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Berlinale Rezensionen: "Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas" und "Vazante"

Ein Dokumentarfilm aus Peru und ein Historiendrama aus Brasilien

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Filmstill "Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas"
Filmstill "Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas"

Entschleunigung in Grün

"Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas" ist das Gegenteil von tempogeladenem Actionkino. Dafür führt er uns in die Realität indigenen Lebens

Langsam, fast träge bewegt sich der Fluss. Unzählige Blätter spiegeln sich zitternd auf der Wasseroberfläche, die ebenso gut der Himmel sein könnte, würde darauf nicht das Boot gleiten, das die Kamera trägt. Als die schamanischen Gesänge, die die Fahrt untermalen, abebben, scheint es, als würden Zeit und Raum unwichtig in der ewiggrünen, nur durch das gelegentliche Plätschern eines Ruders unterbrochenen Stille. Währenddessen bereitet der Fischer, dem das Ruder gehört, in aller Bedächtigkeit seine Angel für den Fang vor.

Schon kurz nach Beginn des Films beschleicht den Zuschauer von "Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas" eine Ahnung, die sehr bald zur Gewissheit wird: Viele atemberaubende Szenen werden sich in den kommenden 70 Minuten nicht abspielen. Aber das ist auch gar nicht die Absicht der Dokumentation von Alvaro und Diego Sarmiento, die ihr filmisches Werk der Verteidigung indigener Lebensformen und deren Lebensraum gewidmet haben. In "Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas" nähern sie sich den Gemeinschaften der Quechua-Lamista im peruanischen Amazonasgebiet. Deren Mitglieder sind Überlebende, denn 90 Prozent der indigenen Bewohner der Amazonasregion starben während des Kautschukbooms im 19. Jahrhundert. Die Sarmiento-Brüder zeigen die Lebensweise der Quechua-Lamista in einer radikalen Authentizität. Es gibt keinerlei Kommentare, keine Interviews, keinen Spannungsbogen. Die Protagonisten sind Menschen, die von Fischfang, Jagd oder Subsistenzwirtschaft leben. Wer hier konfrontative Zuspitzung, halsbrecherische Kamerafahrten oder gar exotische Riten erwartet, ist fehl am Platz. Stattdessen werden Maniokwurzeln geerntet und Raupen gesammelt, Tücher gewebt und selbstgedrehte Zigaretten geraucht. Als dramatische Höhepunkte können die Szenen gelten, in denen ein Schwein entläuft und ein Junge seinen Vater beim Fischfang übertrumpft. Die Gespräche beschränken sich auf Alltagskonversation. Und auch von den titelgebenden Yakurunas – sirenenhaften, mythologischen Wesen, die als Wassergeister auf dem Grund des Amazonas leben sollen – ist nicht im Entferntesten etwas zu hören und schon gar nicht zu sehen.

Und doch erreicht der Film genau dadurch, dass fast nichts passiert, sein Ziel, authentisch zu dokumentieren: Alles andere liefe dem Lebensrhythmus im Amazonasgebiet schließlich vollkommen entgegen. Was hier zählt sind Harmonie und ein Leben im Rhythmus der Natur. Der Filmfestival-Logik unvorhersehbarer Plot-Twists und spektakulärer cineastischen Effekte begegnet "Rio Verde. El tiempo de los Yakurunas" mit einem fast schon meditativen Kontrapunkt, der dennoch nicht reiner Selbstzweck ist. Denn die oft sinnlose und unbefriedigende Hektik nicht nur der globalisierten Welt sondern auch einer atemlosen Aneinanderreihung hunderter filmisch erzählter Geschichten wird am besten durch die Dokumentation des Alltags einer davon völlig entkoppelten Gegenrealität gespiegelt. Es tut gut, diesen Film zu sehen, gerade weil er den Erwartungen an immer neue Sensationen und Erkenntnisse nicht gerecht wird. Stattdessen taucht das Publikum ein in eine Welt, in der Film- und Lebenszeit nur eine untergeordnete Rolle spielen. Eine Welt, die das Publikum auf diese Weise nicht mit dem Blick eines eventfixierten Ethno-Touristen, sondern als gleichberechtigtes Mitglied einer Gemeinschaft kennenlernen darf. Damit hat der Film durch seinen Verzicht auf jede Effekthascherei zweierlei geschaffen: Eine authentische und notwendige Dokumentation indigener Lebensweise im 21. Jahrhundert. Und einen Rückzugsraum für gestresste Berlinale-Touristen, die eine Auszeit vom hektischen und anstrengenden Gegenwartskino benötigen.

Koloniale Tristesse

Dem brasilianischen Historiendrama "Vazante" gelingt der große Wurf aufgrund dramaturgischer Schwächen nicht ganz

Brasilien, 1821. Irgendwo im Hinterland des Bundesstaates Minas Gerais liegt eine einsame Farm, auf der neben ein paar mageren Rindern und Hühnern auch der Minenbesitzer Antonio mit seiner Familie und seinen Sklaven lebt. Gleich zu Beginn des Films ereignet sich aber eine Tragödie: Antonios Frau stirbt bei der Geburt ihres ersten Kindes. Von diesem Schock wird sich der fortan fast permanent entrückt wirkende Gutsherr im Laufe der Geschichte nie wieder erholen.

Auch wirtschaftlich waren die Zeiten für Antonio schon rosiger: Aus seiner Diamantenmine lässt sich nichts mehr herausholen und mit Landwirtschaft hat er keine Erfahrung. Deshalb versucht er mit Hilfe des befreiten Sklaven Jeremias, sein bislang unfruchtbares Land urbar zu machen. Dabei zeigt dieser zwar durchaus Geschick, verliert aber durch sein brutales und gnadenloses Auftreten die Kontrolle über die Sklaven, die zu rebellieren beginnen.

Währenddessen erkennt die Familie von Antonios Schwager, die ebenfalls auf der Farm wohnt, die Zeichen der Zeit und zieht zurück in die Stadt. Ihre frühreife 12jährige Tochter Beatriz lässt sich jedoch unglücklicherweise kurz vorher noch mit Antonio ein, was in eine Hochzeit mit dem Gutsbesitzer mündet. Fortan muss sie, selbst noch ein Kind, ohne Familie auf der einsamen Farm des apathischen Eigenbrötlers zurechtkommen. Der ist selbst oft abwesend oder betrunken und nimmt sich Sklavinnen mit ins Bett, wenn ihm seine um Jahrzehnte jüngere Frau nicht zu Willen ist. Auch Beatriz wendet sich deswegen mehr dem Personal auf der Farm als ihrem Ehemann zu, so dass der Film unausweichlich auf die Katastrophe zusteuert.

Regisseurin Daniela Thomas hat bereits in ihrer Arbeit für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Rio gezeigt, dass sie eine Meisterin des Visuellen ist. Und auch mit "Vazante" beweist sie, dass sie ihr Handwerk beherrscht. Eindrucksvolle Aufnahmen der beeindruckenden Landschaft in Minas Gerais, sehr realistisch nachgebaute Kulissen und die klug gewählte Schwarz-Weiß-Optik schaffen eine Atmosphäre, die den Betrachter unmittelbar in die bedrückende Endzeitstimmung der letzten Jahre der Kolonialzeit eintauchen lässt. Das Drehbuch des Films weist hingegen deutliche Schwächen auf. Von Beginn an wird schnell klar, auf welchen Abgrund der Plot zusteuert und es geschieht zwei Stunden lang nichts, was daran Zweifel aufkommen lassen könnte. Als es dann endlich interessant werden könnte, ist der Film leider abrupt zu Ende. Da auch die Dialoge karg bleiben, wirkt "Vazante" um mindestens eine halbe Stunde zu lang geraten. Zudem erscheinen die Charaktere trotz guter schauspielerischer Leistungen arg klischeehaft und einige Dinge bleiben bis zum Ende unerklärbar. Wieso würde eine Familie, die bei Sinnen ist, ihre geliebte 12-jährige Tochter klaglos in den Händen eines offensichtlich Wahnsinnigen auf einer Farm am Ende der Welt zurücklassen? Selbst in der konservativen kolonialen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erscheint das nicht wahrscheinlich. Eine Empfehlung für den Film kann man also nur bedingt aussprechen: Wer schöne, beeindruckende Bilder sehen und ein Gefühl für die kolonialen Verhältnisse in Brasilien bekommen möchte, trifft mit "Vazante" eine gute Wahl. Zuschauer, die an einer dramaturgisch ausgereiften Geschichte interessiert sind, sollten sich dagegen vielleicht noch bis zum Start des Wettbewerbsbeitrags "Joaquim", der in der gleichen Epoche spielt, gedulden.

Dominik Zimmer

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