Stürmische Zeiten in Haiti

Ehemaliger US-Präsident Clinton implementiert kommerzielle Entwicklungsprojekte. Zur Situation in Haiti nach dem Wirbelsturm "Sandy"

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William J. Clinton, Spezialbeauftragter der Vereinigten Nationen, spricht im Januar 2012 mit Medizinern im General Hospital in Port-au-Prince, Haiti.
William J. Clinton, Spezialbeauftragter der Vereinigten Nationen, spricht im Januar 2012 mit Medizinern im General Hospital in Port-au-Prince, Haiti.

Ich scheue mich zu wiederholen, was schon so oft gesagt wurde: Naturkatastrophen werden zu sozialen Katastrophen besonders dort, wo sie auf eine amorphe, unorganisierte, nur im Kampf ums nackte tägliche Überleben gefangene Masse stoßen. Obwohl lediglich von den Ausläufern des Hurrikans "Sandy" im Südwesten der Insel betroffen hat Haiti in der Karibik die meisten Opfer zu beklagen. Über 40 Tote und 200.000 Geschädigte lautet die bisherige offizielle Bilanz. Darüber hinaus sind in Folge der starken Regenfälle Straßen zerstört, Hütten und Häuser weggeschwemmt worden, Ernten vernichtet, landwirtschaftliche Anbauflächen zu Schlammwüsten geworden.

Aus dem benachbarten Kuba, wo der Hurrikan seine volle Wucht entfaltete, hört man von neun Menschenleben, die den reißenden Fluten zum Opfer gefallen sind. Sonstige nennenswerte Schäden der Infrastruktur sind mir nicht bekannt. Jeder für die Jahreszeit typische Tropensturm richtet in dem am Boden liegenden Haiti schweren Schaden an. In den benachbarten Staaten sorgt er für vorübergehende Stromausfälle und kurzfristigen Stillstand des öffentlichen Lebens, aber man ist darauf eingerichtet.

Nur wenige Tage vor der unseligen Ankunft von "Sandy" wurde Haiti von zwei einflussreichen Persönlichkeiten besucht. Bill und Hillary Clinton kamen auf die Insel, um den Grundstein für eines der wichtigsten Projekte für den Wiederaufbau des Landes zu legen: PIC, Parque Industriel Caracol, eine bislang landwirtschaftlich genutzte Fläche von 243 Hektar im Norden des Landes, die in einen riesigen Industriepark für das koreanische Textilunternehmen Sae-A Trading und diverse andere Lohnveredelungsunternehmen umgewandelt werden soll.

Neben Geldern aus dem internationalen Wiederaufbaufonds, der nach dem Erdbeben 2010 angelegt wurde, schießen die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID), die US-amerikanische Regierung, der koreanische Textilriese und die global operierende Stiftung von William J. Clinton Hunderte von Millionen Dollar in das Projekt, das nach den Worten der amtierenden US-Außenministerin den Haitianern "endlich die Realisierung ihres amerikanischen Traums" ermöglichen soll. Zwischen 30.000 und 100.000 Arbeitsplätze sollen hier geschaffen werden, eine Retortensiedlung aus dem Boden gestampft werden, eine Verkehrsinfrastruktur entstehen, die Haiti den Anschluss an den Weltmarkt ermöglichen soll. Das Projekt, das ursprünglich unter dem Kürzel PIRN (Parque Industriel de la Region Nord) aufgelegt wurde, ist erst nach dem Erdbeben in "Caracol" umbenannt worden.

Ironie der Geschichte: Im mexikanischen Chiapas heißen Caracoles jene indigenen Dörfer, die in bewusst gewählter Autonomie ihr gesellschaftliches Leben selbst verwalten, eigene Gesetze aufgestellt haben und ihre Autoritäten bei Fehlverhalten jederzeit abwählen können.

Das haitianische "Caracol" hingegen zeichnet sich durch hochgradige Fremdbestimmtheit aus. Mit den dort Ackerbau treibenden Kleinbauern wird nicht lange gefackelt, sie werden entschädigungslos von ihren Parzellen vertrieben, und mit den zu erwartenden Maquiladora-Unternehmen wird eine Industriekultur errichtet, welche die dort Arbeitenden zu bloßen Anhängseln von ausländischen "Just-in-time"-Auftragsfirmen machen, die jederzeit wieder auf die Straße gesetzt werden können, wenn die Auftragslage sich ändert.

Rührende Bilder gingen an diesem 22. Oktober durch die haitianischen Medien. Ein überglücklich strahlender Präsident Michel Martelly Arm in Arm mit dem schwitzenden Ex-Präsidenten René Préval, der noch während seiner Amtszeit die Verhandlungen mit dem koreanischen Partner – einem Textilgiganten, der vor allem die Warenhäuser GAP und Walmart mit Kleidung beliefert –, dem Direktor der BID, Alejandro Moreno, dem Abenteurer Richard Branson (Virgin) und mit dem Ehepaar Clinton mit leicht verklärtem Gesichtsausdruck. Immerhin hatten sie ihren Honeymoon vor zig Jahren in Haiti verbracht.

Heute aber kann die ca. vierstündige Anwesenheit von Frau Clinton nur als wohl kalkulierter Wahlkampfauftritt für ihr heimisches Publikum gewertet werden. Das schwarze Wählerpotential in den USA soll wieder einmal erfahren, wie erfolgreich die demokratische Ex-Rivalin von Obama die Interessen der geschundenen schwarzen Brüder und Schwestern in Haiti vertritt.

All dies geschieht vor dem Hintergrund einer ständig wachsenden Protestbewegung im ganzen Land. Nicht nur im Norden, in der zweitgrößten Stadt Cap Haitien, fanden seit Mitte September große Demonstrationen wegen der Untätigkeit der Regierung angesichts einer existenzbedrohenden Teuerungswelle bei Grundnahrungsmitteln statt. Auch in anderen Städten, vor allem aber in der Hauptstadt Port-au-Prince versammelten sich während der Abwesenheit des Präsidenten am 30. September Tausende von Anhängern des ehemaligen Präsidenten Jean Bertrand Aristide, um mit hochgehaltenen roten Karten die Absetzung Martellys zu fordern. Martelly hielt sich zu dem Zeitpunkt mit einer großen Entourage in New York bei der UN-Vollversammlung auf, um neue Geschäftskontakte zu knüpfen. Es war der 21. Jahrestag des Militärputsches gegen den damaligen Präsidenten Aristide, der im September 1991, also im zweiten Jahr nach dem Fall der Mauer, in New York eine flammende Rede gegen die Arroganz der imperialistischen Mächte und die internationalen Ausbeutungsverhältnisse gehalten hatte, und der dafür bestraft werden musste.

Nach sieben Jahren im südafrikanischen Exil sitzt er heute mit seiner Familie in seiner Villa im Stadtteil Tabarre von Port-au-Prince und sucht nach Möglichkeiten, die katastrophale Bildungssituation in seinem Land zu verbessern. Zu den vielen politischen Skandalen der letzten Monate hat er sich bisher nicht geäußert. Sollte der Druck der Straße gegenüber dem amtierenden Präsidenten und seinen engsten Mitarbeitern jedoch weiter wachsen, wird er wohl nicht anders können, als sein Schweigen zu brechen und sich in die politischen Auseinandersetzungen hinein zu begeben. Er ist es seinen immer noch zahlreichen Anhängern gegenüber schuldig.