Lateinamerika

Die Lage der lateinamerikanischen Linken

Der brasilianische PT-Politiker Valter Pomar analysiert die Bedingungen und Möglichkeiten der linken Wende in Lateinamerika: Das "offene Fenster" für Erfolge der Linken könnte sich schließen

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Valter Pomar auf einer Konferenz in Griechenland
Valter Pomar auf einer Konferenz in Griechenland

Was hier ausgeführt wird, trifft heute häufig keine widerspruchsfreie politische Übersetzung in Ozeanien, Afrika, Europa und den Vereinigten Staaten. In Lateinamerika nehmen wir heute an dem Versuch teil, einen neuen sozialistischen Zyklus zu beginnen, an einer Debatte und praktischen Handlungen bei der, worauf der Historiker Eric Hobsbawm neulich hingewiesen hat, in einem größeren Ausmaß auf die Grammatik des Marxismus zurückgriffen wird. Das führt uns zur Lage, in der sich die lateinamerikanische Linke in ihrer Gesamtheit im Jahr 1991 befand; was mit dieser Linke seither geschehen ist; wie ihre aktuelle Lage ist; und welches ihre Perspektiven sind.

Die lateinamerikanische Linke wurde in den sechziger Jahren und Anfang der 1970er global geschlagen. Die kubanische Revolution wurde blockiert; andere populäre, nationalistische und revolutionäre Prozesse wurden niedergeschlagen; die lateinamerikanischen Guerillas hatten keinen Erfolg; die Erfahrung der Unidad Popular in Chile endete tragisch; und ein großer Teil des Kontinents wurde de facto Diktaturen und der Rechten unterworfen. Zwischen Ende der siebziger Jahre und Beginn der achtziger Jahre kam es zu einer Änderung. Die großen sozialen Kämpfe in Brasilien und der Sieg der sandinistischen Guerilla sind zwei Beispiele dafür.

Während der 1980er-Dekade verschwanden die Diktaturen. Aber an ihrer Stelle erschienen vom Neoliberalismus beeinflusste, eingeschränkte Demokratien. Die Siege von Collor in Brasilien (1989) und von Chamorro in Nicaragua (1990) markieren dann u.a. den Beginn eines Jahrzehnts der neoliberalen Hegemonie. Es war genau dieser Kontext des Jahres 1990, unmittelbar vor der Auflösung der UdSSR, in dem ein großer Teil der lateinamerikanischen Linken entschieden hat, sich in einem Seminar zu treffen, das dann zur Gründung des São-Paulo-Forums führte.

Die Auflösung der UdSSR hatte auf Kuba direkte materielle Auswirkungen. Auf die anderen Länder, besonders auf deren Linke, waren die Wirkungen hauptsächlich ideologisch und politisch. Aber die unmittelbare Bedrohung durch die Vereinigten Staaten, der jüngste Kampf gegen die Diktaturen und die Kämpfe gegen den entstehenden Neoliberalismus wirkten wie ein "Impfstoff", der die demoralisierenden Wirkungen begrenzt hat, welche die Krise des Sozialismus auf weite Sektoren der Linken in anderen Regionen der Welt hatte. Es ist nicht so, dass es nicht Fahnenfluchten, Verrat und ideologische Umwandlungen gegeben hätte. Aber in einer gesamten und vergleichenden Sicht ist die lateinamerikanische Linke besser als ihre europäischen Genossen aus der Krise gekommen.

Dies wurde durch mindestens vier Faktoren beeinflusst:

Erstens: Wegen des Charakters unseres Kontinents als besetztem "Ort" in der internationalen Arbeitsteilung während der Periode des klassischen Imperialismus hatten wir keine sozialdemokratischen Erfahrung und nicht den "Wohlfahrtsstaat", der dem Glauben anhing, dass sich Kapitalismus mit Demokratie und gesellschaftlichem Wohlstand versöhnen kann. Was dann als Nächstes gekommen ist, der Populismus, insbesondere in Argentinien, wurde mit brutaler Gewalt von den Oligarchien und dem Imperialismus bekämpft. Mit anderen Worten, sogar dort wo die Linke unter demokratisch-kapitalistischen Fahnen kämpfte, war die real existierende Bourgeoisie im Allgemeinen ein solider Gegner. Obwohl das die Illusionen nicht beseitigt hat, gab es dank der Kämpfe in den achtziger Jahren eine viel radikalere Ausrichtung, ohne die manche Erfolge des Widerstands gegen den Neoliberalismus nicht möglich gewesen wären.

Zweitens: Trotz der Irrtümer, der Begrenzungen und trotz des Rückschritts, der hauptsächlich durch die Kombination von US-Blockade und dem Kollaps der UdSSR verursacht wurde, hat der tapfere kubanische Widerstand es verhindert, dass wir das deprimierende und demoralisierende Schauspiel erleben mussten, das sich in vielen Länder Osteuropas und der UdSSR abspielte.

Dazu kommt, dass gewisse Charakteristika der kubanischen Gesellschaft ein positives Beispiel für die armen Arbeiter der Mehrheit lateinamerikanischer Länder waren und immer noch sind. Was in Europa, meines Erachtens, größtenteils nicht so war. Infolgedessen war es für große Teile der lateinamerikanischen Linken leichter, die Verteidigung des Sozialismus aufrecht zu erhalten, die nationalen Besonderheiten zu beachten, und eine viel kritischere Einstellung bezüglich angeblich allgemein gültiger Modelle zu bewahren, besonders wenn sie aus anderen Regionen kommen.

Drittens: Die neoliberale Hegemonie, kombiniert mit der durch das Verschwinden der UdSSR beförderten Vorherrschaft der USA, wurde sofort für ein echtes Risiko gehalten, nicht nur für die Linken, sondern für die nationale Souveränität und für die wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas. Dies ermöglichte es vielen Organisationen der regionalen Linken, dass sie mit Nationalismus und "Entwicklungspolitik" (desarrollismo) ausgleichen konnten, was an sozialistischen und revolutionären Inhalten verloren ging.

Viertens: Das Ende der UdSSR hat für die kapitalistischen Kräfte unermessliche Ausdehnungsgelegenheiten eröffnet, besonders für die Vereinigten Staaten und für die entstehende Europäische Union. Von dort hat sich eine Konzentration der Anstrengungen in Osteuropa und im Mittleren Osten abgeleitet, begleitet von einer gewissen "systematischen Unbekümmertheit" darüber, was im sogenannten lateinamerikanischen Hinterhof geschah. Das erklärt nicht die Tatsache an sich, aber die Geschwindigkeit mit der die den Neoliberalismus kritisierenden Parteien ab 1998 in wichtigen Ländern der Region an die Regierungen gekommen sind.

Wenden wir uns dem Feld der Ideologie zu. Die Linken, die ab 1998 an die Regierungen kommen, aber auch jene, die sich seither in der Opposition befinden – in manchen Fällen gegen die Rechte, in anderen Fällen sogar gegen fortschrittliche oder Mitte-links-Regierungen –, haben die ideologische Verwirrung und die theoretischen Defizite nicht überwinden können, die sich in drei grundlegenden Feldern ausdrückt: in der Bilanz der Versuche des Aufbaus des Sozialismus im 20. Jahrhundert, der Analyse des Kapitalismus des 21. Jahrhunderts und der Erarbeitung einer der neuen historischen Periode angepassten Strategie.

Kaleidoskopie eines "Sozialismus des 21. Jahrhunderts"

Die Versuche, eine Theorie des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" auszuarbeiten sind kaleidoskopisch; die Analysen des imperialistischen neoliberalen Kapitalismus sind noch im Versuchsstadium; und die praktischen Ergebnisse zeigen die Grenzen der unterschiedlichen Strategien. Die Verwirrung verschlimmert sich durch den Einfluss gewisser "Schulen", die in der Linken sehr aktiv sind, wie denen des "desarrollismo" (Entwicklungsparadigma), des "Etapismo" (Etappenlehre) oder des "Movimientismo" (Bewegungsprimat), gar nicht zu sprechen von einem gewissem Märtyrer-Kult ("klein aber fein", "je ärmer, desto besser" und anderes von derselben Gattung) der starke christliche Wurzeln aufweist. Klar, dass die ideologische Verwirrung und die theoretische Begrenzung nicht ein so großes Problem darstellt, wenn einem der Wind in den Rücken bläst. In gewissem Sinn geschieht das Gegenteil. Eine gewisse Dosis von Unwissenheit über die materiellen Grenzen – nicht zu wissen was "unmöglich" ist – hilft, über die Grenzen des Möglichen hinauszugehen. Aber wenn der Wind sich dreht und uns ins Gesicht bläst, dann werden theoretische Klarheit und ideologische Geschlossenheit zu grundlegenden Aktiva. Und jetzt, im Jahr 2012, kommen wir in eine Situation mit Gegenwind. Kommen wir zu den politischen Implikationen.

Die Wichtigste von ihnen ist, dass, abgesehen von seltenen Ausnahmen, die Gesamtheit der lateinamerikanischen Linken die Wahlpolitik, die parlamentarische Politik und die Regierungstätigkeit in ihr strategisches Arsenal aufgenommen hat. Das heißt, sie hat eine typische Waffe aus dem sozialdemokratischen Arsenal genau in dem Augenblick aufgenommen, in dem sich in der alten Welt die fortschrittlichen Elemente der bürgerlichen Wahldemokratie und der klassischen Sozialdemokratie im Niedergang befinden. Diese Aneignung der wahlpolitischen und der parlamentarischen Tätigkeit als Waffen der Linken war aus verschiedenen Gründen möglich. Für einen Teil der Linken lässt die politisch-militärische Niederlage der Guerilla anführen, der Rückgang der Einschränkungen der "bürgerlichen Demokratie", und die besondere Dynamik die eine mehr oder weniger erfolgreiche Kombination zwischen sozialem und Wahlkampf in jedem Land erlaubt hat. Aber damit jene Waffen mit gewissem Erfolg von den Linken benutzt werden konnten – seit dem Ende der neunziger Jahre bis heute – ist es erforderlich, auch die relativen Änderung in der Einstellung der Vereinigten Staaten, der Rechten und der örtlichen Bourgeoisie zu berücksichtigen, die in einigen Ländern nicht die Mittel und/oder die Gründe hatten, um die Linke an den Wahlurnen zu blockieren.

Aber nachdem eine gewisse Anfangseuphorie verflogen war, stießen die unterschiedlichen lateinamerikanischen Linken an die Grenzen dessen, was wir den "Weg der Wahlen" nennen können. Auf verschiedene Weise, – weil die Linken, die Prozesse und die politischen Kulturen unterschiedlich sind –, wurden ihnen folgende Spannungsfelder deutlich: die Unterschiede zwischen Staat und Regierung; die komplizierte Kombination zwischen repräsentativer Demokratie und direkter Demokratie; die Grenzen der Teilnahme der Bevölkerung und der gesellschaftlichen Bewegungen; die Unterschiede zwischen revolutionärer Gesetzlichkeit und institutioneller Gesetzlichkeit.

Zudem sind die Mechanismen der Verteidigung des bürgerlichen Staates – die Bürokratie, die Justiz, die Korruption und die Streitkräfte – immer noch wirksam, um die progressiven und linken Regierungen einzuschränken. Heute mehr als früher ist offenkundig, dass die lateinamerikanische Linke ein größeres Verständnis der regionalen und weltweiten Erfahrungen braucht, in denen sie die Waffen der Wahl, des Parlaments und der Regierung als Mittel benutzt, um zu versuchen, die sozialistische oder sozialdemokratische Transformation der Gesellschaft zu ermöglichen. Die Abwesenheit der Klarheit in diesem Bezug, besser gesagt, die verschiedenen Interpretationen bei diesem Thema, erzeugen seit 1998 zugespitzte Auseinandersetzungen innerhalb der lateinamerikanischen Linken, zwischen zwei Polen und deren Zwischenvarianten: Diejenigen, die vorhaben, schneller vorzurücken und denjenigen, die sich davor fürchten, schneller vorzurücken als die Kräfteverhältnisse es vermutlich erlauben.

Die beiden genannten Problembereiche verbinden sich mit einem Dritten, einer etwas komplexeren Frage, bezogen auf das Verständnis der historischen Etappe, in der wir leben und die Konflikte, die in Lateinamerika im Gange sind. Wie wir früher gesagt haben, muss das Ende der UdSSR im Kontext des Übergangs vom klassischen imperialistischen Kapitalismus zum neoliberalen Kapitalismus gesehen werden – auch imperialistisch aber unterschiedlich zum vorherigen. Der klassische imperialistische Kapitalismus war von zwei Momenten durchzogen: Eines markiert durch den zwischenimperialistischen Widerspruch, das andere durch den Konflikt zwischen "sozialistischem Lager" und "imperialistischem Lager". Neben diesen Widersprüchen existierten auch die inneren Widersprüche eines jeden Landes wie auch der Widerspruch zwischen Metropolen und Peripherie.

Mit dem Ende der UdSSR ist der Kampf zwischen den "Lagern" verschwunden. Jetzt hat sich der zwischenkapitalistische Widerspruch akzentuiert und leitete in eine neue Variante ab: der Konflikt zwischen den alten Zentren (USA, Europäische Union und Japan) und den neu auftauchenden Zentren (wie China und seinen Verbündeten, den sogenannten BRICS-Staaten). Der Kampf zwischen diesen Zentren (alten und neuen) und seinen betreffenden Peripherien nimmt unterschiedliche Formen an, wie auch die Konflikte innerhalb jeden Landes unterschiedlich sind. Wie immer auch die innerkapitalistischen Konflikte auftreten, ist es wichtig, das Grundsätzliche anzuerkennen: Der Sozialismus befindet sich immer noch in einer Periode der strategischen Defensive.

Eine Zeit der Wahlsiege

Im Fall Lateinamerikas, zum Beispiel, erweitert die Linke seit mehr als zehn Jahren ihre Beteiligung an Regierungen und tritt mit größeren oder kleineren Entscheidungen dem Neoliberalismus entgegen, aber der Kapitalismus ist überall immer noch hegemonial. Das hindert manche Sektoren der Linken nicht, den laufenden politischen Prozess in den betreffenden Ländern mit kämpferischen Namen (verschiedene Varianten der "Revolution") zu benennen, und hindert wieder andere Sektoren der Linken nicht, die objektiven Schwierigkeiten zu "lösen", indem die regierenden Parteien des Mangels an Kampfbereitschaft und der Festigkeit der Absichten beschuldigt werden, was ohne Zweifel in einigen Fällen stimmt. Aber jenseits des Verrats, des Voluntarismus und des Reiches der Wünsche scheint die Wahrheit die folgende zu sein: Sogar dort, wo die regierende Linke treu zu den sozialistischen und kommunistischen Absichten steht, setzen die materiellen Bedingungen der Zeit, in der wir leben, objektive Grenzen.

Wesentlich ist, dass solche Grenzen die Regierungen der Linken zwingen – einschließlich der politisch radikaleren – zu kapitalistischen Methoden zu greifen, um wirtschaftliche Entwicklung zu erzeugen, die Produktivität der Wirtschaft zu steigern, die Kontrolle über die nationalen Reichtümer zu erweitern, die äußere Abhängigkeit und die Macht des transnationalen Kapitals einzuschränken, insbesondere des Finanzkapitals. Und solche Grenzen beschränken die Finanzierung der Sozialpolitik. Man muss daran erinnern, dass der imperialistische neoliberale Kapitalismus einen Rückschritt in der wirtschaftlichen Entwicklung Lateinamerikas provoziert hat. Eine der politischen Folgen dieses Rückschritts war die allmähliche Verschiebung zu Gunsten der oppositionellen linken Kräfte, von Sektoren der Bourgeoisie und der Mittelschichten.

Diese Verschiebung hat den Wahlsieg der gegenwärtigen progressiven und linken Regierungen ermöglicht, und Mehrklassen-Regierungen erzeugt, eng verbunden mit der Verteidigung der pluralen Wirtschaft, mit einer weitgehenden Dominanz des privaten Eigentums in seinen verschiedenen Formen, einschließlich des gegensätzlichsten, des kooperativen Eigentums und des Staatskapitalismus. Es ist wichtig festzustellen, dass diese Lage nicht im Widerspruch zu einer der Schlussfolgerungen aus den sozialistischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts steht: die Vergesellschaftung der Produktionsverhältnisse hängt von der Vergesellschaftung der Produktivkräfte ab, und diese verlangen kapitalistische Methoden mit einer umgekehrten Intensität zum vorhergehenden Niveau wirtschaftlicher Entwicklung.

Nachdem wir zu diesem Punkt gekommen sind, können wir das bisher Gesagte in der folgenden Form zusammenfassen. Im Jahr 1991 erlitt die lateinamerikanische Linke einen doppelten Prozess der Niederlage: erstens die Niederlage des Zyklus der Guerilla der sechziger und siebziger Jahre; nachher die Niederlage des Zyklus der Re-Demokratisierung der achtziger Jahre. Das Ende der UdSSR und der Aufstieg des Neoliberalismus verstärkten anfänglich die Niederlage, aber am Ende führten sie zur Eröffnung der dritten Periode, deren Ausgang anders ist: Es beginnt 1998 ein Zyklus von Wahlsiegen, aus dem sich ein regional günstiges Kräfteverhältnis ergibt, das bis heute noch anhält. Die inneren und äußeren Bedingungen, die diese Folge der Siege ermöglicht haben, erlaubten diesen Regierungen in einem ersten Augenblick, die Niveaus nationaler Souveränität, politischer Demokratie, sozialen Wohlstands und wirtschaftlicher Entwicklung ihrer Länder und Bevölkerungen zu erweitern.

Aber im Grunde wurde zwar das Einkommen auf unterschiedliche Weise umverteilt, jedoch ohne das Wesen der Produktion und der Verteilung des Reichtums zu verändern. In der weiteren Entwicklung setzten das Wesen der Produktion und Verteilung des Reichtums – verstärkt durch andere politische, ideologische, strategische, wirtschaftliche, soziologische, geopolitische Bedingungen – engere Grenzen für die Entwicklung von nationaler Souveränität, politischer Demokratie, sozialem Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung, als die Linke – in Regierung oder Opposition – ursprünglich erhofft hatte.

Wir sind heute in dieser zweiten Phase, die mit einer Zuspitzung der internationalen Lage zusammenfällt, die sich in zwei Arten auf unsere Region auswirkt: einerseits wird besonders die Lage der Wirtschaft kompliziert, die vom internationalen Markt abhängt; andererseits wird der Druck der Metropole auf die Region verstärkt und beendet jene Periode einer gewissen "strategischen Unaufmerksamkeit", die bestimmte Wahlsiege erleichtert hat. Die inneren Begrenzungen und die Änderung des äußeren Milieus führen zu einer Verschärfung des Konflikts innerhalb eines jeden Landes nicht nur zwischen Linker und Rechter, sondern auch zwischen denjenigen sozialen und politischen Kräften, die wir zusammengenommen als "Linke" bezeichnen: Sie können auch die Differenzen zwischen Regierungen der Region verschlimmern.

Wie sind nun die Perspektiven?

Man muss erstens die Auswirkung der Makro-Entwicklungen auf die Region berücksichtigen, auf die wir keinen direkten Einfluss haben: die Geschwindigkeit und die Tiefe der internationalen Krise, die Konflikte zwischen den Großmächten, die Ausweitung und die Wirkung der Kriege. Beachtet werden müssen innerhalb dieser globalen Veränderungen diejenigen, die die Zukunft der USA betreffen: Können sie ihre globale Hegemonie wieder herstellen? Werden sie ihre Kräfte auf ihre regionale Hegemonie konzentrieren? Werden sich ihre Kräfte mit den internen Konflikten im eigenen Land erschöpfen?

Zweitens muss man das Verhalten der lateinamerikanischen Bourgeoisie berücksichtigen, insbesondere ihrer transnationalen Sektoren: Wie verhalten sie sich gegenüber den progressiven und linken Regierungen? Wie ist ihre Haltung zu den Prozessen der regionalen Integration? Welche Kapazitäten hat sie für die Konkurrenz mit der Bourgeoisie der Metropolen und für ihr Streben nach einer stärkeren Rolle auf der weltweiten Bühne? Von der "Laune" der Bourgeoisie werden die Beibehaltung der Ausrichtung auf Wahlen und die Beständigkeit der Mehrklassen-Regierungen abhängen. Oder umgekehrt: Ohne die Zustimmung oder zumindest die Akzeptanz durch die lateinamerikanischen Bourgeoisie werden sich die Bedingungen des Klassenkampfes in der Region und in jedem Land radikalisieren.

Der dritte Aspekt betrifft die Fähigkeit und Aufstellung der hegemonialen Sektoren der Linken – politische Parteien, gesellschaftliche Bewegungen, Intellektuelle und Regierungen. Die Frage ist, inwieweit diese hegemonialen Sektoren dazu bereit sind und ob es ihnen gelingen wird, die Grenzen der aktuellen Periode zu überwinden, und mit welcher Geschwindigkeit? Anders gesagt: Inwieweit es ihr gelingt, diese neue, noch unbekannte politische Entwicklung in der regionalen Geschichte zu nutzen, um die Bedingungen der regionalen Integration, der nationalen Souveränität und der politischen Demokratisierung zu vertiefen, sowie den sozialen Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung zu verbreitern. Und die Hauptfrage: Werden sie die seit Jahrhunderten in der Region herrschenden strukturellen Grundlagen der äußeren Abhängigkeit und der Konzentration des Eigentums verändern können, oder nicht?

Wenn wir diese drei große Dimensionen des Problems berücksichtigend, können wir die Perspektiven unter drei Aspekten zusammenfassen:

Objektive Bedingungen, subjektive Schwierigkeiten und knappe Zeit

Objektive Bedingungen: Ohne die negativen Alternativen, das internationale Szenario und die bestehenden Bedingungen im heutigen Lateinamerika, besonders in Südamerika, zu vergessen, entstehen zwei große positive Alternativen, nämlich ein Zyklus der kapitalistischen Entwicklung mit sozialdemokratischer Prägung und/oder ein neuer Zyklus des Aufbaus des Sozialismus. Bezüglich dieser zweiten Alternative stehen wir aus Sicht des materiellen Standpunkts relativ besser da als das Russland von 1917, das China von 1949, das Kuba von 1959 oder das Nicaragua von 1979.

Subjektive Schwierigkeiten: Heute haben diejenigen, die zwar den Willen besitzen, nicht aber die Stärke, und die, welche über die Kraft verfügen, nicht die Willenskraft gezeigt, um die notwendigen Maßnahmen mit der angemessenen Geschwindigkeit und Intensität mit dem Ziel durchzuführen, die offenen Möglichkeiten durch die internationale Situation und durch die regionalen Kräfteverhältnisse auszunutzen. Eine wichtiges Detail: Es gibt weder Zeit noch Material, um eine andere hegemoniale Linke zu formen. Entweder nutzt die hegemoniale Linke, die wir haben, das offene Fenster, oder eine Gelegenheit wird verloren gehen. Die Zeit ist knapp: Die Entwicklung der internationalen Krise neigt dazu, eine wachsende Instabilität zu erzeugen, die die Bedingungen für die Tätigkeit der regionalen Linken sabotiert. Die Möglichkeit, gewählte Regierungen zu nutzen, um signifikante Transformationen der lateinamerikanischen Gesellschaften durchzusetzen, wird nicht für immer andauern. Das seit Ende der neunziger Jahre geöffnet Fenster hat sich noch nicht geschlossen. Aber der Sturm, der sich nähert, kann es jäh zuschlagen.

Das Spiel ist noch nicht beendet. Das ist ein Antrieb für diejenigen, die daran arbeiten müssen, dass die lateinamerikanischen Linken – besonders jene die regieren, und innerhalb derer die brasilianische Linke – nun in Angriff nehmen, was sie schuldig sind und was sie erreichen können. Wenn dies geschieht, werden wir die aktuelle Periode der strategischen Verteidigung erfolgreich durch den Kampf um den Sozialismus überwinden können.

Alles in Allem: Das Fenster ist immer noch offen.


Valter Pomar ist Mitglied der Nationalen Leitung der Arbeiterpartei (PT) Brasiliens und Sekretär des São-Paulo-Forums. Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, den er auf dem 16. Internationalen Seminar der Partei der Arbeit im März 2012 in Mexiko-Stadt hielt.