Bolivien / Politik

García Linera: "Manche NGOs unterstützen den imperialen Umweltdiskurs"

Boliviens Vizepräsident antwortet auf einen offenen Brief von internationalen Intellektuellen zu angeblichen Bedrohungen von NGOs

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Der Vizepräsident Boliviens, Álvaro García Linera: Schritte für einen nachhaltigen Erfolg der der politischen Linken in Lateinamerika
Der Vizepräsident Boliviens, Álvaro García Linera: Schritte für einen nachhaltigen Erfolg der der politischen Linken in Lateinamerika

Der Vizepräsident Boliviens, Álvaro García Linera, hat unlängst öffentlich den NGOs Milenio1, Fundación Tierra2, Cedib3 und Cedla4vorgeworfen, die Bevölkerung "unter dem Deckmantel der Rettung des Planeten zu belügen", während sie tatsächlich internationalen Interessen dienten und Gelder von ausländischen Unternehmen und Regierungen erhielten. Diese verfolgten das Ziel, dass die sich entwickelnden Länder die "Waldhüter" für den globalen Norden sein sollten.

"Es gibt ein Gesetz5 über NGOs. Jeder Bürger hat das Recht, seine NGO zu organisieren und ihre Aktivitäten zu entfalten, das ist kein Problem und wird respektiert. Was wir nicht erlauben werden ist, dass ausländische NGOs parteiische politische Aktivitäten im Land finanzieren"6, so der Vizepräsident weiter.

Die vier genannten NGOs haben daraufhin international Unterschriften von Intellektuellen unter einen "Offenen Brief" an García Linera gesammelt, in dem die Unterzeichner von ihrer "Sorge über Anschuldigungen und Bedrohungen mit Ausweisung" und von einem "Akt des Autoritarismus und der Intoleranz" sprechen. Bürgerrechte würden verletzt, insbesondere das Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit, heißt es darin weiter. Dieser Brief fand auch bei der deutschen Tageszeitung Frankfurter Rundschau großen Anklang, die am 19. August titelte: "Morales’ Regime gegen Linksaktivisten" -  aber die Antwort von García Linera mit keinem Wort erwähnte.

Wir dokumentieren sie hier:

Werte Kolleginnen und Kollegen,

Ich schätze ihre Großzügigkeit, sich die Zeit nehmen, um einen Brief an mich auszuarbeiten mit dem Ziel mir "ein Nachdenken" in Bezug auf meine Aussagen über die Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Bolivien und ihre Finanzierung vorzuschlagen.

Ich verstehe, dass Sie sich bezüglich der freien Meinungsäußerung sorgen, aber ich denke, Sie tun das unnötigerweise. Doch ich nutze die Gelegenheit, denn es ist immer erfreulich zu wissen, dass Freunde sich an einen erinnern. Und ich sage, dass Ihre Besorgnis unnötig ist, denn in meinen Erklärungen bezüglich der vier NGOs (Milenio, Cedib, Fundación Tierra und Cedla) habe ich weder jetzt noch bei einer früheren Gelegenheit ihre Schließung, Ausweisung oder irgendeine Einschränkung ihrer Aktivität erwogen. Sie wissen gut, dass in Bolivien die freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit nicht nur Bürgerrechte, sondern untrennbare Bestandteile des Lebens, der Geschichte und Entwicklung der demokratischen Gesellschaft, der sozialen Organisationen und Bewegungen sind. Die Demokratie selbst versteht und verbreitet sich nur auf der Grundlage der unveräußerlichen Freiheit der Vereinigung und der Gedanken.

Heute erreicht die Demokratie in Bolivien eine außerordentliche Tiefe und Verbreitung, präzise im Rahmen der Administration des Staates durch soziale Bewegungen von Indigenen, Bauern, Arbeitern, Nachbarn, deren Leben sich aus der Freiheit der Ideen und vielfältigen Organisationsformen speist. Das ist unsere Wurzel. Und für uns, die wir in neoliberalen Zeiten Unterdrückung und Gefängnis erlitten haben, weil wir anders denken, ist es mehr als klar, dass der sozialistische und plurinationale Horizont nur auf der Basis der Ausdehnung der demokratischen Prinzipien der Gedanken- und Assoziationsfreiheit aufgebaut werden kann.

In diesem Kontext – und in Ausübung der Freiheit der Gedanken und der Meinungsäußerung – habe ich gesagt, dass vier NGOs lügen und ihren reaktionären politischen Aktivismus mit der Decke der "Nicht-Regierungs-Aktivität" tarnen. Haben sie etwa kein Recht zu lügen? Aber sicher haben sie das, aber ich habe auch das Recht, dies anzuprangern, auf die Verfälschungen hinzuweisen, die in ihren angeblichen Untersuchungen stehen, die mehr den zehn Geboten des politischen Glaubens oder vereinfachten Analysen ähneln. So wie die Funktionäre dieser NGOs das verfassungsmäßig garantierte Recht haben, von diesen Organisationen ausgehend Politik zu betreiben, habe ich das Recht zu enthüllen, dass sie die Rolle der Lückenbüßer der politischen Parteien der Rechten spielen und dass ihre Funktionäre angesichts ihres wiederholten Scheiterns bei der offenen politischen Betätigung nichts anderes tun, als Anhänger mittels heuchlerischer "nicht kommerzieller" Aktivitäten zu rekrutieren.

Diese vier bolivianischen NGOs haben jedes Recht zu existieren, zu arbeiten, Untersuchungen anzustellen und auch Politik zu machen; aber wir haben das Recht und die Pflicht – so verlangt es die Bewegung, die den revolutionären Prozess in Bolivien leitet – ihren erstaunlichen ideologischen Rahmen im Umwelt-Diskurs zu kritisieren, der ausgeht und finanziert wird von den imperialen Zentren.

Wir sind uns alle darin einig, dass eine sozioproduktive Ordnung notwendig ist, die die vom Tauschwert angetriebene räuberische Logik gegenüber der Natur ersetzt. Aber an dem Punkt gibt es mindestens zwei Positionen. Die erste, die dem imperialen Diskurs entspricht, verficht, dass der ökologische Mehrwert, der die Entwicklung der Länder des Nordens stützt, von den Ländern des Südens bezahlt werden soll und friert so die Verbesserung der Lebensbedingungen ein und verewigt die kolonialen Beziehungen der Armut und Unterwerfung, die im Lauf von Jahrhunderten aufgebaut wurden und heute noch bestehen.

Diese Position ist ganz klar formuliert in den Vorschlägen zum Umweltschutz von Usaid bezüglich des Amazonas-Gebietes und im Vorschlag des Kabinetts von Tony Blair zur Einsetzung einer transnationalen Verwaltung dieser Region.

Im Gegensatz zu dieser Position ist für die souveränen indigenen Nationen eine neue, die Umwelt schützende Gesellschaft nur möglich, indem der koloniale Zustand der Zersplitterung und Armut gebrochen wird, der in den Völkern und Nationen des Südens herrscht. Worum es geht ist, eine ökologische Zivilisation durch die Kombination althergebrachten und zeitgenössischen Wissens zu schaffen, die fähig ist, einen schöpferischen Stoffwechsel zwischen Natur und durch Gesellschaft geschaffene Natur wiederherzustellen. Dies kann jedoch sicher nicht erreicht werden, indem kopiert wird, was im Norden geschieht (die Entwicklungs-Illusion), und noch viel weniger indem die Lebensbedingungen der Völker des Südens eingefroren werden (versteinerter Kolonialismus).

Diese Zivilisation kann nur entstehen, wenn wir fähig sind, die minimalen materiellen Existenzbedingungen herzustellen, die Befriedigung der Grundbedürfnisse, die die Freisetzung der kreativen und kognitiven Fähigkeiten der Völker für den Aufbau der Grundlagen einer ökologischen Gesellschaft ermöglicht, die nur von gemeinschaftlichem und universellem Charakter sein kann.

In diesem Sinn habe ich also vor denjenigen internationalen Organismen, NGOs und ausländischen Regierungen gewarnt und ihnen mit Ausweisung gedroht, die sich gegen die Interessen des Plurinationalen Staates Bolivien und den revolutionären Prozess des Volkes stellen, der sich seit zehn Jahren entwickelt. Es geht um eine Frage der Souveränität und elementaren Würde für jeden demokratischen Staat und ich habe auch als Staatsdiener nicht nur das Recht sondern die moralische und intellektuelle Pflicht, mich jeder Art von Einmischung in interne politische Angelegenheiten zu widersetzen.

Der Kern des zeitgenössischen Neoliberalismus, der Rechte, Ressourcen und soziale Gefüge auf der ganzen Welt zerstört, ist nicht die Ersetzung der nationalen Souveränität durch eine Art Globalisierung der von Territorien losgelösten Macht. Man muss nur die Mauern aus Zement und Eisen sehen, welche die angeblich entwickelten Staaten Tag für Tag errichten angesichts der Ströme der Arbeitskraft, um zu verstehen, dass die nationale Souveränität aller Länder durch die nationale Souveränität einiger weniger, die über das Schicksal der anderen entscheiden wollen, ersetzt werden soll.

Die Wiederherstellung der Grundlagen der nationalen Souveränität, das heißt, der Selbstbestimmung, ist eine der Säulen für die Demontage der neoliberalen Ordnung in Bolivien. Wir beziehen uns auf die Selbstbestimmung als Staat, um die Handhabung seiner Ressourcen und der Art und Weise der Beziehungen zu anderen Staaten zu bestimmen und ebenso auf die soziale Selbstbestimmung, um den Horizont als politische Gemeinschaft in der Geschichte zu bestimmen.

Das ist der Hauptgrund, warum wir – als souveräne Regierung –entschieden haben, den Internationalen Währungsfonds aus seinen Privatbüros rauszuwerfen, die er in der Zentralbank von Bolivien hatte; die CIA, die Büros im Regierungspalast hatte; das US-Militär, das seinen extraterritorialen Stützpunkt auf einem Flughafen im bolivianischen Amazonas hatte; die Usaid und den US-Botschafter, die gemeinsam mit separatistischen Gruppen der extremen Rechten konspiriert und die Teilung des Landes in Mikro-Republikchen unter ausländischer Ägide unterstützt haben.

Die nationale Selbstbestimmung ist eine Dimension der sozialen Selbstbestimmung und keine Revolution könnte in der Vertiefung der demokratischen Rechte der Gesellschaft ohne die Konsolidierung der Bedingungen der staatlichen Souveränität vorankommen. Es ist unmöglich, den inneren Horizont einer Gesellschaft (der Postneoliberalismus, das Vivir Bien, der Sozialismus etc) zu bestimmen, ohne ihren externen Horizont zu definieren, ohne souverän zu sein.

Deshalb können wir nicht zulassen, dass ein fremdes Land, Unternehmen oder eine halbstaatliche ausländische Organisation die öffentlichen Politiken des Plurinationalen Staates Bolivien bestimmen. Andernfalls wären wir einem Neokolonialismus unterworfen.

Dieser ganze Rahmen ermöglicht es mir, auf meine Kommentare über die erwähnten vier NGOs zurückzukommen, zu denen ich gesagt habe, dass sie lügen und die Interessen der internationalen politischen Rechten verteidigen, Ihre Besorgnis ist verständlich, doch sie haben Sie angelogen. Sie sind alarmiert, weil sie ihnen gesagt haben, ich hätte vorgeschlagen sie auszuweisen. Nichts ist falscher! Wem ich wirklich mit der Ausweisung aus dem Land gedroht habe, sind ausländische Organismen, die in politische Aktivitäten verwickelt sind, die die Souveränität Boliviens beeinträchtigen.

Damit ist vollständig belegt, dass diese NGOs lügen und sie tun es auf eine Weise, dass sie erreichen, dass wohlmeinende Personen sich dem imperialen Diskurs anschließen, Verdächtigungen über die Gültigkeit demokratischer Freiheiten und Bürgerrechte unter den revolutionären und progressiven Regierungen in Lateinamerika zu streuen.

Ich habe auch erwähnt, dass diese NGOs Parteipolitik der Rechten machen, indem sie den imperialen Umweltdiskurs unterstützen. Eine oberflächliche Prüfung ihrer Argumente, verglichen mit den Ausführungen von Usaid bezüglich des Amazonas, belegt das sofort. Sie werden also verstehen, dass, genauso wie wir die politische Meinung jedes nationalen Akteurs in Bolivien respektieren, ich als Bürger und noch mehr als Staatsdiener weder den Mund halten noch die Lügen dieser oder jeder anderen Institution verdecken muss, die dem revolutionären Prozess schaden, den die sozialen Organisationen des Landes entwickeln. Die nicht verhandelbare innere und äußere Verteidigung der bolivianischen Revolution ist für mich etwas genauso unverzichtbares, wie das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Assoziationsfreiheit selbst.

Ich bedauere zutiefst, dass Sie von diesen vier NGOs bei deren Versuch benutzt wurden, ein autoritäres Bild eines der – wie Sie sehr gut wissen – demokratischsten Länder der Welt zu simulieren. Dessen ungeachtet, wenn hinter dieser schlechten Vergangenheit Ihr guter Wille steht, revolutionäre oder progressive Horizonte für unser Land und die Welt zu diskutieren, seien Sie willkommen wie immer.

Herzlicher Gruß,

Bürger Álvaro García Linera

18. August 2015

  • 1. Die Fundación Milenio wird nach eigenen Angaben unter anderem finanziert von der US-Regierungsstiftung National Endowment for Democracy (seit Beginn ihrer Aktivitäten 1991) sowie von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung, der Stiftung Fundes aus der Schweiz und dem (von der EU-Kommission finanzierten) Institut für Europäisch-Lateinamerikanische Beziehungen in Madrid
  • 2. Die Fundación Tierra, die nach eigenen Angaben Untersuchungen in den Bereichen Ökonomie, Politik und nachhaltige Entwicklungen anstellt, wird vollständig aus dem Ausland, unter anderem vom katholischen deutschen Verein Misereor finanziert
  • 3. Das Centro de Documentación e Información Bolivia (Cedib) wird zu 70 Prozent von der EU-Kommission und zu 20 Prozent von verschiedenen europäischen NGOs finanziert und hat monatlich zwischen 200.000 und 500.000 US-Dollar zur Verfügung
  • 4. Das Centro de Estudios para el Desarrollo Laboral y Agrario (Cedla) wird von verschiedenen ausländischen NGOs finanziert, unter anderem auch von der im Dezember 2013 ausgewiesenen dänischen NGO Ibis. Im Jahr 2013 erhielt Cedla 4.621.797 US-Dollar, im Jahr 2014 3.953.319
  • 5. Für die Registrierung sowie die Überprüfung der Statuten und der Finanzierung von NGOs und gemeinnützige Stiftungen ist das Ministerium für Autonomie zuständig. Mit einem seit 1990 gültigen Gesetz wurde ein einheitliches nationales Register für die obligatorische Registrierung aller NGOs und die Erfassung und Systematisierung der Informationen zu ihnen geschaffen. Mit dem neuen Gesetz über die Gewährung des Status einer juristischen Person vom 19. März 2013 gilt die Vorschrift zur Anpassung von Statuten und internen Regeln auch für Organisationen, die ihren Rechtsstatus vor der Novellierung erlangt haben
  • 6. Im Mai 2013 hatte Boliviens Regierung die US-Entwicklungshilfeagentur Usaid, im Dezember des gleichen Jahres die dänische Nichtregierungsorganisation Ibis wegen politischer Einmischung des Landes verwiesen