Kolumbien / Politik

Haltungen in Bezug auf den Frieden in Kolumbien, einen neuen Konsens und Havanna

Die Alternative der Rückkehr zum Krieg muss von allen abgelehnt werden. Das Ziel des Friedens sollte als zentraler Punkt für jede Diskussion erachtet werden

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Carlos Martín Beristain
Carlos Martín Beristain

In der schwierigen Zeit, die Kolumbien gerade erlebt, möchte ich Ihnen einige meiner Überlegungen zum Friedensprozess und zu den Maßnahmen darlegen, die dazu beitragen könnten, die Lage zu entspannen. Die Überlegungen basieren auf meinen Arbeitserfahrungen in Kolumbien seit zweiundzwanzig Jahren mit Kriegsopfern verschiedener bewaffneter Akteure, und zwar mit der katholischen Kirche, Menschenrechtsorganisationen und Opfergruppen oder den Vereinten Nationen, sowie meiner Arbeit in verschiedenen Wahrheitskommissionen und Friedensprozessen in Lateinamerika vom Standpunkt der Politiken für Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung, des Wiederaufbaus des sozialen Gefüges und zum Phänomen der gesellschaftlichen Polarisierung in verschiedenen Ländern, darunter dem Baskenland.

Gewalt, Polarisierung und Friedensprozess in Kolumbien

In den letzten Jahren hat man in Kolumbien immer größere Auswirkungen der Gewalt auf das soziale Gefüge, eine Ermüdung und soziale Distanzierung von dieser Problematik inmitten einer Debatte über die Behandlung der Opfer, den Frieden und den Anstieg der gesellschaftlichen Polarisierung festgestellt. Während des Fortgangs der Friedensverhandlungen in Havanna betrachtete ein Großteil der Gesellschaft den Prozess mit Skepsis, wobei sich zeigte, dass es ihm an Informationen fehlte und er sich psychologisch von dem Prozess distanziert hatte. Dies war der Nährboden dafür, dass die in Havanna geäußerten Sichtweisen für einen Wandel nicht an die Gesellschaft weitergegeben wurden und der Paradigmenwechsel vom Krieg zum Friedensprozess nicht von der Gesellschaft aufgenommen wurde.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Krieg in Kolumbien in den letzten zehn Jahren insbesondere ländliche Gebiete betraf, und von vielen Sektoren der Gesellschaft wird die Gewalt als ein peripheres Problem wahrgenommen. In der Praxis wird mit dem Rücken zum Krieg gelebt, ohne dass dieser das persönliche oder gesellschaftliche Leben allzu stark beeinträchtigen würde. Vor diesem Hintergrund sehen diese Bevölkerungsgruppen den Nutzen des Friedens nicht, der als auf diejenigen Orte beschränkt betrachtet wird, in denen die Menschen mehr gelitten haben und einem Wandel für ihr Leben entgegensehen. In Kolumbien gibt es keine gemeinsame Vision dieser unterschiedlichen Sektoren in Bezug auf den Gesamtnutzen des Friedens, und noch viel weniger ein gemeinsames Bild der Zugeständnisse, die hierfür von beiden Seiten gemacht wurden.

Ohne eine politische Vertretung, die stärker der Realität entspricht, ist die Fähigkeit, diese Visionen umzusetzen oder den Minimalkonsens über sie zu vergrößern, sehr begrenzt. Nach dem Ergebnis der jüngsten Volksabstimmung ist die Situation verfahren. Angesichts eines Neins mit äußerst knapper Mehrheit handelt es sich um eine Stimmengleichheit der beiden Haltungen im Hinblick auf die Verpflichtung des Präsidenten, das Friedensabkommen vom kolumbianischen Volk billigen zu lassen. Eine sehr knappe Mehrheit mit einem knappen Vorsprung des Neins vor dem Ja kann eine weitergehende Realität nicht verbergen: a) die große Mehrheit der kolumbianischen Bevölkerung hat nicht abgestimmt, b) eine praktische Gleichheit der Stimmenzahl angesichts der Schwierigkeiten, in einigen Regionen, in denen das Ja überwiegt, abzustimmen (aufgrund starker klimatischer Auswirkungen), c) eine praktische Trennung in Regionen mit einer Nein- oder einer Ja-Mehrheit, je nachdem, wie stark sie vom Krieg betroffen waren, d) ohne die Herbeiführung eines größeren Konsenses ist es nicht möglich, den Prozess weiter voranzutreiben.

Die Grundlage für den Frieden akzeptieren

Der Prozess, der zum derzeitigen Abkommen führte, wurde von verschiedenen nationalen und internationalen Akteuren begleitet. Er wurde als ein neuartiger Prozess bezeichnet, da bei einem Friedensprozess erstmals die Opfer beteiligt wurden und es zahlreiche Mechanismen zur Befragung unterschiedlicher gesellschaftlicher Sektoren, und nicht nur der Regierung und den Farc, gab. Es handelt sich um einen mehr als 50 Jahre andauernden Konflikt, der Veränderungen dahingehend erfordert, dass die Visionen in Bezug auf den Frieden der verschiedenen politischen Richtungen entpolitisiert werden müssen.

Der Krieg hatte auch Auswirkungen auf die Mentalitäten zur Rechtfertigung der Gewalt, die Unsichtbarkeit des Schreckens oder eine Missachtung des Leidens der Opfer, wie die Verschlimmerung des bewaffneten Konflikts und die Verschlechterung eines gemeinsamen Gefühls der Menschlichkeit gezeigt haben. Die Überwindung dieser gesellschaftlichen Spaltungen ist Teil des Wiederaufbauprozesses. Ohne Empathie für den Schmerz und das Leid gibt es weder eine Anerkennung des Anderen noch einen dauerhaften Prozess und auch keinen sozialen Zusammenhalt, der den Wiederaufbau des Zusammenlebens vorantreibt.

Jede Änderung der derzeitigen Situation müsste an einige Prämissen oder grundsätzliche Regeln gebunden sein:

1. Die Anerkennung des Prozesses von Havanna als ein legitimer Prozess, dessen Abkommensergebnisse die Grundlage für jeden weiteren Prozess sind. Anerkennung der Fortschritte und Errungenschaften als Ausgangspunkt zur Diskussion von Meinungsverschiedenheiten.

2. Die Alternative der Rückkehr zum Krieg muss von allen abgelehnt werden. Das Ziel des Friedens sollte als zentraler Punkt für jede Diskussion erachtet werden, nicht nur als ein mittelfristiges oder langfristiges Ziel, sondern als ein historisches Ereignis, das in der Gegenwart zu schützen ist.

3. Jede Änderung muss Gegenstand einer neuerlichen Verhandlung sein mit dem Ziel, den Konsens auszuweiten, und sie muss für vorgeschlagene Änderungen der "drei Seiten" offen sein: des Staates und derer, die das Nein repräsentieren, sowie der Farc. Änderungen können nicht einzig und allein ausgehend von der Prämisse derer, die für das Nein sind, vorgenommen werden.

4. Die vorgeschlagenen Alternativen müssen einen breiten Konsens, der nicht kleiner als der bereits vorhandene ist, erzeugen.

5. Es ist eine geänderte Sprache, die den Frieden begünstigt, erforderlich, bei der die Begriffe und Konzepte in Bezug auf Auflagen, Gewalt oder Krieg vermieden werden, und diese geänderte Sprache muss von allen Seiten angenommen werden.

6. Die Diskussionen müssen sich auf den Inhalt und nicht auf die politischen Slogans beziehen, und es müssen Anstrengungen zum Schutz der Diskussion unternommen werden, anstatt eine öffentliche Debatte über jeden der Schritte oder Vorschläge zu erzeugen.

7. Die in der Kampagne für das Nein oder das Ja vorgebrachten Argumente müssen sich an die Realität der Abkommen anpassen, nicht an deren Manipulierung.

8. Die Darstellung dessen, was von den Parteien zugestanden wurde, muss klar erläutert werden, auch die Zugeständnisse für den Staatsapparat, die ehemaligen Präsidenten und nicht nur für die Farc. Die Diskussion über Gerechtigkeit muss in jeder öffentlichen Mitteilung in Bezug auf alle Seiten erfolgen, nicht nur in Bezug auf eine.

9. Es geht um die Auswahl der Gesprächspartner, die innerhalb ihrer eigenen Bezugsgruppen über Verhandlungsfähigkeit verfügen und zeigen, welche Bestandteile zu ändern sie bereit sind. Und darum, die Entwicklung der Konzepte auf beiden Seiten bis zum heutigen Zeitpunkt der Verhandlungen aufzuzeigen und zuzugeben, dass eine Haltungsänderung von allen Seiten erforderlich ist.

10. Die beteiligten Seiten sollten sich verpflichten, einen gemeinsamen Kommunikationsprozess durchzuführen, bei dem eine moralische Panik vermieden wird und effiziente Prüfmechanismen mit den notwendigen Garantien für die drei Seiten vorgeschlagen werden, einschließlich die Billigung und Sicherung der Abkommen, die für den Friedensprozess mit der ELN offen sein müssen.

Der historische Zeitpunkt, den Kolumbien durchlebt, erfordert Antworten im Konsensverfahren, die den Herausforderungen gewachsen sind, und zwar mehr denn je in dieser Zeit, die wohl noch ein paar Monate andauern wird. Verglichen mit der Vergangenheit steht heute die Zeit der neuen Generationen auf dem Spiel. Die Verantwortung, das Mitgefühl und die Fähigkeit, zu Übereinkünften zwischen den unterschiedlichen Seiten zu gelangen, sind die Grundlagen für eine gemeinsame Hoffnung für Kolumbien und das Ausland.

Der aus dem Baskenland stammende Psychologe und Menschenrechtsaktivist Carlos Martín Beristain begleitet seit vielen Jahren Opfer gewaltsamer Konflikte in Lateinamerika, Europa und Afrika. Seit 1994 arbeitet er regelmäßig in Kolumbien. Aktuell gehört er zudem der unabhängigen Expertenkommission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission an, die im Fall des Verschwindenlassens der 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa ermittelt

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