Brasilien / Politik

Brasilien - Zurück in die Zukunft

Antonio Martins vom Debattenportal Outras Palavras spricht über die Maßnahmen der Interimsregierung, ihre Konflikte und die Perspektiven der Linken

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Antonio Martins in der Redaktion von Outras Palavras in São Paulo
Antonio Martins in der Redaktion von Outras Palavras in São Paulo

Mitte Mai stimmte Brasiliens Senat für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT). Zum Interimspräsident ernannt wurde Michel Temer, dessen PMDB über 14 Jahre die PT-Regierungen unter Lula da Silva und Dilma Rousseff gestützt hatte. Was bedeutet die neue Situation für Outras Palavras?

Für uns bedeutet das eine Wende in unserer Redaktionsarbeit. Normalerweise schauen wir eher nach Außen, auf internationale Themen und die Debatte um Alternativen zum Kapitalismus. Die Entwicklungen in der brasilianischen Politik zwingen uns dazu, uns stärker mit nationalen Themen auseinanderzusetzen, die zum Teil wirklich banal sind.

Kannst du uns einen Eindruck geben von der Interimsregierung? Was ist von ihr zu erwarten und was sind ihre ersten Maßnahmen?

Das erste Mal seit 1979, seit der vorletzten Militärregierung, ist keine Frau Teil des Kabinetts. Die Regierung besteht aus einer Gruppe reicher weißer Männer. Und fast alle sind alt. Das ist schon ein starkes Symbol.

Innerhalb weniger Tage hat diese Gruppe ein Bündel harter Maßnahmen getroffen – einige sind beschlossen, andere schon in der Umsetzung. Einige Maßnahmen betreffen die Verwaltung. Unter dem Vorwand, sparen zu wollen, wurden zehn Ministerien geschlossen: Unter anderem das zur Umsetzung der Agrarreform, das für Frauen, für Jugend, für Kultur. Im Falle des Kulturministeriums musste die Regierung den Beschluss nach einer Reihe Protestaktionen von KünstlerInnen und Intellektuellen immerhin zurücknehmen. Diese Schließungen sind keine bloße Formsache. Wenn ein Ministerium mit seiner ganzen institutionellen Struktur einmal geschlossen wurde, ist es sehr teuer, das Ganze nach einem Ende der illegitimen Regierung wieder herzustellen.

Was für eine Politik setzt sich da gerade durch?

Zurzeit haben hier alle das Gefühl eines großen Rückschritts. Ein Beispiel: Seit Jahren haben Abgeordnete, die dem christlichen Fundamentalismus nahestehen, die geschlechtersensible Pädagogik und die Anerkennung der unterschiedlichen sexuellen Orientierungen kritisiert, wie sie von den Ministerien für Frauen und Jugend vorangetrieben wurden. Und jetzt wurden genau die Ministerien dicht gemacht.

Aber das ist nur ein Teil. Ein zweites Maßnahmenbündel betrifft den Etat. Die Interimsregierung konnte dank ihrer großen Mehrheit im Kongress einen Nachtrag zum Haushalt 2016 beschließen, der ihr umgerechnet über 33 Millionen Euro mehr zur Verfügung stellt. Wichtig ist, dass die Verwendung nicht, wie sonst üblich, festgelegt ist. Man kann annehmen, dass das Geld gebraucht wird, um die vielen kleinen, aber wichtigen Interessen zu bedienen, von denen die Mehrheit für Temers Regierung abhängt. Außerdem soll das erweiterte Budget wohl dazu dienen, mit öffentlichen Geldern die geplanten Privatisierungen zu finanzieren.

Gleichzeitig versucht die Regierung, ein Gesetz durchzubringen, das den Anteil der Ausgaben in jeder Haushaltskategorie für drei bis zehn Jahre einfriert – abhängig von den Steuereinnahmen. Wenn im Jahr 2016 (dem Jahr, das zugrunde gelegt wird) fünfzehn Prozent der Steuergelder für Gesundheit verwendet wurden, wird dieser Prozentsatz für bis zu zehn Jahren festgeschrieben. Das ist deshalb schlimm, weil die Steuereinnahmen in diesem Jahr aufgrund der Krise sehr niedrig sind. Eventuell höhere Kosten in den nächsten Jahren, beispielsweise infolge einer Epidemie oder steigenden Medikamentenpreisen, können nicht ausgeglichen werden. Am wichtigsten ist jedoch, was nicht eingefroren wird: Die Ausgaben für die Zinszahlungen an Banken und Gläubiger. Im Ergebnis heißt das, der Anteil an Steuereinnahmen, den der Staat an die Finanzoligarchie überweist, steigt.

Es war viel von einer möglichen Privatisierung von Petrobras, dem immerhin noch halbstaatlichen Mineralölunternehmen die Rede.

Die Interimsregierung plant ein Gesetz, das die Privatisierung von jeder staatlichen Firma erlaubt, inklusive der Staatsbanken und von Petrobras. Das Gesetz wird vermutlich angenommen, würde aber nicht automatisch die Privatisierung bedeuten. Um das Thema wird es noch viele Debatten und ganz sicher starken Widerstand geben. Ich glaube nicht, dass momentan das Klima günstig ist, um die Brasilianische Staatsbank oder Petrobras zu privatisieren. Aber die Regierung schafft die institutionelle Grundlage für den Verkauf.

Auch auf der internationalen Ebene gibt es einen großen Rückschritt: Der neue Außenminister ist von der PSDB, der klassisch neoliberalen Partei. Er hat angekündigt, sich von der Fokussierung auf Südamerika und die BRICS-Staaten abwenden und zu einer "pragmatischen Diplomatie" zurückkehren zu wollen. Übersetzt heißt das: Rückkehr zu den alten Beziehungen mit den USA und Europa. Der Anschluss an die großen Freihandelsabkommen wird wahrscheinlich kommen. Relativ schnell könnte es ein Abkommen zwischen dem Mercosur, dem Gemeinsamen Markt Südamerikas, und der Europäischen Union geben. Dafür wirbt auch Argentinien unter Macri. Die zu erwartenden negativen Folgen sind weitreichende Zugeständnisse für transnationale Konzerne und Angriffe auf soziale und Umweltrechte.

Dilma ist in den letzten Jahren ja stark in die Kritik geraten. Welchen Anteil hat sie an der aktuellen Situation?

Die Rückkehr zum Neoliberalismus begann in dem Moment, in dem Dilma ihre zweite Amtszeit antrat. Das war insofern erstaunlich als sie während des Wahlkampfs noch einen Schwenk nach Links angekündigt hatte, mit einer Vertiefung der sozialen Maßnahmen, die Lula begonnen hatte. Aber unmittelbar nach ihrer Wahl kündigte dann sie einen "Finanzausgleich" an, dessen Maßnahmen stark an die europäische Austeritätspolitik erinnerten.

Ich glaube, Dilmas Sinneswandel hat zwei Gründe: zum einen die mangelnde Tiefe ihrer Überzeugungen, zum anderen das Ziel, mit der Finanzoligarchie ein Bündnis eingehen und dann in Ruhe regieren zu können. Der angekündigte Linksschwenk war nur eine Wahlkampfstrategie und sollte denjenigen entgegen kommen, die im Jahr 2013 für bessere öffentliche Versorgung demonstriert hatten.

Die Einsparungen im Sozialbereich haben letztlich die Tür zum Amtsenthebungsverfahren geöffnet. Seit der ersten Lula-Regierung haben Teile der Eliten versucht, ihn zu demoralisieren oder sogar zu stürzen. Lulas Stärke war die Fähigkeit, mit der ärmsten Bevölkerung in einen Dialog zu treten und sie an sich zu binden. Als die Politik aber wechselte, soziale Rechte infrage gestellt wurden, Einkommen und Arbeit nicht mehr sicher waren, zerriss das Band mit den Unterschichten. Die Eliten haben das sehr schnell verstanden und eine Konfrontation begonnen, die mit dem Amtsenthebungsverfahren endete.

Wie stabil ist die Interimsregierung?

Die PMDB, Michel Temers Partei, ist zwar die stärkste Fraktion der neuen, illegitimen Regierung. Sie war schon mit Lula und Dilma an der Regierung und steckt bis über beide Ohren im Korruptionssumpf. Daneben gibt es aber auch ein ideologisch gefestigteres, neoliberales Lager – ideologisch gefestigt heißt aber nicht, dass die Neoliberalen nicht auch korrupt wären.

Für sie ist es gar nicht schlecht, dass auch Temers Name immer wieder im Zusammenhang mit Korruption auftaucht, denn fielen Temer und die PMDB könnten die Neoliberalen den frei werdenden Raum in der Regierung besetzen. Die Mehrheit im Kongress wird es machen wie immer: Sieht sie die Regierung geschwächt, wird sie von Temer mehr und größere Begünstigungen fordern. Und diese Begünstigungen wiederum können zu neuen Anzeigen und einer weiteren Schwächung der Regierung führen.

Zurzeit wird viel vom Ende der lateinamerikanischen Linksregierungen gesprochen. Wie siehst du das aus brasilianischer Perspektive?

Ich würde nicht sagen, dass es das Ende einer Epoche ist – eher das Ende einer Phase mehr oder weniger softer Reformen, die natürlich stark variieren zwischen Venezuela und Brasilien, die aber im Kern weder den Fokus auf die Landwirtschaft und den Extraktivismus noch die Klassenverhältnisse angetastet haben. Diese Prozesse sind in der Krise. Argentinien, Brasilien, Venezuela sind die klassischen Beispiele, aber auch Rafael Correa in Ecuador hat Probleme und sogar Evo Morales verliert an Stärke. In Chile sorgt die zweite Bachelet-Regierung für weitere Rückschritte. In Uruguay bleibt zwar die Frente Amplio stark, aber ihre geopolitische Bedeutung ist leider sehr begrenzt.

Die PT war ein sehr wichtiger Teil dieser Strömung. In Brasilien waren die Reformen vielleicht schwächer, noch weniger strukturell, als anderswo. Zum Beispiel wurde nichts unternommen, um die Medien-Oligopole zu kontrollieren. Auf der anderen Seite war Brasilien aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und dem vorhandenen politischen Willen das Land, das am stärksten auf den Wandel der geopolitischen Situation Südamerikas hingearbeitet hat. Die Region ist nicht mehr der Hinterhof der USA, sondern hat sich stärker auf sich selbst konzentriert und ein gewisses Profil in den internationalen Beziehungen gewonnen. Das hat enorm dazu beigetragen, günstige Bedingungen für Chavez, Correa und Morales herzustellen.

Eine letzte Frage: Wie geht es weiter in Brasilien? Welche Perspektiven hat die Linke?

Es ist noch sehr früh, um das zu beantworten. Ich denke, es ist zwar Ziel der Eliten, zu einer Situation von vor 1988 zurück zu kehren. Aber der Versuch, gegen die sozialen Errungenschaften vorzugehen, die seit dem Ende der Diktatur erreicht wurden, wird sein Echo finden. Beispielsweise könnte es zum Wahlsieg eines eher linken Kandidaten bei den Wahlen 2018 führen.

In der Linken gibt es den Wunsch nach stärkeren, strukturelleren Reformen, aber das ist ein Prozess der noch Zeit braucht. Ein Teil der Linken, der eher institutionell ausgerichtet ist, hat sich in den traditionellen Machspielen eingerichtet und keine Alternative mehr anzubieten. Der Unterschied zu anderen Parteien ist bloß der, dass ihre Klientel nicht alles durchgehen lässt.

Daneben gibt es eine noch junge Linke, die eher auf Protest ausgerichtet ist. Sie hat noch wenig politische Erfahrung und vor allem fehlt ihr ein Projekt. Ihre antikapitalistischen Visionen sind zurzeit noch in Gefühlen und Werten begründet, die sich noch nicht zu einer konsistenten Politik entwickelt haben. Die Herausforderung der nächsten Jahre wird es sein, das Reifen dieser Haltung zu fördern; ihre Entwicklung zu einem politischen Projekt zu begleiten, das in der Lage ist, mit den gleichen gesellschaftlichen Sektoren  in einen Dialog zu treten, mit denen auch Lula im Dialog stand. Vielleicht sogar breiter, zum Beispiel auch mit den Mittelschichten, die starke Widersprüche zum Neoliberalismus haben, die viel Geld für Gesundheit, Bildung und Wohnen zahlen und die ständig von Arbeitslosigkeit und Altersarmut bedroht sind.

Ob wir das schaffen? Das können wir noch nicht wissen, das ist unsere Herausforderung.

Antonio, vielen Dank für das Gespräch.

Danke.