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Berlinale-Rezensionen: "Rifle" und "La libertad del diablo"

Ein Spielfilm aus Brasilien und eine Dokumentation über die grausame Realität des mexikanischen Drogenkrieges

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Filmstill "Rifle"
Filmstill "Rifle"

Rächer von der traurigen Gestalt

"Rifle" macht leider zu wenig aus einer sehr interessanten Ausgangssituation

Viel ist nicht los im Süden Brasiliens, an der Grenze zu Uruguay. Karges Grasland, ein paar Hügel, einige versprengte Rinderfarmen. Kein Wunder, dass die Jugend hier fast ausnahmslos wegzieht, um in der Stadt ihr Glück, also Arbeit und ein wenig Abwechslung zu finden. Nicht so Dione (brasilienerfahrenen Namenskennern wird auffallen, dass es sich hier um den naturalisierten Cowboynamen "Johnny" handelt), der aus der Stadt zurück aufs Land gezogen ist. Obwohl er jung ist. Doch der Militärdienst dort, wer will es ihm verdenken, hat ihn der Erfüllung seines Lebenstraums auch nicht besonders viel näher gebracht. In der Stadt, so meint Dione, gäbe es auch bloß Egoisten und man könne nicht machen was man wolle. Und so verdingt er sich mit Gelegenheitsjobs auf der Farm des alten Evaristo und bemüht sich nach Kräften, die Sojafarmer der großen Agrarunternehmen zu vergrätzen. Die schwirren nämlich wie die Fliegen mit ihren Geländewagen zwischen den Feldern umher und versuchen, sich die letzten Fleckchen Land unter den Namen zu reißen, die noch nicht mit einen Firmensiegel markiert sind. Dione will aber bleiben, und zwar als Rinderfarmer, der irgendwann sein eigenes Stück Land besitzt. Das große Geld ist ihm egal und bei der Aussichtslosigkeit des Unterfangens irgendwann auch Gewalt ein legitimes Mittel, um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Wie gut trifft es sich da, dass er im Schuppen hinter einem verrosteten Computer noch eine alte Flinte (portugiesisch: "Rifle") hervorzieht. Diese ist zwar genau wie er ein Anachronismus, aber sie erfüllt durchaus ihren Zweck, als er sich wie ein Rächer von der traurigen Gestalt auf seinen Feldzug begibt. Dieser richtet sich vor allem gegen die Autos der Großgrundbesitzer, deren Reifen Dione mit Vorliebe beim Vorbeifahren durchlöchert. Nur beim Kampf gegen diese Windmühlen aus Blech kann es irgendwann aber natürlich nicht mehr bleiben.

Diese sehr reizvollen Ausgangsvoraussetzung, die sich der brasilianische Regisseur Davi Pretto für seinen ersten Spielfilm ausgedacht hat, tragen aber leider nicht die ganze, mit Laienschauspielern aus der Region gedrehte Geschichte. Irgendwann werden Diones Motive unklarer, er weiß nicht mehr so recht, was und wohin er will und mit ihm auch der Film. So richtig nimmt man ihm den Desperado am Schluss nicht mehr ab, weil zu viele Szenen ohne erkennbaren Erzählfluss nebeneinanderstehen. Schade, so wirkt ein reizvoll konzipierter Plot zu einer hochaktuellen Thematik am Ende etwas unausgegoren und verhallt wie das Echo der Schüsse aus Diones "Rifle" in der kargen Landschaft.

Dem Horror in die Augen sehen

Die Dokumentation "La libertad del diablo" zeigt die grausame Realität des mexikanischen Drogenkrieges hautnah und schockierend

Eines sei vorweg gestellt: Wer "La libertad del diablo" bis zum Ende sehen will, der muss hart gesotten sein. Fiktionale Darstellungen der Drogenmafia haben seit Jahren Hochkonjunktur, sind aber meist verpackt in einen unterhaltsamen Kinoabend mit Comic-Gemetzel im Stile eines Quentin Tarantino oder höchstens in kurzfristiges Befindlichkeits-Jojo á la Breaking Bad. Und man vergisst dabei schnell, dass diese Geschichten ihren Ursprung in der Realität haben. An Zahlen alleine lässt sie sich nur schwer ermessen. 20.000 Tote durch den Drogenkrieg alleine jedes Jahr in Mexiko sind zu viel, um das Ausmaß des Horrors verarbeiten zu können. Die beeindruckende Dokumentation "La libertad del diablo" zeigt deswegen nur einen kleinen, aber genau deshalb so intensiven und schockierenden Ausschnitt davon - hart, grausam und gnadenlos. auch wenn man die Bilder dazu nur im Kopf des Betrachters ablaufen. Denn der Film besteht fast ausschließlich aus Interviews, die aber so außergewöhnlich sind, dass man den Blick nicht eine Sekunde von der Leinwand wenden kann. Zu Wort kommen Beteiligte von allen Seiten des Drogenkrieges: Menschen, die entführt und gefoltert wurden. Mütter, die ihre Kinder verloren haben. Polizisten, die offen Selbstjustiz und Machtmissbrauch eingestehen. Und Auftragskiller, die ihre grausamen Morde in allen Einzelheiten nacherzählen. Das besondere: Die Identität aller Personen bleibt zwar natürlich verborgen, jedoch nur unter einer Strumpfmaske. Die Augen sind immer sichtbar, auch die Stimmen wurden von Regisseur Everardo González nicht verzerrt. Das macht die Interviews manchmal zutiefst erschütternd, manchmal unheimlich, manchmal geradezu abstoßend. Es macht Angst, wenn ein Auftragskiller voll Stolz und ohne Reue von seinem ersten kaltblütigen Mord erzählt, dem Adrenalin, das er spürte, den Glückwünschen seiner Gang. Es macht wütend, die Erzählung einer Mutter zu hören, die nach langer Suche bei einer Ausgrabung auf die Turnschuhe ihrer toten Kinder stieß und von der Polizei von deren Leichen weggedrängt wurde. Es widert an, wenn fast alle Mörder und Folterer – Polizisten wie Mafiakiller – ihre Verbrechen damit rechtfertigen, sie würden nur "Befehle von oben befolgen". Und fast nicht zu ertragen ist es, wenn ein anderer Massenmörder berichtet, wie er einen Schuldner nicht zu Hause antraf und deshalb seine komplette Familie, inklusive seiner kleinen Kinder, erschoss. Gerne würde man wissen, wie Everardo González all diese Menschen dazu brachte, ihre Geschichte vor einer Kamera zu erzählen und auf seine präzisen, schonungslosen Fragen ihre Geheimnisse preiszugeben. Ein Mann spricht zum ersten Mal in seinem Leben über seine Entführung und Folter durch die Polizei. Ein Polizist erklärt offen, dass man Selbstjustiz ausüben müsse und sich nicht an Gesetze halten könne, wenn man den Krieg gewinnen wolle. Und als schließlich die Frage auf die gerechte Bestrafung für das Morden kommt, erklären zwei Kinder, deren Mutter verschwand, dass sie ihre Entführer genau so leiden sehen möchten, wie diese ihre Opfer leiden ließen. Dieser Film ist beängstigend und schockierend, weil er zeigt, wie tief sich die Spirale aus Gewalt, Wut und Vergeltung in den Alltag der Menschen, die mit dem Drogenkrieg leben müssen, eingefressen hat. Und er ist wichtig, weil er ins Bewusstsein ruft, dass dieser Krieg in Mexiko nicht nur in Spielfilmen und Serien existiert, sondern Tag für Tag die Realität von Millionen Menschen definiert.

Dominik Zimmer

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