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Medien und Demokratie

Ein Kommentar des Aktivisten und Medienbeobachters Franklin Frederick über die voreingenommene Berichterstattung einer Schweizer Zeitung zu Venezuela

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Venezuela verzeichnet normalerweise eine sehr hohe Wahlbeteiligung, hier bei der Präsidentschaftswahl 2013
Venezuela verzeichnet normalerweise eine sehr hohe Wahlbeteiligung, hier bei der Präsidentschaftswahl 2013

"Manufacturing Consent", die klassische Studie von Edward S. Herman und Noam Chomsky  über die US-amerikanischen Medien, liefert auch wichtige Instrumente für die Analyse der Mainstreammedien anderer Länder, die Schweiz inbegriffen. Der Fokus der Studie liegt auf dem, was die Autoren als "Propagandamodell" bezeichnen: "Ein analytischer Rahmen, dessen Ziel es ist, die Funktion der US-amerikanischen Medien unter dem Aspekt grundlegender institutioneller Strukturen und der Beziehungen, im Rahmen derer sie operieren, zu erklären. Wir sind der Ansicht, dass die Medien, neben ihren anderen Aufgaben, den mächtigen gesellschaftlichen Interessen derer dienen, die sie kontrollieren und finanzieren und für die sie Propaganda machen. Die Vertreter dieser Interessen verfolgen bestimmte Absichten und Prinzipien. Ihre Position ermöglicht es ihnen, Medienpolitik mitzubestimmen und Druck auf sie auszuüben. Dies geschieht normalerweise nicht durch offenes Eingreifen, sondern durch die Auswahl von Mitarbeitenden aus dem Kreis derjenigen, deren Denkweise den vorherrschenden Interessen entspricht, und dadurch, dass Herausgeber und Journalisten die Prioritäten und Definitionen dessen, was als Nachricht taugt und der Politik der betroffenen Institution entspricht, internalisieren."

Die Autoren fügen an, dass ihre Arbeit die auf einer mehrjährigen Analyse der Funktionsweise der Medien basierende Überzeugung widerspiegelt, wonach die Medien "dazu dienen, Unterstützung für die speziellen Interessen zu mobilisieren, die staatliches und privates Handeln beherrschen, und dass deren Auswahl, Betonungen und Auslassungen oft dann am besten und klarsten verständlich werden, wenn man sie unter diesem Gesichtspunkt analysiert".1

Die Autoren fahren fort: "Es mag offensichtlich sein, aber das demokratische Postulat will es, dass Medien unabhängig und verpflichtet sind, die Wahrheit aufzudecken und zu verbreiten, sie die Welt also nicht einfach so wiedergeben, wie die Mächtigen wollen, dass wir sie sehen. [...] Wenn aber die Mächtigen die Prämissen des Diskurses festlegen und entscheiden, was das allgemeine Volk sehen und hören und worüber es nachdenken darf, und die öffentliche Meinung mit regelmäßigen Propagandakampagnen lenken können, dann entspricht die übliche Sichtweise darüber, wie das System funktioniert, in keiner Weise der Realität." 

Der australische Journalist John Pilger, Autor vielgepriesener Dokumentarfilme wie "The War on Democracy", vertritt einen ähnlichen Standpunkt:

"Viele Journalisten tun heute nichts anderes als das, was George Orwell die 'offizielle Wahrheit' nannte, zu kanalisieren und wiederzugeben. Sie verschlüsseln und vermitteln Lügen. Es schmerzt, dass so viele meiner Kollegen sich so weit manipulieren lassen, dass sie zu dem werden, was die Franzosen als 'fonctionnaires' bezeichnen – Funktionäre, nicht Journalisten. Viele Journalisten nehmen eine sehr abwehrende Haltung ein, wenn man ihnen zu vermitteln versucht, dass sie alles andere als unparteiisch und objektiv sind. Das Problem mit Begriffen wie 'Unparteilichkeit' und 'Objektivität' ist, dass sie ihren ursprünglichen Sinn verloren haben. Sie sind vereinnahmt worden … [sie] bezeichnen nun das, was der etablierten Sichtweise entspricht ... Journalisten setzen sich nicht auf ihren Stuhl und denken, 'ich werde für das Establishment sprechen'. Natürlich nicht. Aber sie internalisieren eine Reihe von Grundannahmen, und eine der mächtigsten Grundannahmen heute ist, dass die Welt unter dem Aspekt ihres Nutzens für den Westen, und nicht für die Menschheit, gesehen werden muss."

In den Schweizer Medien kommt die "Internalisierung" der Grundannahme, wonach "die Welt unter dem Aspekt ihres Nutzens für den Westen, und nicht für die Menschheit, gesehen werden muss" – das "Propagandamodell" nach Chomsky und Herman – nirgends so klar zum Ausdruck wie in den Artikeln zu Venezuela des Journalisten des "Tages-Anzeigers", Sandro Benini.

Venezuela stellt seit der ersten Wahl von Hugo Chávez eine der größten Bedrohungen für die neoliberale Agenda der westlichen Großkonzerne dar. Es sei daran erinnert, dass die Amerikanische Freihandelszone (FTAA/ALCA) dank Hugo Chávez in Venezuela, Lula in Brasilien und Kirchner in Argentinien kläglich scheiterte. Wie ihre Reinkarnationen TTIP und TISA war die FTAA/ALCA als Angriff auf die Demokratie und mächtiges Instrument einer noch stärkeren Verschiebung des Reichtums und der politischen Macht hin zum reichsten Einen Prozent konzipiert worden. Sie würde der Ausbeutung Lateinamerikas durch transnationale nordamerikanische Konzerne Tür und Tor öffnen. Sie würde den schon jetzt schwachen lateinamerikanischen Wirtschaftssystemen großen Schaden zufügen und der Hoffnung ihrer Völker auf wirtschaftliche Unabhängigkeit, Wachstum und Freiheit für immer ein Ende setzen. Sie würde allerdings "dem Westen" sehr nützen. Als Antwort auf FTAA/ALCA lancierte Hugo Chávez das Staatenbündnis Alba, die "Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerika". Alba stärkte die lateinamerikanische Union, und ohne Hugo Chávez und Venezuela gäbe es heute weder Celac noch Unasur.2

Folgt man dem "Propagandamodell" und den mächtigen Interessen, welche die denselben Wirtschaftsinteressen verpflichtete internationale Mainstreampresse finanzieren, dann überraschen die medialen Angriffe gegen Hugo Chávez und Venezuela nicht. Die Anerkennung durch die UN, wonach Venezuela wie kein anderes Land auf dem Kontinent, der die größten sozialen Unterschiede aufweist, die Ungleichheit reduziert hat, wird von der Mainstreampresse kaum erwähnt. Venezuelas großes, erfolgreiches Alphabetisierungsprogramm, die Qualität seiner Gesundheitsversorgung, das Programm zur Errichtung von Wohnraum für Armutsbetroffene, um nur einige Beispiele zu nennen, werden auch nicht erwähnt. Angesichts des höchsten der Verbrechen, das Venezuela gegen die neoliberalen Wirtschaftsinteressen begannen hat, müssen sie unerwähnt bleiben: Es verwendet seine natürlichen Reichtümer, seine Ölreserven, für die Entwicklung seiner eigenen Bevölkerung statt für die Ausbeutung durch "den Westen". Deshalb dürfen Venezuelas Erfolge nicht als solche anerkannt werden, denn das würde ja bedeuten, dass alternative Wege möglich sind und andere Länder diesem Beispiel folgen könnten. Nichts gefährdet die Wirtschaftsinteressen der Großkonzerne, die heutzutage zu einer wahren Religion geworden sind, mehr, als die Entblößung ihres "wirtschaftlichen Erfolgs" als Farce und ihres Hasses auf die Demokratie. Die Bedrohung, die von Venezuela ausgeht, ist so grundlegend und muss mit allen Mitteln bekämpft werden, weil sie von einer real funktionierenden Demokratie ausgeht. "Der Westen" stellt sich selber unermüdlich als "Champion der Demokratie" dar, zeigt aber gleichzeitig immer dann seine tiefe Verachtung realen Demokratien gegenüber, sobald deren Bevölkerung klar ihre Ablehnung der ihr aufgedrängten neoliberalen Politiken zum Ausdruck bringt. Das Beispiel Griechenlands zeigt das deutlich. Als das griechische Volk zum Austeritätsprogramm der Troika auf demokratischem Weg Nein sagte, reagierten die meisten Tageszeitungen, unter ihnen auch der "Tages-Anzeiger", mit Artikeln, die von einer tiefgehenden Verachtung gegenüber dem griechischen Volk und der Demokratie zeugen. Die "dem Westen" so liebe Grundannahme hinter dieser Reaktion ist, dass Entscheidungen besser "verantwortungsvollen Technokraten" überlassen werden, die "wirklich wissen", was getan werden muss, und nicht dem Volk. Es handelt sich hier um ein leeres Demokratieverständnis, um den Traum der Großkonzerne, der daran ist, sich im Westen vollständig zu verwirklichen ... nicht aber in Venezuela.

Venezuela muss als Diktatur dargestellt werden, wie das Herr Sandro Benini gewöhnlich tut, da die Wahrheit über Venezuelas Demokratie die Lügen der westlichen Demokratien entlarven würde. Ein kurzer Blick auf die Fakten spricht Bände. Gemäß der US-amerikanischen Regierung haben nur 54,8% der Wahlberechtigten in den USA an den Präsidentschaftswahlen 2012 teilgenommen.3 In der Schweiz betrug die Beteiligung an den Parlamentswahlen 2011 48,5%4. Hingegen betrug die Beteiligung an den Präsidentschaftswahlen 2013 in Venezuela 79,68%.5 Diese hohe Beteiligung an Wahlen alleine wäre Grund genug, Venezuela zur Stärke seiner Demokratie zu gratulieren. Darüber hinaus ist der Wahlprozess in Venezuela gemäß dem vom ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter gegründeten Carter Center weltweit einer der freiesten und am besten organisierten. Wenn in einer Demokratie die Anzahl Personen, die an einer Wahl teilnehmen, als Kriterium genommen wird, um deren Ausgang zu legitimieren, hat die Regierung von Venezuela eine stärkere Legitimation als die Regierungen der USA und der Schweiz.

Aus Sicht von Sandro Benini und dem Großteil seiner Kollegen der Mainstreampresse müssen solch simple Tatsachen jedoch unerwähnt bleiben. Aber bleiben wir Herrn Benini gegenüber fair. Würde er, weshalb auch immer, über die wahre Natur der Demokratie in Venezuela berichten, wäre er seinen Job sehr rasch los. Wie es Chomsky und Herman in "Manufacturing Consent" sagen, besteht Herrn Beninis Aufgabe eben gerade darin, nicht die Wahrheit zu verbreiten, sondern Propaganda zu betreiben. Sein Lohn hängt davon ab. Sein Artikel vom 12. September mit dem Titel "Bananenrepublik Venezuela" zeigt, dass er sich immer mehr bemüht, seinen Arbeitgebern und der neoliberalen Unternehmerklasse zu gefallen. Der Artikel handelt von der rechtmäßigen Verurteilung Leopoldo López' durch die venezolanische Justiz und von seiner Rolle in den als "Guarimbas" bezeichneten gewalttätigen Protestaktionen gegen die demokratisch gewählte Regierung von Präsident Maduro, die über 40 Menschen das Leben gekostet haben. Das Ausmaß an Respektlosigkeit gegenüber dem venezolanischen Volk und seiner Regierung sowie die von Sandro Benini geleistete Desinformation in diesem Artikel sind selbst für dessen übliche Standards erstaunlich.

Eine der wichtigsten Aufgaben eines Staates ist es, die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu garantieren. Was in Venezuela geschah und gerade in Brasilien geschieht, ist einfach zu verstehen. Venezuelas rechte und extrem rechte Opposition, die seit zwölf Jahren alle demokratischen Wahlen verlieren – unfähig, irgendein politisches Programm auf die Beine zu stellen, das die Mehrheit der Wahlberechtigten überzeugen würde, für sie zu stimmen –, haben, nachdem alle demokratischen Mittel ausgeschöpft waren, beschlossen, die Regierungsmacht mit Gewalt an sich zu reißen. Eine altbekannte Taktik, gerade in Lateinamerika – etwa in Guatemala mit dem rechtmäßig gewählten Präsidenten Árbenz (1956), der nach der Einführung einer sanften Landreform zum Rücktritt gezwungen wurde, weil die nordamerikanischen Konzerne, denen das Land praktisch gehörte, die Reform nicht dulden konnten. Der wohl bezeichnendste Fall ist jener des gewählten Präsidenten Allende in Chile (1973), der durch einen Putsch von General Pinochet gestürzt wurde, der das Land in ein Jahre währendes Horrorkabinett verwandelte und den Traum von Millionen von Chileninnen und Chilenen von einer gerechteren und freieren Gesellschaft jäh beendete. Die Parallelen zwischen dem, was in Chile geschah, und dem, was heute in Venezuela und Brasilien geschieht, sind bezeichnend. Nach Jahrzehnten der Ausbeutung der lokalen Bevölkerung im Dienst mächtiger internationaler Konzerne, die im Gegenzug ihre Machtansprüche stützten, konnten die lokalen Oligarchien nicht akzeptieren, ihre traditionelle politische Machtposition zu verlieren. Sie organisierten gewalttätige Proteste, die von der lokalen Presse – ihrer eigenen – aufgenommen und von der internationalen Presse gemäß dem "Propagandamodell" weiterverbreitet wurden. In Venezuela starben über 40 Menschen als Folge dieser Proteste.

Das zweite Kapitel der oben erwähnten Studie "Manufacturing Consent" trägt den Titel "Würdige und unwürdige Opfer". Darin vergleichen die Autoren "die mediale Behandlung der (den USA) feindlichen Staaten und derjenigen der Vereinigten Staaten und ihrer Klientenregime. [...] Die Opfer der Feindesstaaten gelten als ,würdig' und erhalten eine intensivere und stärker von Empörung gezeichnete mediale Berichterstattung als die Opfer der USA oder ihrer Klienten, die implizit ,unwürdig' sind. [...] Der 1984 zum Opfer der polnischen Kommunisten gewordene Geistliche Jerzy Popieluszko löste nicht nur weit mehr mediale Berichterstattung aus als Erzbischof Óscar Romero, der 1980 im US-Klientenstaat El Salvador ermordet wurde, er löste auch mehr mediale Berichterstattung aus als die 100 religiösen Opfer, die in Klientenstaaten der USA getötet wurden."

Unglücklicherweise sind die über 40 Opfer der Guarimbas "unwürdig", und Sandro Benini vergisst sie denn auch einfach. Entsprechend sollen diejenigen, die für ihren Tod verantwortlich sind, nicht ins Gefängnis kommen. Das "würdige" Opfer ist Leopoldo López, "Märtyrer" für Freiheit und Frieden, wie ihn die im Dienste der Großkonzerne, die es kaum erwarten können, die Kontrolle über das ölreiche Venezuela wieder an sich zu reißen, stehende Mainstreampresse gerne darstellt. US-amerikanische Gefängnisse sind voll mit zu lebenslänglichen Strafen verurteilten Menschen, die viel weniger verbrochen haben als Leopoldo López. Venezuela eine "Bananenrepublik" zu nennen, weil sein Justizsystem getan hat, was praktisch alle Justizsysteme irgendeines Landes der Welt getan hätten, ist mehr als die Tatsachen zu verdrehen. Es zeugt von einem Ausmaß an Rassismus, der für einen Artikel des "Tages-Anzeigers" überrascht und als Zeichen seines gesunkenen Niveaus gedeutet werden muss. Herr Benini würde die USA nicht als "Bananenrepublik" bezeichnen, obwohl sie regelmäßig Folter betreiben, wie ein kürzlich erschienener Bericht eines Untersuchungsausschusses des Senats zur CIA aufzeigt. Er würde auch kein Land Europas als "Bananenrepublik" bezeichnen, nur weil es nicht den Mut hatte, Edward Snowden oder Julian Assange politisches Asyl zu gewähren. "Bananenrepublik" ist ein alter rassistischer Ausdruck für die "minderwertigen" lateinamerikanischen Republiken, geprägt von den "überlegenen weißen europäischen Rassen", offenbar die Einzigen, welche die Fähigkeit besitzen, "demokratische Republiken" zu erschaffen.

Herr Benini und seine Kollegen können offensichtlich nicht akzeptieren, dass sich die Welt verändert hat und die "Bananenrepubliken" Lateinamerikas, allen voran Venezuela, uns viel über real funktionierende Demokratie in Europa und den USA beizubringen haben. Für die Bevölkerungen von Griechenland, Spanien, Italien und Portugal, die am meisten unter dem von der Wirtschaft vorangetriebenen "Demokratie"-Verständnis leiden, ist Venezuela ein Vorbild, dem es zu folgen gilt. Es wird nicht lange dauern, bis die Menschen in Frankreich und Deutschland dasselbe tun. Sandro Beninis beleidigende rhetorische Gewalt ist ein Abbild der Gewalt der rechten Opposition Venezuelas. Beide sind ein Zeichen politischer Verzweiflung. Venezuela ist eine stolze, souveräne Nation, die einen enorm wichtigen Beitrag zur heutigen Welt leistet. Keine Art von Bananenjournalismus kann das ändern.

Franklin Frederick ist politischer Aktivist und Mitglied des Vorstandes der Solidaritätsorganisation Alba Suiza.