Venezuela / Politik

Echtes Programm der Opposition in Venezuela aufgetaucht?

Öffentlich gemachtes Dokument widerspricht Wahlkampfrhetorik des Oppositionskandidaten. Privatisierungen und Rückschritte geplant

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David de Lima mit dem mutmaßlichen Schattenprogramm der Opposition
David de Lima mit dem mutmaßlichen Schattenprogramm der Opposition

Fünf Wochen vor der Präsidentschaftswahl in Venezuela am 7. Oktober ist das Regierungsprogramm des Oppositionsbündnisses Tisch der demokratischen Einheit (MUD) und dessen Präsidentschaftskandidat Henrique Capriles in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt.

Auslöser für die verstärkten öffentlichen Debatten sind Vorwürfe des unabhängigen Oppositionspolitikers und früheren Gouverneurs des Bundesstaates Anzoátegui, David de Lima, denen zufolge Capriles im Wahlkampf das eigentliche Programm verheimliche, das er für den Fall seines Wahlsieges durchsetzen werde.

De Lima präsentierte am 21. August auf einer Pressekonferenz eine Vereinbarung mit den Unterschriften der MUD-Politiker Leopoldo López, Maria Corina Machado, Ramón Guillermo Aveledo, Pablo Pérez und eben auch von Henrique Capriles. Das Dokument sei innerhalb des Oppositionsbündnisses vor der Wahl des gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten erstellt und unterzeichnet worden. Es ist betitelt mit "Erste Ideen ökonomischer Aktionen bei Regierungsübernahme". Die Online-Version der Tageszeitung Ciudad CCS veröffentlicht das Papier seit einigen Tagen in einer Sonderbeilage.

Der Oppositionskandidat Capriles profiliert sich im laufenden Wahlkampf vorwiegend als gemäßigter und volksnaher Rechtspolitiker, der die sozialen Errungenschaften der letzten 14 Jahre Chávez-Regierung durchaus anerkennt und beteuert, dass er die wichtigsten Sozialprogramme nicht wieder abschaffen würde. Er werde als Präsident diese Programme erst effektiv zum Laufen bringen, so Cpariles, denn die Linke versage bei der Umsetzung. Ein international beachteter Höhepunkt in der Selbstdarstellung von Capriles im laufenden Wahlkampf war dessen Vergleich mit dem ehemaligen Präsidenten Brasiliens, Luiz Ignacio "Lula" da Silva. Lulas Armutsbekämpfungsprogramme während seiner Regierungszeit gelten als erfolgreich und als Voraussetzung für das aufstrebende "brasilianische Modell". Capriles' Selbstvergleich mit dem Metallarbeiter, Gewerkschafter und Mitbegründer der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) erregten wegen des vordergründigen Wahlkampfkalküls gehörigen Anstoß. Der Sekretär der PT Brasiliens für Internationale Beziehungen, Valter Pomar, antwortete, dass "die Rechte große Schwierigkeiten hat, sich mit ihren Losungen zu präsentieren und daher versucht, sich mit einem anderen Diskurs darzustellen". Andernfalls hätte sie nicht die geringsten Aussichten im heutigen Venezuela.

In großer Einigkeit wird von linken Politikern die jetzt von De Lima öffentlich gemachte Vereinbarung als eine radikale neoliberale Agenda beurteilt. Die Einbeziehung einer in Venezuela historisch erstmaligen Größenordnung von älteren Erwachsenen in ein System der Sozialversicherung sowie die Ausweitung von Rentenzahlungen wird in der MUD-Vereinbarung als zu große Steuerlast beurteilt. Modelle der "freiwilligen Selbstbeteiligung" in der Rentenfinanzierung sind vorgesehen und erinnern an europäische Modelle seit der neoliberalen Hegemonie.

In weiteren Bereichen der Sozialpolitik werden die Überführung der staatlichen Gesundheitsversorgung, der Wasserversorgung und anderer Infrastruktur in private Regie nahegelegt. Tarife für Energie und öffentlichen Nahverkehr sollten angehoben, die neuen Organe von kommunaler Macht und Selbstverwaltung finanziell ausgetrocknet werden. Die verschiedenen staatlichen Lebensmittelmärkte, die durch festgesetzte niedrige Preise die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherstellen, sollen abgeschafft werden. Eine Rückkehr des Einflusses der Oligarchie und der transnationalen Konzerne in der venezolanischen Erdölproduktion und -verarbeitung und damit über die Verfügung über die erwirtschafteten Gewinne würde zum Hebel werden, weil der Einsatz eben dieser Gewinne in der staatlichen Sozialpolitik die hauptsächliche Basis für die sozialen und strukturellen Fortschritte in den bisherigen Regierungsjahren von Präsident Chávez waren.

Die Pläne des rechten Präsidentschaftskandidaten Capriles für den Fall eines Wahlsieges nennt De Lima den "Weg in einen Bürgerkrieg". Tatsächlich spiegelt die Differenz zwischen der öffentlichen Wahlkampfagenda des rechten Kandidaten und den zu erwartenden sozialpolitischen und ökonomischen Maßnahmen für den Fall eines Wahlsieges nur wider, wie tief verankert die Umwälzungen der bisherigen 14 Jahre Chávez-Regierung in der Bevölkerung bereits sind. Daran ändert auch der verbreitete Zorn über weiter bestehende Korruption und Ineffizienz nichts. Venezuela ist nach UN-Statistiken in kurzer Zeit in Lateinamerika zu dem Land mit den geringsten sozialen Unterschieden geworden. Es gibt keine Mehrheit für eine Politik, die zurück führt zur traditionellen scharfen Teilung in eine unermesslich reiche, kleine Oberschicht und die Masse der absolut Armen ohne Zugang zu den Ressourcen für ein würdiges Leben und Chancen auf gesellschaftliche und politische Teilhabe.

Präsident Chávez hat in die aktuelle Debatte um eine "verdeckte Agenda" des Kandidaten Capriles und seines Parteien-Bündnisses selbst eingegriffen und dazu erklärt, dass im heutigen Venezuela ein neoliberales soziales und ökonomisches Programm nur mit einer tyrannischen Regierung durchsetzbar wäre. Chávez fordert Capriles auf, endlich seine programmatischen Absichten offenzulegen.

Nachdem De Lima am Montag schließlich ein Exemplar der MUD-Vereinbarung mit den erkennbaren Unterschriften einschließlich der von Capriles in eine Fernsehkamera hielt, reagierte dieser am Dienstag auf einer seiner Wahlkampfkundgebungen und sprach kurzerhand von "Fälschung" und einem "Verzweiflungsakt" seiner Gegner. Das Dementi fiel allerdings so unbestimmt aus, dass es wiederum neue Nachfragen auslöste. Zudem zeigen erste Reaktionen aus dem eigenen Lager, dass die Echtheit des geheimen Abkommens für wahrscheinlich gehalten wird. William Ojeda, Führungsmitglied der Partei Un Nuevo Tiempo (UNT), die selbst Teil des oppositionellen Wahlbündnisses MUD ist, berief eigens eine Pressekonferenz ein, um geheime Abkommen und im besonderen eine "Politik der ökonomischen Orthodoxie nach Art des internationalen Währungsfonds" zurückzuweisen. Man dürfe nicht hinter "die große Leistung im Sozialbereich" der Regierung Chávez wieder zurückgehen. Ojeda wurde wenige Stunden nach der Pressekonferenz aus seiner Partei ausgeschlossen. Deren Sprecher Alfonso Marquina erklärte die volle Unterstützung der UNT für das Regierungsprogramm der MUD und für den Kandidaten Capriles.

Das Spannende in dieser Angelegenheit scheint nun nicht mehr zu sein, welchen Ausgang die genaue Einordnung des Dokumentes haben wird, dessen Präsentation die Debatte ausgelöst hat. Gewissermaßen wird Capriles hier auch von seiner Vergangenheit eingeholt. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Gouverneur des Bundesstaates Miranda im Jahr 2008 hatte er einen regelrechten Großangriff auf verschiedene Sozialprogramme der Bundesregierung versucht. Eine entschlossene Mobilisierung der Bevölkerung schlug damals den Versuch zurück.

Bemerkenswert im aktuellen Fall ist, dass die Zeiten eines personalisierten und von PR-Agenturen strukturierten Wahlkampfes vorbei sein könnten. Gerade chavistische Medien wie der Correo del Orinico, der sich in der Unterzeile "Die Artillerie des Denkens" nennt, gehen mit gutem Beispiel voran und geben Aktivitäten, Reden und Positionen des Präsidentschaftskandidaten der Rechten nachrichtlich und genau wieder. Auch wenn dieser Verhältnisse aufgreift, die die Regierung Chávez schlecht aussehen lassen. Die öffentliche Diskussion um soziale und politische Programme ist auf eine höhere Ebene getreten und verschiedenste weitere gesellschaftliche Akteure, wie Gewerkschaften melden sich zu Wort. Diese Politisierung wird einer Rechten, die ihr neoliberales Glaubensbekenntnis bis nach den Wahlen verbergen will, und bis dahin als die "besseren Chavisten" auftritt, allerdings Schwierigkeiten bereiten.