Leserbrief an die Nachdenkseiten

Eine Antwort auf einen Artikel von Jens Berger zu den wirtschaftlichen und politischen Problemen in Venezuela

Lieber Jens Berger,

Sie haben am vergangenen Freitag eine längere Analyse zu den wirtschaftlichen und politischen Problemen in Venezuela veröffentlicht. Am Rande gehen Sie dabei auch auf das Nachrichtenportal Amerika21 ein, in dem ich als Redakteur für das Ressort Hintergrund & Analyse mitarbeite. Weil der Transformationsprozess in Venezuela für unser Medienprojekt eine besondere Rolle spielte und wir die Situation im Land weiter intensiv mit Nachrichten und Analysen begleiten, hier einige Anmerkungen zu Ihrem Text.

Zunächst muss ich kurz auf zwei sachliche Probleme eingehen. Sie schreiben eingangs, von 76 Bürgermeistern aus dem Lager der Opposition würden sich "33 in Haft oder vor Gericht" befinden. Diese Information stammt, vermute ich, aus dem Bericht der BBC. Sie trifft jedoch in dieser Form nicht zu, bzw. ist zumindest irreführend. Soweit ich weiß, befindet sich neben Antonio Ledezma nur ein einziger oppositioneller Bürgermeister im Gefängnis. Dabei handelt es sich um Daniel Ceballos aus San Cristóbal im Bundesstaat Táchira. Er steht dort derzeit u.a. wegen Aufruhr und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vor Gericht, weil er sich im vergangenen Jahr persönlich an Gewaltaktionen gegen die Regierung beteiligte, anstatt seiner Verpflichtung nachzukommen, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen.

Das Oppositionsbündnis "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD) gibt an, dass es 32 weitere Verfahren wegen Steuerhinterziehung, Korruption und Beteiligung an Gewalttaten gibt. Ob dies zutrifft, lässt sich von hier aus nur schwer überprüfen. Was ich aber weiß, ist, dass diese Verfahren mehrheitlich nicht zu einer Verurteilung führen. Das muss nicht daran liegen, dass sich die Vorwürfe nicht beweisen ließen, sondern hat eher damit zu tun, dass das Justizsystem und die Ermittlungsbehörden in Venezuela – wie in vielen Ländern der nördlichen Anden und in Mittelamerika – hochgradig "ineffizient" sind, wie viele Lateinamerikaner sagen, wenn sie korrupt meinen.

Wichtig im Zusammenhang mit Ihrem Beitrag ist Folgendes: Das venezolanische Problem ist nicht nur ein Ökonomisches, wie Ihr Titel nahelegt. Eine Regierung, die einen grundsätzlichen Politikwechsel anstrebt, wie aktuell etwa in Griechenland, übernimmt einen Staatsapparat, der über Jahrzehnte von den abgewählten Vorgängern geprägt wurde. In dieser Situation – der Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf (Die Linke) sprach davon, dass "der Staat kein Fahrrad" ist, auf das sich eine Linksregierung einfach draufsetzen und losfahren könne –, muss eine Regierung entweder – unter Verstoß gegen das Arbeitsrecht – alle hinauswerfen wie es beispielsweise Antonio Ledezma nach seiner Wahl 2008 machte, oder mit den alten Verwaltungsbeamten, Polizisten, Richtern und Staatsanwälten weiterarbeiten. Venezuela hat sich für diesen Weg entschieden.

Der andere Punkt betrifft Ihren Hinweis, dass "im Januar in Venezuela de facto das Kriegsrecht" verhängt worden sei. Auch das lässt sich nicht halten und wird in der Al-Jazeera-Meldung, die Sie verlinkt haben, auch gar nicht behauptet. Die Resolution 8610, um die es bei der vermeintlichen Verhängung des Kriegsrechts geht, ist das genaue Gegenteil von dem, was Sie annehmen: Sie regelt zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, unter welchen Umständen das Militär überhaupt potentiell tödliche Waffen einsetzen darf, um die öffentliche Sicherheit zu garantieren. Dabei werden äußerst hohe Maßstäbe angelegt, die deren Verwendung nur gestatten, wenn von öffentlichen Versammlungen selbst tödliche Gewalt ausgeht und die Polizei nicht in der Lage ist, die Situation zu kontrollieren. Angesichts einer Geschichte, in der sich Militärs über Jahrzehnte schwerster Menschenrechtsverletzungen schuldig machten, ist diese Resolution ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich der Verrechtlichung einer bisher von Willkür geprägten Situation. In der aktuellen medialen Debatte bietet sie allerdings ein weiteres trauriges Beispiel dafür, wie der Menschenrechtsdiskurs instrumentalisiert wird, um politische Interessen durchzusetzen.

Diese beiden Punkte verdeutlichen eigentlich nur, dass die Fernwahrnehmung anderer Gesellschaften sehr viel holzschnittartiger ausfällt, als die Erfahrungen, die man macht, wenn man sich länger einem Land aufhält. Diese Erfahrung war einer der Gründe, dass ein paar Leute, die Venezuela aus der Nähe kennen, im Sommer 2007 beschlossen haben, eigene Nachrichten über das Land zu publizieren. Das große Interesse beim Publikum in Deutschland, Österreich und der deutschsprachigen Schweiz hat uns in der Folge darin bestärkt, diesen alternativen Informationskanal zur Politik in Lateinamerika immer weiter auszubauen. Diesen Schritt - als Mitarbeiter der Nachdenkseiten können Sie einschätzen, was es bedeutet, ein solches Projekt ehrenamtlich nebenbei zu betreiben - haben wir auch immer wieder ausführlich medienpolitisch begründet, was durchaus relevant für die aktuellen Diskussionen um die Berichterstattung beispielsweise über den Ukraine-Konflikt ist.

Sie schreiben unter Ihrem Beitrag, Amerika21 würde eine "gänzlich andere Darstellung der Geschehnisse und eine wesentlich freundlichere Betrachtung der Regierungspolitik Venezuelas" liefern. Das klingt in diesem Zusammenhang, ehrlich gesagt, nach einem vergifteten Kompliment. Richtig ist, und da kann ich für alle sprechen, die in unserem Projekt mitarbeiten, dass wir einen sehr kritischen Blick auf die Arbeit, insbesondere auf die Wirtschaftspolitik, dieser Regierung werfen. Einen solchen Beitrag von unserem Redaktionsmitglied Jan (sic!) Kühn verlinken Sie unten. Es gibt unzählige andere, in denen wir insbesondere die von Ihnen geschilderte Währungspolitik aber auch andere Probleme der venezolanischen Rentenökonomie frühzeitig kritisiert haben. Zugleich erkennen wir aber auch an, dass die Transformation einer Rentenökonomie alles andere als ein leichtes Unterfangen ist und mit vielen politischen und gesellschaftlichen Widerständen und Widersprüchen zu kämpfen hat.

Die Zuweisung von Legitimität

Dabei zeichnete sich immer wieder folgendes Problem ab: Politiker und Journalisten in Deutschland tendieren dazu, eine Regierung öffentlich nur dann als "legitim" zu behandeln, wenn sie im Sinne der europäischen bzw. transatlantischen Interessen handelt, was selbstverständlich auch wirtschaftliche Interessen sind. Das betrifft natürlich auch das Handeln der aus Europa und den USA unterstützten Opposition.

Im Gegensatz dazu behandeln wir die venezolanische Regierung grundsätzlich als legitim, weil sie seit Dezember 1998 in zahllosen Wahlgängen von der Mehrheit der venezolanischen Wählerinnen und Wähler bestätigt wurde. Das bedeutet, dass wir bei der Bewertung der dortigen Situation auch – aber nicht nur – der venezolanischen Regierung Platz einräumen. Das unterscheidet Amerika21 im wesentlichen von den etablierten Massenmedien, deren Auslandsberichterstattung wir – recht erfolgreich – ergänzen.

Damit komme ich zum eigentlichen Problem, das ich mit Ihrem Beitrag, und mit zahllosen anderen Beiträgen zu Venezuela, habe. Sie schreiben eingangs in Bezug auf den angeblich verhinderten Staatsstreich: "Zweifel sind jedoch angebracht. Venezuelas Wirtschaft befindet sich im freien Fall." An diesem Punkt stellte sich mir die Frage, was der Zusammenhang zwischen beiden Aspekten ist - Bewertung des Vorwurfs "versuchter Staatsstreich" und wirtschaftliche Situation des Landes.

Mein Eindruck beim Lesen war, dass Sie aufgrund der teilweise verfehlten Wirtschaftspolitik meinen, die venezolanische Oberschicht und die US-Außenpolitik hätten es gar nicht nötig, eine ihnen unangenehme Regierung zu stürzen. Oder würden Sie sagen, dass sie sogar das Recht dazu haben? Angesichts der schlechten Versorgungslage sei es legitim, die Regierung zu stürzen? Was sollte unter demokratischen Umständen als legitim gelten?

Es ist in einem demokratischen System zweifellos legitim zum Sturz der Regierung aufzurufen. In der deutschen Debatte, zuletzt bei der PR-Studie über Linksextremismus in Deutschland, bezeichnet die Grenze zwischen grundsätzlicher Kritik und dem Aufruf zum Sturz einer Regierung den Übergang zu einer extremistischen Einstellung. In Venezuela konnte auch der – große und politisch dominante – extremistische Teil der Opposition seine Positionen immer lauthals und ungehindert verbreiten. Bisher hatten Aufrufe, die Regierung zu stürzen, nie eine strafrechtliche Konsequenz.

Nachdem diese Opposition im April 2013 mal wieder – knapp aber immerhin – die Wahlen verloren hatte, ging sie sofort zu einer gewalttätigen Kampagne über, um einen den Sturz der Regierung Maduro auch praktisch zu erzwingen.

Diese Kampagne hält bis heute an. Bei den rechten Krawallen vor einem Jahr starben über 40 Menschen. 13 Personen wurden getötet, als sie an Anti-Regierungs-Protesten teilnahmen, 5 Personen wurden beim Wegräumen von Barrikaden getötet, 8 der Toten waren Angehörige der Sicherheitskräfte, 14 waren Unbeteiligte. In nur 5 Fällen waren mutmaßlich Sicherheitskräfte für die Toten verantwortlich, in mindestens 15 Fällen Regierungsgegner.

Befindet sich dieses Vorgehen noch im Rahmen einer legitimen Protests? Nach der Meinung vieler Journalisten in deutschen Medien schon. Dass diese Haltung bei den Nachdenkseiten anklingt, überrascht mich etwas. Ich denke, sie ist es nicht. Die Regierung von Mossadegh im Iran, Salvador Allende in Chile und viele andere linke oder progressive Regierungen mussten sich bereits mit der Frage auseinandersetzen, wie sie mit gewalttätigen Straßenprotesten umgehen, die am besten auch noch mit der sozialökonomischen Situation begründet werden. Ich schildere Ihnen kurz folgendes Szenario:

Die Opposition mobilisiert auf einen der zentralen Plätze der Hauptstadt. Die öffentliche Debatte polarisiert sich immer stärker. Die Demonstrationen arten in Gewalt aus. Plötzlich fallen Schüsse. Demonstranten und Polizisten sterben. Der Präsident wird gestürzt.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Dieses Szenario hat sich so im April 2002 in Venezuela zugetragen, es hat sich ähnlich in Honduras im Juni 2009 abgespielt, vergleichbar ist der Sturz von Fernando Lugo im Juni 2012 abgelaufen. In Bolivien wäre es im Sommer 2008 fast soweit gekommen, im September 2010 in Ecuador. Von der Ukraine, Thailand, Syrien, Libyen und allen möglichen kunterbunten Revolutionen will ich an dieser Stelle gar nicht anfangen.

Sie sollten sich und den Leserinnen und Lesern von Nachdenkseiten nicht weismachen, dass das Problem nur in der "Ökonomie" besteht und dass die wirtschaftlichen Akteure frei von politischen Interessen sind. Wir sprechen davon, wie handlungsfähig linke Politik in einem angestrebten Transformationsprozess bleiben kann, in dem sie mit allen Mitteln von innen und außen angegriffen wird. Wir sprechen davon, was der Syriza in Griechenland noch bevorsteht. Natürlich werden wir dabei immer und mit allem Nachdruck einfordern, dass rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten werden. Das kann aber nicht heißen, dass eine linke Regierung sich den Luxus leisten kann, auf die Durchsetzung des Rechtsstaates gegenüber offen umstürzlerischen Ambitionen zu verzichten.

Wie der Fall aktuell bei Antonio Ledezma liegt, kann ich nicht einschätzen. Zumindest wurden auch zahlreiche Militärs unter dem selben Vorwurf festgenommen und Material präsentiert, dass auf sehr konkrete Putschpläne bzw. den Versuch hinweist, das Land ins Chaos zu stürzen, um sich einer unerwünschten Regierung zu entledigen. Was ich weiß ist, dass es keinerlei Grund gibt, den Vertretern der lateinamerikanischen Oligarchien mit irgendeinem Vertrauensvorschuss zu begegnen.

Mit besten & solidarischen Grüßen,

Malte Daniljuk
Redakteur für das Ressort Hintergrund & Analyse
Vorsitzender des Vereins Mondial21