La Isla: Archiv gegen das Vergessen - Ort des Schreckens

Das Polizeiarchiv in Guatemala-Stadt hilft Licht in die dunkle Bürgerkriegsvergangenheit zu bringen. Es ist das Gedächtnis 36 Jahre andauernder Staatsgewalt

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Aufgetürmte Unterlagen im Archiv
Unmengen aufgestapelter Dokumente, einzelner Blätter und Papierfetzen füllen die Räume des Archiv. Hier im Bild ein Verweis mit der Beschriftung ''Manuskripte 1988. Entführungen.''

Mexiko-Stadt. Es war einer der aufwühlendsten Funde der guatemaltekischen Nachkriegsgeschichte. Im Juli 2005 entdeckten Angestellte der Verwaltung für Menschenrechte durch Zufall ein geheim gehaltenes Archiv auf dem Gelände der heutigen Polizeischule. Gleichzeitig wurde damit die Vermutung bestätigt, dass dort ein verstecktes Foltergefängnis untergebracht war. Der Bürgerkrieg bestimmte das Land 36 Jahre lang, bis es schließlich 1996 zu einem Friedensabkommen zwischen der Guerilla URNG und Regierung kam.

Acht Jahre vor dem Fund hatte die damalige Regierung noch jegliche Existenz eines solchen Archivs verneint. Mit seinen knapp 80 Millionen Dokumenten, deren Datierungen bis ins Jahr 1882 zurückreichen, stellt es das historische Gedächtnis der inzwischen aufgelösten Nationalpolizei (PN) dar. Heute besitzen die Dokumente unschätzbaren Wert. Sie sind nicht wegzudenkende Bestandteile im Prozess der mühsamen Vergangenheitsbewältigung und der nicht rastenden Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit für das nach wie vor von Gewalt gebeutelte Guatemala.

Matte Farben in sich wechselnden Grau- und Schwarz-Tönen zeichnen die Konturen des Szenarios ab. Eine Lichtquelle erhellt zumeist nur einen Teil des Bildes, während die melancholische Musik eines Cellos ab und an im Hintergrund zu vernehmen ist. Jene Versatzstücke repräsentieren die durchgehenden stilistischen Elemente des von Uli Stelzner produzierten und im Jahr 2010 erschienenen Dokumentarfilms "La isla – Geschichte einer Tragödie". Auf eindrucksvolle emotionale Art und Weise vermitteln die Bilder die niederschmetternde Bedeutung und Symbolik des Staatsterrors, welche dem Ort noch immer anhaften.

Und doch drängen Sonnenstrahlen auch hier bis zur Avenida La Pedrera in der Zona 6 der guatemaltekischen Hauptstadt durch. Eine lange Schlange von Männern jungen und mittleren Alters, mit unter den Armen geklemmten Bewerbungsschreiben, hat sich vor dem Eingang der Polizeischule aufgereiht und wartet auf Einlass. Deren Mauern und Wachtürme lassen an die Festung des Schwarzen Ritters in Freizeitparks erinnern. Sie scheinen unwirklich und übertrieben. Einige hundert Meter weiter – stets dem Wall entlang folgend – befindet sich das Historische Archiv der Nationalpolizei (AHPN). Polizeifahrzeuge unterschiedlichster Größe und Ausstattung sowie verrostete, halb geschrottete und mit Müll gefüllte Autos säumen die Straßenränder auf dem Weg dorthin. Der Eingangsbereich des Hauptgebäudes ist in krankenhausgrünem Stil gestrichen, weiße Türen und kalte nackte Fließen vervollständigen das Bild. Als die Bauarbeiten Ende der 70er Jahre aufgenommen wurden, sollte daraus tatsächlich einmal ein Krankenhaus für die Nationalpolizei werden. Doch 1982 kam es zu einem Militärputsch und der neue machthabende General ließ die Arbeiten einstellen. Er hatte sich andere Pläne für die neuen Räumlichkeiten ausgemalt. Heute sitzt der damalige Putschist Efraín Ríos Montt auf der Bank im Gerichtssaal und sieht sich mit einer Anklage wegen Völkermordes konfrontiert.

Bis zum Umzug auf das Terrain der Polizeischule im Spätsommer 1997 wurden die Unmengen an Papieren, Fotos, Ton- und Videosequenzen sowie Büchern im Keller des Palastes der Nationalpolizei aufbewahrt, wohl weil es kurz zuvor zur besagten Auflösung derselben kam. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Umzug erfolgte, um dem damals erstmals öffentlich artikulierten Interesse an solch einem Archiv Beweise vorzuenthalten. Als schließlich die Existenz bekannt wurde, befanden sich die Schriftstücke und Aufzeichnungen bereits in einer ärmlichen Verfassung. Die politisch Verantwortlichen taten wenig bis nichts für deren Erhalt. Der natürliche Zerfallsprozess, eintretendes Wasser sowie dort hausende Ratten nagten langsam aber stetig an dem Material. Mit der Gründung des AHNP im gleichen Jahr arbeitet nun ein Team von 145 Personen in dessen Räumen, um die 80 Millionen Dokumente systematisch zu restaurieren, zu archivieren und zu digitalisieren. Sie sind als Angestellte des Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) beschäftigt. Logistische und finanzielle Hilfe kommt hierbei größtenteils aus dem Ausland. Denn obwohl das AHPN als Struktur formal dem Ministerium für Kultur und Sport untersteht, steuert der guatemaltekische Staat keinen Cent für das Projekt bei. Es sind mehrheitlich europäische Länder und Regionen wie Schweden, Deutschland oder die baskische und katalanische Regierungen, aber ebenso halbstaatliche Organisationen wie die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder die US-amerikanische Einrichtung für Internationale Entwicklung (USAID), die zum Erhalt und Ausbau des Projektes beitragen.

Bisher sind mehr als 14 Millionen Dokumente aus den Jahren 1975 bis 1985 digitalisiert worden, zumeist aus der Epoche mit den meisten Menschenrechtsverletzungen und dem begangenen Genozid an der indigenen Bevölkerung. Sie stehen ab sofort weiteren inhaltlichen Recherchen zur Verfügung. Aufgrund Sicherheitsbedenken gegenüber aktuellen politischen Entwicklungen im Lande werden die bereits bearbeiteten Dokumente außerdem alle vier Wochen als Kopie in die schweizerischen Bundesarchive überführt.

Ein wichtiger Pfeiler der Arbeit im Archiv ist das Nachzeichnen der sich oft veränderten Struktur der Nationalpolizei. Dies hilft, um Befehlsketten und Hierarchien nachzuvollziehen und um schließlich verantwortliche Amtsträger ausfindig zu machen. So konnte dadurch am 21. August diesen Jahres die Verurteilung des Ex-Polizeichefs Pedro García Arredondo erreicht werden. Der 68-jährige soll 1981 die Entführung und mutmaßliche Ermordung des Studenten Edgar Enrique Sáenz Calito angeordnet haben. Das Gericht verurteilte ihn zu 70 Jahren Gefängnis. Das akribische Auflisten der eigenen Tätigkeiten – ein allgegenwärtiges Charakteristikum bürokratischer Institutionen – ermöglichte schließlich die Rekonstruktion des Geschehens und die Zuordnung der befehlsgebenden Personen dazu.

Im heutigen Polizeijargon wird das AHPN auch als "die Müllkippe" bezeichnet, gibt Alberto Fuentes Rosales, Mitglied im Koordinierungskreis des AHPN, zu verstehen. Die Verachtung für die Einrichtung bezieht sich sicherlich nicht nur auf die schwarzen großen Plastiksäcken, die eine Mischung aus Abfall und Dokumenten beziehungsweise Aufzeichnungen enthalten und nach wie vor in den Räumen vorzufinden sind. Denn die fortlaufende Arbeit birgt für viele Männer im Dienste des Staates negative Konsequenzen aufgrund der eigenen Verstrickung und aktiven Beteiligung bei den unzähligen Entführungen, Morden und Massakern.

"In Guatemala hatten wir es stets mit einer politischen Polizei zu tun", erklärt Fuentes Rosales. Mit ruhiger aber fester Stimme beschreibt der 60-jährige die Ausmaße des Bürgerkriegs. Der Staatsterror richtete sich gegen alles und jeden, es existierte eine Pauschalisierung des Verdachts auf Zusammenarbeit mit oppositionellen Gruppen. "Ergreifung – Entführung – Folter – extralegale Hinrichtung", so kann laut ihm die "Sequenz des Terrors" verdeutlicht werden. Die von der UNO eingesetzte guatemaltekische Wahrheitskommission beziffert in ihrem Abschlussbericht die Anzahl der Toten auf über 200.000, wovon 83 Prozent der indigenen Bevölkerung zugeordnet wurden. Knapp anderthalb Millionen Menschen wurden zu intern Vertriebenen oder mussten das Land verlassen, 626 Massaker wurden registriert. Im Jahr 1980 lebten knapp sechs Millionen Menschen in Guatemala. Die Militärs und Politiker an der Macht, von einem tief sitzenden Antikommunismus und Rassismus beseelt und angetrieben, agierten wahllos und dadurch letztlich zielbewusst. Die Rigorosität wurde zum Raster, eine systematische Willkür als todbringendes Regierungsinstrument. Keine andere lateinamerikanische Diktatur hat auch nur annähernd solche Gewaltexzesse erreicht. Würde man Leichenberge vergleichen wollen, so würde der guatemaltekische den der summierten lateinamerikanischen Ländern übertrumpfen. Natürlich darf dadurch keine Hierarchisierung des Schreckens erfolgen, das Leid ist stets als absolut zu betrachten; lediglich die Ausmaße werden hierbei etwas verständlicher gemacht.

Das Gebäude beherbergt mehr als nur die 80 Millionen Dokumente. Es ist an sich bereits ein fassbares Stück guatemaltekischer Repressionsgeschichte. Als Ríos Montt putschte, wurden die Bauarbeiten zwar abgebrochen, doch der Ort geriet nicht in Vergessenheit, sondern funktionierte seitdem als geheimes Foltergefängnis. Als Beweise für diesen Rückschluss dienen die nachträglich hochgezogenen Trennwände in dem Gebäude, um die entführten Gefangenen in kleine dunkle Kammern stecken zu können. In dem verwinkelten Gebäudekomplex haben die Mitarbeiter des Archivs sieben solcher Mini-Gefängnisse entdeckt. La Isla, die Insel, wird jener Ort genannt. Raum der Folter, Raum der extralegalen Hinrichtungen, Raum des Verschwindens. Von dort fanden tausende leblose und von Misshandlungen gekennzeichnete Körper ihren letzten Weg zum Friedhof La Verbena in der Zona 7 der Hauptstadt. Als Namenslose reihten sie sich in die Totenlisten der Leichenbestatter ein, lediglich die Zeichen XX stehen für ein Leben, bevor sie haufenweise in die Gruben gelegt und begraben werden.

Dass die Arbeit im Archiv von immenser Bedeutung ist zeigen die vielen gestellten Anfragen. Seit Januar 2009 kann öffentlich auf ein Informationssystem zugegriffen und eigene Nachforschungen betrieben werden. Bis Mitte Juli diesen Jahres wurden insgesamt 121,749 Dokumente in digitalisierter Form an verschiedenste Nutzer herausgegeben. Die Staatsanwaltschaft (34 Prozent) sowie Opfer und Angehörige von Opfern von Menschenrechtsverletzungen (27 Prozent) markieren hierbei die beiden größten Nutzergruppen. Die zivile Nationalpolizei (PNC) selbst, Nachfolgerin der aufgelösten Nationalpolizei (PN), ist lediglich mit fünf Prozent an den Anfragen mit vertreten.

Fuentes Rosales gibt eine Anekdote wieder. Sie handelt von einer Frau aus dem guatemaltekischen Hochland, die ins Archiv gekommen ist, um etwaige Spuren ihres verschwundenen Sohnes zu finden. Die Mitarbeiter helfen ihr dabei, können jedoch nach gründlicher Suche in den bereits verarbeiteten Dokumenten nur einen kleinen Zettel aufspüren. Dieser trägt den Verweis, dass der Sohn zuerst gefoltert und schließlich hingerichtet wurde. Die Mutter beginnt zu weinen und bedankt sich mehrmals. Sie weint auch vor Freude. Dieser Vermerk auf dem kleinen Zettel ist der offizielle Beweis für sie, dass ihr Kind gelebt hat. Der guatemaltekische Staat hatte gegenüber ihr jahrelang behauptet, dass sie nie einen Sohn hatte.

"Wir nähern uns der Wahrheit an", schließt Fuentes Rosales. "Wir tragen zur Wiederherstellung der historischen Erinnerung bei. Dies ist ein fundamentales Werkzeug für die Suche nach Gerechtigkeit."