Kurz vor den Wahlen in Ecuador forderte die Organisation "Reporter ohne Grenzen" (RoG) den ecuadorianischen Präsidenten auf, die ihrer Ansicht nach "restriktiven Mediengesetze" des Landes zurückzunehmen. Aufgrund dieser Gesetze drohen Journalisten Haft- sowie hohe Geldstrafen für Vergehen wie Verleumdung. Der Präsident habe etwa im Fall des Kolumnisten Emilio Palacio persönlich von solchen Regelungen Gebrauch gemacht und Medienhäuser oder Journalisten verklagt, kritisierte RoG-Geschäftsführer Christian Mihr. "Reporter ohne Grenzen" forderte den Präsidenten nun auf, Vergehen wie Verleumdung oder Beleidigung zu "entkriminalisieren".
Diese Forderung ist aus journalistischer Perspektive gleich in mehrerlei Hinsicht absonderlich: In Deutschland und jedem anderen Land der Welt wird das Recht auf freie Meinungsäußerung mit anderen gesetzlich garantierten Rechten abgewogen – dazu gehört etwa der Schutz der Persönlichkeitsrechte des Einzelnen. Die Privat- und Intimsphäre jedes Menschen müssen auch in Deutschland respektiert werden, Behauptungen können nur verbreitet werden, wenn sie belegbar sind. Jeder Journalist kennt Fälle, in denen aus guten Gründen bzw. wegen fehlender Belegbarkeit davon abgesehen wird, eine Story zu bringen. Dieser Sachverhalt ist keineswegs eine Einschränkung der "Meinungsfreiheit", sondern trägt vor allem dazu bei, dass gewisse Standards in der öffentliche Debatte nicht unterboten werden. Christian Mihr fordert nun Straflosigkeit für Verleumdungen oder Beleidigungen - wenn Journalisten sie begehen.
Hinzu kommt, dass Ecuador über kein eigenes Pressegesetz verfügt. Abzuschaffen wären in diesem Fall rechtliche Normen für die gesamte Bevölkerung, es sei denn, Ecuador gibt sich Gesetze, die bestimmte Berufsgruppen außerhalb des allgemein geltenden Rechts stellen – sozusagen ein journalistisches Sonderrecht auf Verleumdung. Dies würde nicht nur gegen die ecuadorianische Verfassung sondern auch gegen jeden Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Drittens erweckt Christian Mihr mit seiner Adressierung den Eindruck, als ob Rafael Correa und nicht etwa das ecuadorianische Parlament oder die Bevölkerung die maßgeblichen Gesetzgeber wären. Da der Sprecher von RoG laut biographischer Notiz das Land aus eigener Anschauung und Berufspraxis kennt, sollte er es eigentlich besser wissen.
Im Fall des Journalisten Emilio Palacio und der ecuadorianischen Tageszeitung El Universo klagte Rafael Correa, weil das Blatt und sein Kolumnist mehrfach behaupteten, Rafael Correa habe einen Schießbefehl gegeben, in dessen Folge mehrere Menschen starben. Bei den Vorgängen Ende September 2010, einem putschartigen Aufstand der Polizei in Quito, wurde der Präsident in einem Krankenhaus eingeschlossen, beschossen und verletzt – als er versuchte, persönlich mit den aufständischen Polizisten zu verhandeln. Bei dem anschließenden Befreiungsversuch starben acht Menschen, darunter mehrere Militärs, Polizisten und ein Student, die versuchten, den ecuadorianischen Präsidenten zu befreien. Rafael Correa sei der "Mörder" dieser Menschen, behaupteten in offen verleumderischer Absicht Emilio Palacio und El Universo.
Dieser Vorwurf ist derartig abstrus, dass deutsche Medien und Nachrichtenagenturen den eigentlichen Sachverhalt gleich ganz unterschlugen und stattdessen die Legende kolportierten, der Präsident habe nur deshalb gegen den Kollegen Palacio geklagt, weil er Correa als "Diktator" bezeichnete. Auch dass Rafael Correa während des gesamten Prozesses anbot, seine Klage zurückzuziehen, wenn El Universo eine Gegendarstellung veröffentlicht und sich entschuldigt, war in Deutschland keinem Medium eine Erwähnung wert – obwohl ein derartiges Vorgehen auch hier zu den redaktionellen Selbstverständlichkeiten gehören würde.
Für die Qualität der deutschen Auslandsberichterstattung spricht aber immerhin, dass kein Medium die absolut sinnfreien Forderungen von Christian Mihr und "Reporter ohne Grenzen" aufgriff – nur das Internet-Portal Entwicklungspolitik-Online (epo) dokumentierte die Presseerklärung. Zu Fragen bleibt allerdings, was eine Nicht-Regierungsorganisation treibt, mit derartigen Forderungen aufzutreten. Während die Medien- und Kommunikationswissenschaft sich seit Jahren damit beschäftigt, wie in Lateinamerika die Meinungsmacht privater Unternehmen abgebaut, medienwirtschaftliche Monopole reduziert und gewisse journalistische Mindeststandards gewährleistet werden können (siehe unten), ergreift die Interessensvertretung "Reporter ohne Grenzen" hartnäckig Partei für partikulare privatwirtschaftliche Interessen unter dem Gewand der Meinungsfreiheit.
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Diese Linie ist nicht einfach der mangelnden Qualifikation ihres Sprechers Christian Mihr geschuldet. Auch wenn er den Eindruck erweckt, dass ihm grundlegende Fragen des Medienrechts unbekannt sind, obwohl er angeblich Journalistik studierte, spricht die Entwicklung seines Vorgängers im Amt des RoG-Sprechers vielleicht eine deutlichere Sprache: Christian Rickerts wechselte im Mai 2012 zur Bertelsmann-Stiftung und leitet dort die Abteilung Corporate Communications. Diese Stiftung hält 77,6 Prozent des Aktienkapitals der Bertelsmann SE & Co. KGa, dem mit Abstand größten Medienunternehmen Deutschlands, das seine familiäre Meinungsmacht vor allem für die weltweite Verbreitung markradikaler Politik im eigenen Interesse einsetzt.
Hinsichtlich der Diskussion um Meinungsfreiheit bleibt festzuhalten, dass es für deren unparteiische Vertretung nicht ausreicht, keine Regierungsorganisation zu sein: Ein kritischer Mindestabstand zu unternehmerischen Interessen wäre für die eigene Glaubwürdigkeit eine zusätzliche Anforderung.
Die freie Meinung und der freie Markt (Le monde diplimatique)
Die Macht und die Wirklichkeit (Le monde diplimatique)
Medien und Demokratie in Lateinamerika (Manuskripte 95, Rosa-Luxemburg-Stiftung)