Streik in Kolumbien: "Etwas anderes ist möglich"

Ein Bericht aus Bogotá

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Der landesweite Streik in Kolumbien weist auf die missliche Lage der Landwirte hin. Zwischen Demonstranten und Polizei kommt es dabei zu gewaltvollen Auseinandersetzungen. Doch die geschlossenen Proteste geben auch Anlass zur Hoffnung: Sie könnten der erste Schritt hin zu einem geeinten, friedlichen Kolumbien sein.

"Das ist ein historischer Moment!", ruft der junge Mann in Ruana – den traditionellen Ponchos der kolumbianischen Bauern – ins Mikrofon. Polizisten und Demonstrierende geben sich die Hände. Einige der Protestierenden umarmen die unbeweglichen schwarzen Gestalten. Diese rühren sich nicht. Doch wer nah genug steht sieht das Lächeln in ihren Gesichtern.

Die Demonstration durchquerte seit dem frühen Nachmittag Bogotá und kam gemeinsam mit der Abenddämmerung auf dem Plaza Bolívar im Zentrum der Stadt an. Vor dem Kongress sammelten sich die Demonstranten mit allem was Krach macht: Töpfe, Pfannen, Tröten – und es wäre kein kolumbianischer Protest, wären mit Claves, Cencerro (Kuhglocke), Trommeln und Bongos nicht auch die Instrumente einer Salsa-Combo versammelt. Vor den Stufen zum Kongress, direkt vor den sich angespannt aufgebauten Polizisten findet sich ein improvisiertes Orchester zusammen. Die Sondereinheit für Demonstrationen, die sogenannte "Mobile Terroreinheit" ESMAD, wirken in ihren schwarzen Anzügen unmenschlich. Die Schutzschilder, Schlagstöcke und Waffen zeigen, dass sie dafür ausgestattet sind Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen. "Normalerweise endet das im völligen Chaos – alle rennen, schreien und die da schlagen auf uns ein", erzählt mir der 21-jährige Kunststudent Edward und blickt mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Begeisterung auf das bunte, lärmige, vollkommen friedliche Bild vor unseren Augen.

Ein geeintes Land geht auf die Straße

Seit dem 19. August finden in Kolumbien landesweite Streiks statt. Hunderttausende Menschen fordern grundlegende Veränderungen in der Wirtschafts – und Agrarpolitik. Dem Aufstand der Bauern schließen sich mit jedem Tag mehr gesellschaftliche Sektoren an: Längst sind auch Lehrer und Studierende, Bergleute, Ärzte, etliche indigene Gruppen und viele andere Bürger Teil der Proteste. Sie sind "es leid, seit Jahrzehnten Politiken zu ertragen, die gegen die Bedürfnisse der großen Mehrheit des Volkes gerichtet sind", heißt es in einer Erklärung zum Streik.

Auf den Schildern und in den Chören der Protestierenden herrscht Einigkeit: "Wir sind alle Bauern" rufen sie und erinnern an die landwirtschaftliche Tradition und Kultur Kolumbiens. Noch heute sind rund ein Fünftel der Kolumbianer, die einer Arbeit nachgehen, in der Landwirtschaft beschäftigt. Doch dieser, für das Land so wichtige, Sektor leidet seit Jahrzehnten unter der Vernachlässigung der Politik. Während in Kolumbien die Armut generell zurückgeht, steigt sie auf dem Land. Rasant steigende Kosten und sinkende Gewinne führen dazu, dass zwei von drei Landarbeitern weniger als den Mindestlohn verdienen. Nach den Protesten im vergangenen März wurden Reformen und Unterstützung versprochen. Umgesetzt wurde davon kaum etwas. Daher gehen die enttäuschten und empörten Kolumbianer nun erneut auf die Straße und fordern ein Ende der neoliberalen Politik und die Aufkündigung der Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union und den USA. Die Bauern beklagen, dass die Importe es ihnen unmöglich machen, mit ihren Erzeugnissen Gewinne zu erzielen und protestieren insbesondere gegen das "Gesetz über Samen" welches sie dazu zwingt das –oft genmanipulierte - Saatgut großer Konzerne zu kaufen.

Ein Streik, zwei Darstellungen

Mittlerweile haben die Proteste das halbe Land lahm gelegt. Die Demonstranten blockieren die Verbindungsstraße zwischen Bogotá und den Verwaltungsbezirken Boyacá und Cundinamarca, sowie 30 weitere zentrale Straßen im ganzen Land. Sogar in der sonst in ihrer eigenen Welt lebenden Hauptstadt Bogotá sind die Proteste angekommen, die Straßen gesperrt, die öffentlichen Schulen sowie Universitäten vorübergehend geschlossen und viele Läden machen früh zu oder gar nicht erst auf.

Wer inmitten der lärmenden Kundgebungen zwischen Menschen aller Altersklassen und sozialer Schichten steht, hat das Gefühl Kolumbien noch nie so vereint gesehen zu haben. Dennoch hat der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos noch am Sonntagmorgen verkündet: "Dieser Agrar-Streik existiert nicht." Auch wenn er diese Äußerung bereits am Abend zurücknehmen musste und mittlerweile mit den Landwirten Verhandlungen aufgenommen hat, wird der Streik von Regierung und Medien heruntergespielt. Die Massenmedien berichten entweder gar nicht oder verzerrt von den landesweiten Kundgebungen. Die hunderttausend protestierenden Bürger werden entweder ignoriert oder als "Vandalen und Störenfriede" abgetan. Während die Nachrichten verletzte Polizisten zeigen, offenbaren die sozialen Netzwerke eine andere Realität: In rasendem Tempo werden Fotos und Videos der Proteste verbreitet, die die das aggressive Vorgehen der ESMAD gegen die zumeist friedlichen Demonstranten zeigen. Die Polizisten dringen in die Häuser überrumpelter Bauernfamilien ein, prügeln auf Demonstranten ein und gehen mit aller Härte gegen Senioren, Frauen und Kinder vor. Allein in Bogotá kam es bei den bislang größten Protesten am vergangenen Donnerstag nach offiziellen Angaben zu einem Toten und über 200 Verletzten. Die Schätzungen der NGOs liegen weit höher.

Hier nur einige der Beispiele für das unverhältnismäßige Vorgehen der ESMAD.

Ein erster Schritt hin zum Frieden

In dem von jahrzehntelanger Gewalt und geprägten und sozial tief gespaltenen Kolumbien enden Proteste leider oft in solch gewaltsame Auseinandersetzungen. Doch etwas ist diesmal anders. Nie haben sich so viele gesellschaftliche Sektoren einem Streik angeschlossen und mit jedem Tag werden es mehr. "Noch nie habe ich die Kolumbianer so wach, so einig erlebt", sagt die 33-jährige Aktivistin Ana Lucia mit vor Ergriffenheit brüchiger Stimme. Man spürt, dass es um etwas Größeres geht, als den Protest gegen die aktuelle Wirtschaftspolitik. Es geht den Kolumbianern um eine gemeinsame Vision für ihr Land. "Zum ersten Mal wird die Trennung in Weiße, Schwarze, Indigene, Bauern aufgehoben und wir reden von ´Kolumbianern` - und benennen damit etwas, das weit über ein Land oder Nationalismus hinausgeht", erzählt Ana Lucia von den Kundgebungen. Das gemeinsame Eintreten für die Interessen der Landwirte ist ein Schritt hin zu einer geteilten Identität, durch die aus dem gespaltenen Land endlich eine Nation werden kann, die den andauernden bewaffneten Konflikt überwindet.

Die Menschen in Kolumbien wollen Gerechtigkeit, doch vor allem wollen sie Frieden. Nach über 50 Jahren bewaffnetem Konflikt wollen sie den Frieden so sehr, dass die Demonstranten sich an diesem Dienstag, den 27. August 2013, abschirmend vor die ESMAD stellen, als eine Gruppe Fußballfans versucht, die friedliche Demonstration in das übliche Schlachtfeld zu verwandeln. "Keine Gewalt", singt der Sprechchor. Hass und Gewalt provozieren mehr Hass und Gewalt. Viele der Demonstranten wollen diese Spirale endlich durchbrechen.

Die Kundgebung bleibt friedlich und verwandelt sich in ein großes, lärmendes Konzert. Als in den Abendstunde einige der Polizisten ihre Schlagstöcke niederlegen und ihre Helme abnehmen, gehen die Demonstranten auf sie zu, geben ihnen die Hand oder umarmen sie sogar. "Wir lieben unser Land und wollen ein anderes, ein geeintes und friedliches Kolumbien", sagen die Demonstranten. "Einer muss den Frieden beginnen, wie einer den Krieg", schrieb Stefan Zweig. Diese Kundgebung auf der Plaza Bolívar könnte ein solcher Beginn sein. Es war nur einer von vielen Protesten, ein friedlicher Abend zwischen vielen gewaltvollen Tagen. Doch er zeigt: Etwas anderes ist möglich.


Lara Falkenberg (24) hat Staatswissenschaften an der Universität Erfurt studiert und reist seit 7 Monaten als freie Journalistin durch Kolumbien

Jose Luis Osorio (22) studiert Kunst an der Universidad de los Andes in Bogotá. Einen Einblick in seine fotografische Arbeit bekommt man auf www.flickr.com/photos/chepemd