Venezuela / Soziales

Caracas, das urbane Monster

Francisco Farruco Sesto über die sozialistische Umgestaltung von Caracas und die Gran Misión Vivienda

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Francisco Farruco Sesto, Minister für sozialistische Umgestaltung von Caracas
Francisco Farruco Sesto, Minister für sozialistische Umgestaltung von Caracas

Francisco Farruco Sesto, Minister für sozialistische Umgestaltung von Caracas, ist eine der Schlüsselfiguren im Prozess der Umgestaltung der Hauptstadt. Farruco ist 1943 in Vigo/Galizien in Spanien geboren und wanderte mit zwölf Jahren nach Caracas aus. "Ich fühle mich als Venezolaner, der aber seine galizischen Wurzeln bewahrt hat", erklärte er einmal gegenüber Ignacio Ramonet. Im Jahr 1972 begann er sich in linken politischen Bewegungen zu organisieren. Er nahm an der Gründung der Parteien La Causa Radical und Patria Para Todos (PPT) teil und war zwischen 1993 und 1995 unter dem Bürgermeister Aristóbulo Istúriz Direktor für städtebauliche Verwaltung. Farruco war Teil des ersten chavistischen Kreises. Der gelernte Architekt und Universitätsprofessor war schon  Kulturminister und ist eines der bevorzugten Ziele für die Angriffe der Opposition.

Im Interview, welches er der Zeitung La Jornada in einem seiner Büros in Caracas gewährte, erklärt Farruco die zentralen Bedingungen für das Wohnungsproblem in Caracas:

"Im 20. Jahrhundert sind unsere Städte nicht auf die beste Art und Weise gewachsen. Ihr Wachstum war sehr intensiv und unkontrolliert. In nur 100 Jahren wuchs die venezolanische Bevölkerung von 2,5 Millionen auf fast 30 Millionen. Die Menschen kamen nach Caracas und in das nördliche Küstengebiet, um der Armut auf dem Land zu entkommen und um von den Öleinkünften zu profitieren. Daher sammelten sich hier viele Menschen an und die Ausgrenzung der unteren sozialen Klassen setzte sich hier auf grauenhafte Weise fort."

"Über vier Jahrhunderte belegte Caracas ein und denselben Siedlungsflecken. Ein Kilometer von Nord nach Süd und einer von Ost nach West. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Caracas 85.000 Einwohner. Heute hat das Stadtgebiet fünf Millionen Bewohner."

"Die Entwicklung der Stadt folgte einem sehr abrupten und wenig adäquaten Modell. Das Modell der Vorstädte, wie etwa in den US-amerikanischen Suburbs, die auf Wohnanlagen mit den hier Quintas genannten Häusern mit Garten basieren, verbot sich eigentlich. Denn dieses Modell schafft keine urbanen Strukturen. Es sind einzelne Häuser mit einigen Straßen, die sehr viel städtebauliche Fläche verbrauchen, aber keine Infrastruktur schaffen."

"Ein Stadtgebiet, welches sich in ein Tal zwängt und über 20 km in der Länge und 4 km in der Breite misst, eine sehr unebene Topographie hat und von Flüssen durchzogen ist, lässt sich nur schwierig weiterentwickeln. Zusätzlich aber wurde weiter ein auf den Suburbs basierendes Entwicklungsmodell verfolgt, welches die Probleme weiter zuspitzt. Caracas ist eine chaotische Stadt. Letztendlich baute man eine Autobahn, welche die Stadt in zwei Hälften teilte, sonst jedoch nichts einbrachte. Es gab einfach keine Planung. Die Stadt wuchs, wie es denen passte, welche die wirtschaftlichen Interessen lenkten."

"Jede Stadt der Welt reagiert auf die Bildung von sozialen Schichten. Wenn wir in einen Helikopter steigen und eine Stadt überfliegen, können wir leicht unterscheiden, wo die Superreichen, die Reichen, die Mittelschicht, die Arbeiter, die Armen und die sehr Armen leben. Das ist in der Mehrheit der Städte auf der Welt so und zeigt sich in Caracas auf besonders dramatische und widersprüchliche Weise. Es gibt besonders hervorstechende Siedlungen mit eigenen Golfplätzen, wo die Multimillionäre leben. Je ärmer die Menschen sind, in desto risikoreicheren Gegenden wohnen sie. Die Armen leben in Abbruchzonen, wo sich bei jedem starken Regen der Boden löst und die von Zeit zu Zeit überschwemmt werden. Das Wasser reißt dann Häuser und Leben mit sich und oft sterben dabei Kinder."

Die neue Stadt

In Venezuela, so versichert Farruco, besteht ein großes Wohnungsdefizit. "Während eines ganzen Jahrhunderts wurden auf organisierte Weise drei Millionen Wohnungen gebaut. 1,5 Millionen wurden vom Privatsektor bereitgestellt, der vom Immobiliengeschäft lebt, und seit 1920 1,5 Millionen Wohnungen vom Staat gebaut. Der Rest der landesweit 6,8 Millionen Wohnungen wurde von der Bevölkerung ohne jegliche Aufsicht gebaut. Da sie von gutem Bauland ausgeschlossen blieben, richteten sie sich da ein, wo es ihnen möglich war. Auf Privatinitiative baute man auch schöne Wohnstätten, zu denen aber die Mehrheit der Venezolaner keinen Zugang hat."

Der Umfang des Problems zeigte sich mit der Wohnungsregistrierung im Rahmen der Gran Misión Vivienda: "Wir wurden mit einer Masse von Wohnungsanträgen überschwemmt, etwa 3,7 Millionen", präzisierte Farruco. Das heißt, die Zahl der fehlenden Wohnungen übersteigt die Zahl, die der Staat und der Privatsektor zusammen in 100 Jahren gebaut haben. Allein im Großraum Caracas, wurden 670.000 Wohnungen neu beantragt."

"Der Neubau von tausenden Wohnungen gibt uns die Möglichkeit, den Service zu erneuern und das Leben in der Stadt zu verbessern", führt Farruco aus. "Beim Neubau von Wohnraum", bemerkt er, "entstehen mehr öffentliche Räume. Es wird besser organisiert sein. Die Stadt zu erneuern ist eine wunderbare Herausforderung."

Bisher ist die bolivarianische Transformation besonders auf anderen Gebieten vorangeschritten, hob Farruco hervor: "Die Unterstützung der armen Familien hat sich wesentlich verbessert und die Armut konnte umfassend reduziert werden. Der Schlag gegen die Armut war nachhaltig, wie in den offiziellen Statistiken zu sehen ist. In den letzten zwölf Jahren ist es gelungen, die kritische Armut von 27  Prozent auf sieben Prozent und die relative Armut, die vorher bei fast 70 Prozent lag, auf heute 23 Prozent zu senken. Ebenso lässt sich der Fortschritt in der Entwicklung des Bewusstseins erkennen, das sich sowohl in Bezug auf materielle, als auch auf geistige Dinge gewandelt hat."

Farruco vergleicht die heutige Armut mit der während seiner ersten Amtsausübung zwischen 1992 und 1995. "Den Unterschied", erklärt er, "kann man sehr gut bei den Kindern erkennen. Damals waren die Kinder dünn und unterernährt, ihre Haut war matt. Die Kinder und Mütter von heute aber haben nichts mehr zu tun mit diesem Menschenbild. Die Kinder sind geimpft, gut ernährt und tollen glücklich herum. Es ist inzwischen ein anderes Niveau menschlicher Entwicklung." Auch die Mütter sehen anders aus, sie haben genug Kleidung, eine Ausbildung und Arbeit. Menschen, die ihre Häuser verloren haben, erhalten nun Notunterkünfte.

Trotzdem hat sich der Lebensraum in vielen Fällen nicht verändert, aber es ist schließlich auch der am schwierigsten umzugestaltende Bereich. "Es ist sehr bewegend, wenn man sieht, wie die Leute leben müssen, dennoch sind diese Menschen heute in der Bolivarischen Universität (UBV) zum Studium eingeschrieben. Sicher, der Lebensraum konnte noch nicht verbessert werden und es gibt immer noch dramatische Situationen im Wohnungsbereich. Aber wir sind dabei dies zu verändern", versichert er.

Demokratisierung der Großstadt

Die neuen Wohnungsbauprojekte ermöglichen den städtischen Armen auch Zugang zu Gebieten, in denen traditionell die bessergestellte Mittelschicht wohnt. Schafft diese Neuverteilung nicht soziale Konflikte? Er antwortet mit einer Gegenfrage: "Wie sehen Städte ohne soziale Klassen aus?" – und antwortet: "Wir wissen es nicht, weil sie noch nicht erfunden wurde. Nicht einmal in Ländern, die eine Revolution erlebt haben. Diese Städte müssen erst noch erschaffen werden."

"Aber eine Sache ist klar: Jeder Traum einer Umgestaltung von Caracas funktioniert nur über die Integration. Es handelt sich um die Konstruktion einer Stadt, die Schranken durchbricht. Die Gegensätze einer Gesellschaft, die eine sehr differenzierte Entwicklung erlebt hat, erkennt man in ihren Städten. Deshalb kommen viele Menschen, die vorher an der Peripherie lebten, jetzt in die Stadt, um an zentralen Orten zu wohnen. Die Ärmsten kommen und besetzen wichtige Räume der Stadt. Und natürlich ergibt sich ein sehr starker Gegensatz zwischen den Menschen die ankommen und denen, die bereits dort leben. Es gibt Klassenkampf an diesen Orten. Natürlich wollen viele Leute aus der Mittelschicht die Armen in der Nachbarschaft nicht akzeptieren. Sie halten das Bildungsniveau der Armen für unterentwickelt und bewerten ihr Verhalten als minderwertig. Dies wiederum ist natürlich sehr diskussionswürdig."

"Das ist die Wirklichkeit. Wir gestalten die Stadt in der Tat um. Wir sind dabei sie zu integrieren. Schranken werden niedergerissen. Es ist wie ein Ölgemälde, das feine Risse bekommen hat. Die Stadt scheint ein einheitliches Bild abzugeben, ist aber in Wirklichkeit fragmentiert. Wir sind dabei dies zu reparieren, die Stadt zu integrieren."

"Die Gran Misión Vivienda ist eine große Chance, um die Stadt auf den heutigen Stand zu bringen und ihr Angebot an Dienstleistungen zu erneuern. Neue Infrastrukturen werden bereitgestellt, kulturelle Institutionen werden dezentralisiert, um größere Lebensqualität und eine wesentlich demokratischere und effizientere Stadt zu erreichen."

"Der Wohnraum ist ein fundametales Gut, um die Familie zu stützen", versichert er. Das Recht darauf sollte weltweit verfassungsmäßig verankert sein. Keine Gesellschaft sollte zugeben müssen, dass es Menschen ohne Wohnraum und Nahrungsmittel gibt. "Ohne Zweifel ist Wohnraum jedoch in dieser Welt eine Ware, unterworfen dem Gesetz von Angebot und Nachfrage."

Wirtschaftliche Neukonzeptionierung

"Die Neubau-Projekte werden auch die Wirtschaft betreffen, denn sie erfordern Arbeitsplätze. Wir sind zu einer Entwicklung der Industrie gezwungen, auf die wir nicht vorbereitet waren, denn weder produzieren wir bisher die notwendigenen Materialien, noch sind wir in Besitz der dafür benötigten Maschinen. Das verlangt von uns eine wirtschaftliche und industrielle Neukonzeptionierung."

"Es handelt sich aber nicht nur darum Häuser, Schulen, Museen, Krankenhäuser oder Sportkomplexe zu bauen. Vielmehr habe ich einen Entwicklungsplan angestoßen, mit dessen Hilfe die Stadt in den nächsten 20 bis 30 Jahren grundlegend erneuert werden soll."

Die Stadt reorganisiert sich durch praktische Initiativen, schließt Farruco. Es ist eine Reorganisation, die auf einem Gesellschaftsmodell basiert, welches wir selbst nicht besonders gut kennen und welches selber noch weiterentwickelt werden muss. Die Volksmacht (Poder Popular) beginnt jedoch, Einfluss auf die Entwicklung der Gemeinden zu entwickeln. Es ist ein politisches Projekt, welches sich als die Organisation von Stadtteilen in Selbstverwaltung versteht. Selbstverwaltet nicht nur im politischen, sondern auch im wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereich, bis hin zur Organisation der Verteidigung, da Venezuela ein bedrohtes Land ist.

Es handelt sich um einen neuen Turm zu Babel, der eine neue Stadt zu errichten sucht. Ein Turm also, der durch die Ansiedlung der Bedürftigsten in Zonen von Besserverdienenden den venezolanischen Sozialkonflikt auf der einen Seite polarisiert hat, zugleich aber tausende arme Familien aus ihren bedrängten Wohnverhältnissen befreit hat.


Dieser Artikel erschien am 24. März 2012 in der mexikanischen Tagesezitung La Jornada.