Nicaragua / Politik

Linken-Abgeordnete Heike Hänsel kritisiert Niebels Doppelmoral

Interview mit der Bundestagsabgeordneten Heike Hänsel über die Streichung der Entwicklungshilfe für Nicaragua

Die Bundesregierung erklärt zunehmend autoritäres Verhalten und Unregelmäßigkeiten seien die Gründe für weniger Entwicklungszusammenarbeit mit Nicaragua. Sind diese Begründungen aus Ihrer Sicht nachvollziehbar?

Nein, dies sind nur vorgeschobene Argumente. Die ganze Doppelmoral wird deutlich, wenn man den Blick nach Honduras wendet. Hier wird wissentlich von der Bundesregierung eine Regierung gestützt, die durch undemokratische Wahlen an die Macht kam. Die Wahlen wurden von einer Putsch-Regierung durchgeführt, unter deren Ägide allein in den letzten zwei Jahren über 1.000 politisch motivierte Menschenrechtsverletzungen verzeichnet wurden, darunter fast 50 politische Morde, viele davon an Journalisten. In keinem anderen Land der Welt wurden relativ zur Gesamtbevölkerung so viele Journalisten ermordet wie in den letzten Jahren in Honduras. Und was macht Niebel im Falle von Honduras? Er holte einen der Putschunterstützer der Friedrich-Naumann-Stiftung als Abteilungsleiter ins Entwicklungsministerium und intensivierte 2011 die Entwicklungshilfe für Honduras.

Die Bundesregierung spricht auch von mangelnden Erfolgen in der Armutsbekämpfung. Wie sehen Sie die Arbeit der nicaraguanischen Regierung im Vergleich zu anderen Ländern Zentralamerikas?

Bei aller Kritik an der autoritären Amtsführung von Präsident Daniel Ortega bewerten die meisten Nichtregierungsorganisationen (NGO) und Hilfsorganisationen die Armutsbekämpfung der Regierung positiv. Auch die Zahlen zeigen, dass sich seit Ortegas Machtantritt die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung signifikant verbessert hat. Nimmt man beispielsweise den Gini-Index, der die soziale Ungleichheit misst, als Referenz, dann nahm dieser in den letzten sechs Jahren von 0,41 auf 0,35 ab. Dies ist meines Wissens der beste Wert in Zentralamerika. Wenn Niebel nun gerade Nicaragua mangelnde Erfolge in der Armutsbekämpfung vorwirft, dann zeigt das seine ideologische Verblendung. Denn alle UN-Statistiken beweisen das Gegenteil.

Gibt es aus Ihrer Sicht realistische Zweifel am Wahlsieg der FSLN?

Nein. Zwar klagten einige internationale Beobachter über Unregelmäßigkeiten, wie etwa, dass sie zunächst keinen Zutritt in die Wahllokale erhalten hatten, aber weder die Wahlbeobachter der EU noch der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ließen Zweifel daran bestehen, dass die FSLN und Daniel Ortega die Wahl gewonnen haben. Bedenkt man zudem, dass auch in den Wahlprognosen des mit Sicherheit nicht FSLN-nahen Meinungsforschungsinstituts MyR Daniel Ortega mit knapp 60 Prozent gehandelt wurde und die Wahlumfragen am Wahltag selbst ebenfalls Ortega mit weitem Abstand vorne sahen, dann zeigt sich auch hier, dass Niebel alle Argumente recht sind, um an Nicaragua als ALBA-Mitgliedsland ein Exempel zu statuieren.

Auch der Grünen-Abgeordnete Thilo Hoppe sieht Demokratiedefizite. Er kommt aber zu dem Schluss, dass man gerade deshalb nicht auf die Zusammenarbeit im Bereich der "Good Governance" verzichten könne. Wie beurteilen Sie die Haltung der anderen Oppositionsparteien?

Zunächst einmal ist die Entwicklungszusammenarbeit elementar wichtig für die Bevölkerung. Nicaragua ist immer noch eines der ärmsten Länder Lateinamerikas und bestreitet einen bedeutenden Teil seines Haushalts mit internationalen Mitteln. Fehlt dieses Geld, trifft es direkt die Bevölkerung. Deshalb sprechen sich auch die Ortega-kritischen NGOs gegen ein Ende der Entwicklungszusammenarbeit aus. Natürlich setze auch ich mich für Korruptionsbekämpfung und Demokratisierung ein, und zwar in allen Ländern, angefangen in Deutschland. Das Konzept der "Guten Regierungsführung" (Good Governance) drückt aber eine paternalistische, ja neokoloniale Haltung des Nordens gegenüber dem Süden aus. Das lehne ich ab. Nie wird dieser Begriff auf Westeuropa oder die USA angewandt. Deshalb verwende ich den Begriff im Gegensatz zu meinen Kollegen der anderen Parteien nicht.

Welche Demokratiedefizite sehen Sie in Nicaragua, insbesondere bei den zurückliegenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Nicaragua? Hat der Oberste Nicaraguanische Wahlrat der Bundesregierung nicht durch Unregelmäßigkeiten und mangelnde Transparenz bei der Durchführung der Wahlen die Argumente für die Kürzung der Entwicklungsgelder an die Hand geliefert?

Durch den Pacto-Libero-Sandinista teilten sich die beiden Parteiführer den Ortega und Alemán den Wahlrat unter ihren Vertrauten auf. Dieses Vorgehen ist sicherlich zu hinterfragen. Dieser Wahlrat hatte zudem im Zuge der Kommunalwahlen 2008 und mit dem Entzug der juristischen Person für die Bewegung der sandinistischen Erneuerung (MRS) an Glaubwürdigkeit verloren. Allerdings scheiterte eine Neuwahl des Wahlrates an dem Boykott der Oppositionsparteien und nicht an der FSLN. Zu der Verlängerung der Amtszeit der Amtsträger per Präsidialdekret gab es in dieser Situation meiner Ansicht nach keine Alternative. Sonst hätte es gar keinen funktionierenden Wahlrat gegeben.

Welche alternativen Möglichkeiten sehen Sie, um auf mehr Transparenz, Demokratie und gute Regierungsführung in Nicaragua hinzuwirken?

Sicherlich gibt es einiges an linker Kritik an der Ortega-Regierung, vor allem die Kooperation mit rechten Parteien und reaktionären kirchlichen Kräften. Ganz generell kämpfen wir in Europa ja um Demokratisierung und direkte Beteiligung der Bevölkerung. Das gilt dann natürlich auch für Nicaragua und in einem solidarischen Dialog muss das thematisiert werden. Die Verfassungsprozesse in Venezuela, Bolivien und Ecuador waren da beispielgebend und wirkten sich positiv auf die gesellschaftliche Mobilisierung für eine linke Politik aus. So hätte Ortega beispielsweise enorm an politischer Legitimität gewonnen, wenn er die Wiederwahlmöglichkeit als Präsident nicht über den Gang zum Obersten Gericht, sondern, wie in Venezuela, über ein Referendum angestrebt hätte.