Ungeachtet der verschiedenen Erfolge, Schwierigkeiten und Widersprüche, der sich die bolivianische Regierung in den vergangenen zwölf Monaten ihrer Regierungsführung ausgesetzt sah, war das Jahr 2012 für den "Prozess des Wandels" im Plurinationalen Staat Bolivien ein Jahr der Transformation. Und ein Jahr des Übergangs, weil wir nach dem Sieg von Evo Morales bei den Dezember-Wahlen 2009 mit 64 Prozent der Stimmen zwei Jahre der Stabilisierung (2010 bis 2011) hinter uns haben. 2013 bis 2014 hingegen werden zwei Jahre sein, die uns überraschend schnell zu den Dezember-Wahlen 2014 führen werden.
Eine kurze Bilanz
2012 war ohne Zweifel das Jahr der Volksbefragung im Indigenen Territorium und Nationalpark Isiboro Sécure (TIPNIS) über den Bau einer Straße durch das Gebiet. Gegen eine groß angelegte Marketing-Strategie aus der Feder einiger Oppositionsbüros und NGOs hat die Regierung in diesem Jahr möglicherweise eine internationale Schlacht verloren. Doch den Krieg um die Legitimität in Bolivien konnte sie für sich entscheiden. Das Ergebnis der Volksbefragung im TIPNIS ist überzeugend und lässt keinen Raum für Zweifel: Von 58 befragten Gemeinden (84 Prozent) – elf Gemeinden verweigerten ihre Teilnahme an der Konsultation – stimmten 55 (79 Prozent) für den Bau der Straße. Dieses Ergebnis schmettert die Analyse einiger Postmodernisten und Rousseauianer zu Boden, welche die Geschichte und Akteure im TIPNIS völlig verkannt haben, indem sie die TIPNIS-Bewohner als "Gute Wilde" beschrieben, die im tiefen Wald frei jeglicher Bedürfnisse leben würden. Stattdessen zeigt die Volksbefragung, dass die Mehrheit der TIPNIS-Gemeinden mehr Staat fordert, vor allem um Zugang zu Gesundheit und Bildung zu erhalten. Dennoch ist der Konflikt nicht zu Ende. Die Opposition wird sich Widerstand gegen den Straßenbau auch in den nächsten zwei Jahren auf die Fahnen schreiben, und das in einem Land, das Kolonialismus und Raubbau gezeichnet ist, und wo es zwischen zwei seiner neun Departamentos nicht einmal eine Straßenverbindung gibt.
2012 war auch das Jahr der Wirtschaft. Bolivien ist weiter gewachsen und liegt mit einer Wachstumsrate von 5,2 Prozent vor Brasilien, Mexiko oder Uruguay. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt (PPP) ist 2012 auf 2.238 US-Dollar gestiegen und hat sich damit im Vergleich zu 2006 von 1.182 US-Dollar verdoppelt. Schauen wir uns die Exportwirtschaft an, so übersteigen allein die Ausfuhren des ersten Quartals 2012 (5.068 US-Dollar) die Gesamtexporte von ganz 2007 (4.822 US-Dollar). Die Internationalen Währungsreserven haben 14 Milliarden US-Dollar erreicht, fast die Hälfte der jährlichen nationalen Wirtschaftskraft, was Bolivien zum Land mit den größten Währungsreserven im Verhältnis zum Inlandsprodukt in der ganzen südamerikanischen Region macht.
Auch die öffentlichen Investitionen (über zwei Milliarden US-Dollar) von 2012 übertreffen die von 2006 (879 Millionen US-Dollar) bei weitem, wobei die staatlichen Auslandsschulden im Vergleich zu 2005 von 4,9 Milliarden auf 3,7 Milliarden US-Dollar abgebaut wurden. Drei von zehn Bolivianern haben bis Juni 2012 von konditionierten Direktzahlungen (Bonos) profitiert. Diese Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums hat die Armut in fünf Jahren um zwölf Prozentpunkte (2011: 48,5 Prozent) gesenkt. Im gleichen Zeitraum verringerte sich die extreme Armut (2011: 24,3 Prozent) um 13 Prozent. Dazu hat auch die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 1.000 Bolivianos beigetragen (2011: 815 Bolivianos), der beim Machtantritt der "Bewegung zum Sozialismus" (MAS) im Jahr 2005 nur 440 Bolivianos betrug.
Bei der Analyse des zurückliegenden Jahres muss auch die Außenpolitik erwähnt werden. Hervorzuheben sind die in Gang gesetzten Gespräche mit Chile um einen souveränen Meereszugang und in diesem Zusammenhang die Klage Boliviens vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Auch die Beitrittsunterzeichnung in Brasilia als Vollmitglied im Mercosur, die fünftgrößte Wirtschaftskraft der Welt, ist ein wichtiger Schritt. Zu Unterstreichen ist zudem die aktive Führungsrolle Boliviens innerhalb der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA), bei G77+China und auf den multilateralen Staatenkonferenzen wie der Konferenz der Vereinten Nationen über Nachhaltige Entwicklung (Rio+20) oder der UN-Klimakonferenz. Erstmals hat Bolivien eine souveräne Außenpolitik, dem heute aktuellen Paradigma der neoliberalen Diplomatie stellt Bolivien eine Diplomatie der Völker entgegen.
Die Bilanz von 2012 muss auch den jüngst aufgedeckten Korruptionsfall im Regierungsministerium zur Sprache bringen. Schon während des Polizei-Aufstandes im Juni hat das Ministerium richtig gehandelt. Einer Regierung angemessen, die eine demokratische und kulturelle Revolution anführt, wurde mit Entschiedenheit gehandelt. Alle Involvierten sind verhaftet und die Spur wird weiter verfolgt, falle wer falle. Vielleicht sind bisher nicht alle Verwicklungen in dem Fall ans Licht gekommen. Soll der "Prozess des Wandels" nicht scheitern, müssen alle Beteiligten am Korruptionsfall möglichst hart bestraft werden.
Herausforderungen für 2013–2014
Trotz der jüngsten Ereignisse in Venezuela, wo Präsident Hugo Chávez für weitere sechs Jahre im Amt bestätigt wurde und den wahrscheinlichen Sieg (aller Voraussicht nach im ersten Wahlgang) von Rafael Correa im Februar 2013 in Ecuador, werden diejenigen, die sich von der antiimperialistischen und antikolonialen Politik von Präsident Evo Morales bedroht fühlen, den Prozess in Bolivien verstärkt attackieren. Es besteht kaum Zweifel daran, dass eines der institutionell schwächsten Glieder der ALBA-Länder und Veränderungsprozesse des Kontinents mit viel Anstrengungen (und Geld) weiter angegriffen wird. Auch wird versucht werden eine Opposition als Alternative zur MAS-Regierung zu festigen.
Erster Schritt zur weiteren Konsolidierung des "Prozess des Wandels" ist ein Sieg der MAS-Kandidatin Jessica Jordan bei den Gouverneurs-Wahlen in Beni im Januar 2013. Für die Media-Luna-Opposition im Tiefland und Hoffnungen auf eine Wiederholung des venezolanischen Schemas einer vereinten Opposition (Tisch der Demokratischen Einheit, MUD) wäre ein Sieg in diesem Amazonas-Departamento ein vernichtender Schlag. In einer der konservativsten Gegenden Boliviens, wo die Macht der Hacienda-Besitzer weiterhin großes Aktions- und Mobilisierungspotential besitzt, wird ein Sieg sicher nicht leicht. Doch ist allein die Tatsache, dass hier um Platz Eins gekämpft wird schon ein Triumph an sich. Und Beleg dafür, dass sich die Dinge im Plurinationalen Staat Bolivien verändern.
Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Faktor ist die Mittelschicht, an die sich die Oppositionspartei "Bewegung ohne Angst" (MSM) mit ihrem moderaten Diskurs und Fokus auf Verwaltung und Regierungshandeln anzunähern versucht. Dabei liegt die Ausführung des Haushaltsplans der von der Mitte-Links-Partei regierten Kommune von La Paz im Oktober 2012 bei nur 26 Prozent. Und damit weit unter dem 50-Prozent-Durchschnitt der Ministerien, was uns zu dem Schluss kommen lässt, dass die MSM, die nicht einmal in der Lage ist, ein Rathaus zu verwalten, nur schwer die Fähigkeit hat, einen ganzen Staat zu führen. Noch stehen die Ergebnisse der Volkszählung 2012 aus. Doch innerhalb der Mittelschicht gibt es Hundertausende neuer Wähler, die 2009 noch zu jung zur Stimmabgabe waren. Diese neuen Wähler müssen durch einen Diskurs erreicht werden, der weitergeht als das Versprechen nach einem gesellschaftlichem Wandel, sondern begleitet wird von einem Programm, das diese neuen Wähler dazu bewegt sich in den Aufbau des Politischen im Land einzubringen.
Nicht vergessen werden darf schließlich die Basis, die den Prozess erst aufgebaut und gefestigt hat. Vielleicht besteht bei der eng verbündeten Basis dieses Risiko nicht. Doch müssen die Beziehungen gestärkt werden, der harte Kern bedarf der Erweiterung. Denn die Gruppen im Volk und die Subalternen sind die "ajayu" (Aymara: Seele) dieser Revolution. Stück für Stück würde die Revolution ohne sie auseinanderbröckeln. Mit ihnen aber können wir daran denken, die Patriotische Agenda 2025 in die Tat umzusetzen und aus der jetzigen Revolution von Politik und Entkolonisierung eine Revolution der nachkapitalistischen Wirtschaft zu machen.
Katu Arkonada arbeitet für das Außenministerium des Plurinationalen Staates Bolivien. Er ist Herausgeber des Buches "Transitionen zum Vivir Bien oder die Konstruktion eines neuen politischen Projektes im Plurinationalen Staat Bolivien"(Verlag Icaria Editorial/España). Dieser Text ist erschienen im Newsletter Dezember 2012 der Bolivianischen Botschaft in Berlin.