoBra-Kartei befinden sich aktuell über neue 500 Kontakte, sowohl zu fluchtwilligen Brasilianern als auch zu möglichen deutschen Helfern.

"Im Wahlkampf sind Menschen, die als Zeichen ihrer linken politischen Überzeugung rote T-Shirts trugen, mit dem Auto angefahren worden. Ich selbst habe nach einer "Ele não"-Kundgebung gegen Bolsonaro in Rio auf dem Weg nach Hause meinen Ele não-Button aus Sicherheitsgründen abgelegt", berichtet die 29-jährige Lana de Souza. Sie kommt vom alternativen Journalisten-Kollektiv Papo Reto der Favela. Die schwarze Journalistin lebt in Rios größter Armensiedlung Complexo do Alemão, deren Bewohner zur größten Überraschung der jungen Aktivistin mehrheitlich für den Ultrarechten gestimmt haben: "Einserseits manipuliert von Fake-News über Whatsapp, andererseits weil die intellektuellere Sprache der Arbeiterpartei ohne den volkstümlichen Lula dort nicht so gut verstanden wird", analysiert sie.

Als Reaktion auf das mögliche Bedrohungsszenario im Land habe die Dachorganisation aller brasilianischen Nichtregierungsorganisationen gerade beschlossen, sich ab sofort öfter zu treffen, berichtet Claudia Fix von Misereor. Die "Abong" (abong.org.br) wolle verstärkt zur Basisarbeit vor Ort zurückzukehren. Der Verband, dem mehrere hundert brasilianische NGO´s angehören, will vermehrt agieren, nicht nur reagieren.

Podiumsteilnehmerin Regina Leão von der katholischen Jugendpastorale (Pastoral do Menor) konfrontiert den Runden Tisch mit der Zahl, dass in Rio de Janeiro im Durchschnitt jeden Tag 31 junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren ermordet würden. 70 Prozent hätten eine schwarze Hautfarbe. "Das ist ein Genozid an der Jugend", hält sie fest. Ihr mache Sorge, dass die Regierung Bolsonaro die Gefängnistrafe für jugendliche Straftäter von aktuell höchstens drei auf zehn Jahre erhöhen will. Leão betont, wie wichtig es ist, gerade jetzt die Kinder und jungen Menschen in Brasilien mit ins Boot zu holen. Deren Forderung sei: "Sprich nicht über mich, sprich mit mir". "Wir sollten mit ihnen direkt über ihre Bedürfnisse sprechen", regt sie an: "Jugendliche sagen zu mir: Wir als Kinder hatten Angst vorm Dunklen. Aber ihr Erwachsene habt Angst vor unseren Wünschen", erklärt sie zum Verständnis der "unsichtbaren" und vernachlässigten Jugend nicht nur in den brasilianischen Favelas.

Tatiane Elizeu Andrade, vom bekannten Favela-Projekt Monte Azul in São Paulo, merkt an: "Jungen Leuten in Brasiliens Peripherie fehlt die Kultur, etwas nachzuforschen oder aktiv im Internet zu suchen. Jugendliche schauen Videos, die automatisch vorgeschlagen werden." Über die Quelle dieser Filmchen würden sie nicht nachdenken. "Es ist wesentlich, hier mehr Wissen zu verbreiten, wie man Medien kritisch nutzt", so ihre Forderung. Ihr Plädoyer gehe in die Richtung einer "Pädagogik der Liebe", fasst ein Moderator die Strategie zusammen, die die Aktivistin vorschlägt: Sich jetzt keinesfalls von Nachbarn oder Familienangehörigen, die Bolsonaro gewählt haben, zu distanzieren. "Sonst schenken wir Bolsonaro diese Menschen", so Elizeu Andrade. Stattdessen solle man im Gespräch bleiben und so vielleicht die andere Seite umstimmen. "Selbst besser argumentieren lernen, mit Fakten und Zahlen. Das ist von nun an höchst wichtig", ist die schwarze Vorständin bei Monte Azul überzeugt.

Auf das Problem der "richtigen Sprache" hat Favela-Journalistin Lana de Souza mehrmals hingewiesen: "Nicht einmal meiner Mutter konnte ich richtig erklären, was Faschismus ist. Wir hier auf der Brasilien-Tagung verstehen uns mit unserem Menschenrechts-Diskurs sehr gut, aber das reicht nicht aus. Unsere Sprache kommt bei den einfachen Leuten nicht an. Sie müssen uns und unsere Anliegen ganz klar verstehen. Das ist jetzt die Herausforderung."

Thomas Fatheuer, KoBra-Vorstand, vormals Experte der Heinrich-Böll-Stiftung für Brasilien, thematisiert ein mögliches Dilemma der zukünftigen Entwicklungszusammenarbeit. Als strategisches Partnerland von Deutschland fänden die Verhandlungen mit Brasilien auf der hohen Ebene direkter Gespräche unter Präsidenten und Ministern statt. Während der Regierung von De-facto-Präsident Michel Temer waren die Gespräche ausgesetzt worden. Die brasilianische Indigenenschutzbehörde FUNAI sei jedoch ab 1. Januar 2019 dem Justizministerium mit Sérgio Moro als Kopf unterstellt. Moro ist der parteiische Richter der Ex-Präsident Lula ins Gefängnis gebracht hat. "Soll die Kooperation fortgeführt werden, um das Schlimmste zu verhindern, oder müssen wir uns aus einer Regierung mit Bolsonaro und Moro Regierung raushalten? Wir können doch nicht so eine perverse Regierung mit unserem Geld unterstützen", meint Fatheuer.

Die Forderung des KoBra-Vorstands: Die ersten 100 Tage der Regierung Bolsonaro bleiben abzuwarten. Danach müsse sich der deutsche Staat auf jeden Fall dafür einsetzen, "dass Spielräume für die Aktivisten der Zivilgesellschaft und für die Solidarität mit Brasilien erhalten bleiben."

Als Brasilianer von Misereor, der in der Unterstützung von Sozialen Bewegungen engagiert ist (CAIS), geht es Referent Adriano Martins um den konkreten Kampf um die Ressourcen: "Die neue Herausforderung heißt Nachhaltigkeit in der Finanzierung unserer sozialen Bewegungen. Wir brauchen mehr Geld und mehr Aktivismus, um die Menschenrechte in Brasilien verteidigen zu können."

Norbert Bolte vom katholischen Hilfswerk Adveniat in Essen teilt die Sorge über eine mögliche Gefährdung der Partnerorganisationen in Brasilien, "die in sensiblen Bereichen tätig sind". Er spricht aus, was viele denken: "Es hat mich berührt, dass Adriano von der Landarbeiterbewegung gesagt hat, dass er heute nicht weiß, ob er in einem Jahr noch lebt." Regina Leão, die Sozialarbeit für brasilianische Jugendliche macht, dankt für das Forum und formuliert ihr Anliegen: "Es geht um Ungerechtigkeit und um Menschenrechte: Ihr in Deutschland könnt uns helfen zu lächeln, zu kämpfen und nicht aufzugeben."


Informationen:

Für die Brasilien-Netzwerker von Kobra e.V. liegt der Fokus jetzt auch in einer Öffnung für neue Mitglieder aus dem Bereich der Menschenrechtsverteidigung. Mitte Dezember ist ein Treffen der Kooperation Brasilien mit den deutschen und brasilianischen "Ele-não"-Demonstranten aus Berlin geplant. Infos unter: www.kooperation-brasilien.org

Wer ist KoBra? Der Verein aus Freiburg vernetzt Akteure und Organisationen der Brasilien-Solidarität. Der Verein arbeitet politisch für die Anliegen der sozialen Bewegungen in Brasilien. Der jährliche "Runde Tisch Brasilien" ist eine feste Instanz seit weit über 20 Jahren. 13 Organisationen mit starkem Brasilienbezug, teils mit Projekten in Brasilien, tauschen sich hier aus, über Vorträge, Debatten, Videos, Flyer und Broschüren auf den Ausstellungstischen.