Zwölf Jahre Bolivarische Revolution

Wir dokumentieren die Ausgabe 5/11 von Standpunkte International der Rosa-Luxemburg-Stiftung

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Bau den Sozialismus auf - Graffiti-Vorlage aus Caracas
Bau den Sozialismus auf - Graffiti-Vorlage aus Caracas

Seitdem Hugo Rafael Chávez Frías am 6. Dezember 1998 zum Präsidenten Venezuelas gewählt wurde, hat sich in dem Karibikstaat vieles verändert: das Land erhielt eine neue Verfassung, die allmächtige Erdölfirma PDVSA wurde unter staatliche Kontrolle gebracht, private Unternehmen verstaatlicht, Kooperativen gegründet, Land umverteilt, Sozialprogramme ins Leben gerufen, die Rechte marginalisierter Bevölkerungssektoren gestärkt und die Nöte der Armen gelindert.

Der frühere Oberstleutnant überstand den Putsch von 2002 und wurde bereits zweimal wiedergewählt. Auch international hinterließ Chávez mit seiner auf regionale Bündnisse gerichteten, mulitipolaren und antiimperialistischen Außenpolitik Spuren. Es gibt wohl kaum jemanden in der politisch denkenden Welt, der keine Meinung zu dem venezolanischen Machthaber hat: die einen feiern ihn für seine Politik des "Sozialismus im 21. Jahrhundert", die anderen rügen seinen autoritären und undemokratischen Führungsstil.

Auch im eigenen Land ist die Bevölkerung gespalten: Anhänger der Opposition werfen der Regierung Einschränkung von Meinungsfreiheit, Kontrolle unabhängiger Medien, Verletzung von Menschenrechten bis hin zur sozialistischen Staatsdiktatur vor, die anderen feiern die sozialen Errungenschaften der Missionen und die Öffnung politischer Beteiligungsprozesse. Doch die Wahlergebnisse werden zunehmend schlechter für Hugo Chávez und auch innerhalb der Bolivarischen Bewegung regt sich Widerstand.

Zwölf Jahre nach Amtsantritt von Präsident Hugo Chávez erwecken die internationalen Medien den Eindruck, dass Venezuela unaufhaltsam auf eine staatssozialistische Diktatur zusteuert. Man liest von einer scheiternden Wirtschaft, einem autoritären Präsidenten, ausufernder Kriminalität und Korruption, willkürlichen Verstaatlichungen sowie der Verfolgung von Privatmedien und Oppositionspolitikern.

Wenn all dies stimmt, warum wird Präsident Chávez immer noch von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt? Denn obwohl die Wahlerfolge der letzten Jahre relativ knapp ausfielen, sprach sich immer noch die Hälfte der Bevölkerung für Chávez und seine Regierungsmannschaft aus.1 Mehr noch, Meinungsumfragen bestätigen regelmäßig, dass die Zahl der Venezolaner, die glauben, dass ihr politisches System und ihre Wirtschaft gut funktionieren, größer ist, als dies bei den Bürgern in anderen Ländern Lateinamerikas der Fall ist. Wenn wir die theoretische Möglichkeit einer Fälschung von Meinungsumfragen und Wahlergebnissen ausschließen, wird klar, dass Venezuela nicht auf einen Alptraum aus Verbrechen, Repression und wirtschaftlichem Untergang reduziert werden kann.

Ich behaupte, dass Venezuela weit davon entfernt ist, ein verfehltes linkes Experiment zu sein. Im Gegenteil: In den letzten zwölf Jahren wurden bedeutende Fortschritte hin zu einer gerechteren, inklusiveren und partizipativeren Gesellschaft gemacht. Und es sind eben diese Veränderungen, die die andauernde Beliebtheit der Regierung erklären. Auf der anderen Seite dürfen wir aber nicht die Augen vor den negativen Aspekten der Regierung Chávez verschließen. Manche von ihnen bestanden schon vor der bolivarischen Regierung, andere sind neu hinzugekommen. Sie sind der Grund für den Abwärtstrend der Beliebtheit von Hugo Chávez seit seiner Wiederwahl im Jahr 2006.

Politische Teilnahme und Teilhabe

Viele Fortschritte der letzten zwölf Jahre betreffen die politische Teilhabe von bisher ausgegrenzten Sektoren der Gesellschaft. So ist zum Beispiel die Wahlbeteiligung zwischen 1998 und 2006 von 51 Prozent auf 69 Prozent gestiegen.2 Im Dezember 2007 verlor Chávez knapp ein Referendum zur Reform der Verfassung, mit 49,3 Prozent zu 50,7 Prozent.

Zum Vergleich: in den USA gab es 2008 eine der höchsten Wahlbeteiligungen der letzten Jahrzehnte mit nur 57,4 Prozent.3 Da eine Mehrheit der venezolanischen Bevölkerung arm ist und zu einem großen Teil vorher politisch nicht aktiv war, kommen die meisten Neuwähler aus ärmeren Schichten. Ein weiteres positives Beispiel ist die Tatsache, dass Frauen jetzt explizit in jedem Aspekt der Verfassung von 1999 einbezogen sind. Hausarbeit wird als Arbeit definiert und soll als solche auch den Bezug einer Rente garantieren (dies ist allerdings bisher noch nicht umgesetzt worden). Frauen und Mitglieder der indigenen Bevölkerungsgruppen genießen Vorteile von affirmativen Maßnahmen, die ihnen Zugang zu Darlehen, Land und Sozialprogrammen im Bildungsbereich und in der Armutsbekämpfung gewährleisten.

Auch die Möglichkeiten der politischen Partizipation sind vielfältiger geworden: zum Beispiel das Recht, Volksbefragungen zu initiieren, um gewählte Vertreter abzuwählen, Gesetze anzunehmen oder Gesetze aufzuheben. Die wahrscheinlich wichtigste neue Form der Beteiligung ist die Selbstorganisation von Gemeinden. Seit 2006 organisierten sich mehr als 30.000 Gemeinschaftsräte im ganzen Land. Ein Gemeinschaftsrat besteht aus 150 bis 400 Familien, die sich basisdemokratisch zusammenschließen, um Projekte zur Verbesserung der Situation ihrer Gemeinschaft durchzuführen. Hierfür erhalten sie finanzielle Unterstützung durch die Regierung. Ein weiteres positives Beispiel ist die aktive Teilnahme der Bürger an den Medien. Diese wird durch die Einrichtung von hunderten unabhängigen Gemeinschaftsradios und -fernsehsendern im ganzen Land unterstützt.

Verstärkte Inklusion, Teilhabe und Teilnahme haben zu einer größeren Akzeptanz des venezolanischen politischen Systems bei seinen Bürgern geführt. Laut der Umfrage des Latinobarómetro-Instituts von 2010, halten mehr Venezolaner die Demokratie für das beste politische System als es bei den Bürgern in vielen anderen Ländern Lateinamerikas der Fall ist.4

Wirtschaften im Sozialismus des 21. Jahrhunderts

Auf der makro-ökonomischen Ebene wurde die Demokratisierung dadurch erreicht, dass die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft vergrößert und der Neoliberalismus in seine Schranken verwiesen wurde. Ein wichtiges Beispiel ist die Rückeroberung der Kontrolle über die halb-unabhängige nationale Ölwirtschaft. Dafür nationalisierte die Regierung private Unterlieferanten der Ölindustrie und integrierte diese in die staatliche Ölfirma PDVSA. Weiterhin wurden die Projekte transnationaler Ölfirmen teilnationalisiert und ihre Dienstleistungsverträge in Joint Ventures umgeändert, so dass sie mehr an den Risiken und Kosten der Ölproduktion beteiligt sind.

Die Unternehmen dürfen heute nicht mehr als 40 Prozent einer Ölproduktionsanlage kontrollieren. Eine der wahrscheinlich wichtigsten Änderungen war die Erhöhung der Abgaben von privaten Ölfirmen an den Staat von einem Prozent ihrer Ölproduktion auf 33 Prozent. Auch in anderen Wirtschaftszweigen hat die Regierung von ihren Vorgängern privatisierte Schlüsselindustrien wieder nationalisiert: z. B. die Stahlproduktion (SIDOR), die Telekommunikation (CANTV), die Elektrizitätsdistribution, Zementproduktion (Cemex), Banken (Banco de Venezuela) und die Lebensmittelverteilung (Éxito).

Auf der mikro-ökonomischen Ebene wurde die Förderung von Demokratie am Arbeitplatz vorangetrieben. Die Regierung hat den Aufbau von mehr als 100.000 Kooperativen unterstützt, in dem sie Niedrigzinsdarlehen an sie verteilte und ihre Mitglieder für die neue Aufgabe ausbildete. Dies stellt eine über hundertfache Steigerung der Anzahl der Kooperativen dar. Als Fabriken stillgelegt werden sollten, hat die Regierung in etwa zwei Dutzend Fällen diese nationalisiert und unter Arbeiterkontrolle gestellt.

Die Demokratisierung der Arbeit hatte wahrscheinlich ihren größten Effekt in der Landwirtschaft, in der über eine Million Venezolaner von der Landreform profitierten. Ihnen wurde nicht nur Land zur Verfügung gestellt, sondern sie erhielten auch eine landwirtschaftliche Ausbildung, günstige Kredite, Arbeitsmittel und einen erleichterten Zugang zu Märkten. Durch die Wirtschaftspolitik der Chávez-Regierung konnte die Armutsrate halbiert werden: von 49 Prozent im Jahr 1998 auf 24 Prozent im Jahr 2009.5 Die Rate der extremen Armut wurde sogar um Zweidrittel gesenkt: waren es 1998 21 Prozent der Haushalte, so fiel die Rate 2009 auf sechs Prozent.

Nach wie vor ist der Großteil des Rückgangs der Armut auf die Sozialprogramme der Regierung zurückzuführen, aber mittlerweile greifen auch die Arbeitsbeschaffungsprogramme. Die Arbeitslosigkeit ging etwa um die Hälfte zurück: von 14,5 Prozent in der ersten Jahreshälfte 1999 auf sieben Prozent gegen Ende 2010. Auch Länder, die sich der neoliberalen Wirtschaftpolitik verschrieben haben, konnten die Armutsrate senken. Dies hatte aber gleichzeitig oft auch eine Erhöhung der Ungleichheit in der Bevölkerung zur Folge. In Venezuela ist es jedoch gelungen, den "Gini-Koeffizienten" von 0,49 in 1998 auf 0,39 in 2010 zu senken. Damit ist er heute einer der niedrigsten in ganz Lateinamerika.6

Missionen und Visionen

Die Chavéz-Regierung entwickelte eine Vielzahl von neuen Sozialprogrammen, die als "Missionen" bekannt sind. Diese zeigen heute handfeste Ergebnisse: Im Bereich Bildung konnte die Einschulungsrate von 40,6 Prozent in 1999 auf 60,6 Prozent in 2008 erhöht7 und die Zahl der Universitätsstudenten im selben Zeitraum verdreifacht werden.8 Die Regierung stockte dabei den Prozentsatz des BSP für Bildung von 4,87 Prozent auf 6,34 Prozent auf.9

Im Bereich der Gesundheit weist das südamerikanische Land heute eine universelle Gesundheitsversorgung durch die "Barrio Adentro" Mission, eine Reduzierung der Kindessterblichkeitsrate von 19,0 auf 13,9 pro Tausend Geburten zwischen 1999 und 2008 und eine Verlängerung der Lebenserwartungszeit von 72,4 Jahre in 2000 auf 73,9 in 2009 vor.10 Der Anteil der Bevölkerung, der im Alter über eine soziale Absicherung verfügt, hat sich bei den über 60-Jährigen von 20,3 Prozent im Jahr 2000 auf 43,3 Prozent im Jahr 2009 mehr als verdoppelt.11

In der Außenpolitik hat die Chávez-Regierung zwei Ziele hervorgehoben. Zum einen versucht sie die Schaffung einer "multipolaren" Weltordnung zu unterstützen, d. h. viele kleine Bündnisse statt der Dominanz weniger Supermächte. Auf der anderen Seite konzentriert sich Chávez darauf, die lateinamerikanische und karibische Region zu integrieren. Der Wunsch nach einer regionalen Integration basiert dabei auf der Erkenntnis, dass Länder der "Dritten Welt" bessere Chancen für wirtschaftliche und politische Entwicklung haben, wenn sie sich vereinen anstatt gegeneinander oder einzeln gegen den Norden zu konkurrieren, wie es bei Freihandelsabkommen immer der Fall ist.

Chávez verfolgt diese außenpolitischen Ziele innerhalb eines anti-imperialistischen Rahmens, wobei er die U.S.-Hegemonie bei jeder Gelegenheit vehement angreift, sei es im Hinblick auf die Kriege im Irak oder in Afghanistan, die USamerikanische Unterstützung für die israelische Besetzung des Westjordanlands und des Gaza-Streifens oder die Versuche, den Neoliberalismus durch den IWF und die Weltbank voranzutreiben.

Die Unterstützung für die regionale Integration und für die Herbeiführung einer multipolaren Welt wurden auf unterschiedliche Art und Weise verfolgt. Ein Beispiel ist die Einrichtung der Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR), die alle südamerikanischen Nationen für ein neues politisches und ökonomisches Projekt zusammenführt, unter anderem mit Aussicht auf die Einführung einer südamerikanischen Einheitswährung. Venezuela ist der wichtigste Förderer dieses Projekts. Zusammen mit Kuba lancierte Venezuela auch das Integrationsprojekt ALBA (Bolivarianische Allianz für unser Amerika) zu dem Venezuela, Kuba, Bolivien, Ecuador, Nicaragua, und die Inselnationen Dominica, St. Vincent, die Grenadinen, Antigua und Barbuda gehören. Diese regionale Allianz etabliert Handelsbeziehungen, die auf Solidarität und fairem Handel basieren und nicht auf freiem Handel.

Ein ähnliches Projekt ausschließlich für den Ölsektor, ist die Einrichtung von PetroCaribe. Hier liefert Venezuela den Inselländern der Karibik Öl zu sehr niedrigen Zinssätzen sowie technische Assistenz. Damit sind die Partner weniger den Höhen und Tiefen des Weltmarktpreis für Erdöl ausgesetzt und unabhängiger von transnationalen Ölfirmen.

Stolpersteine

In Venezuela ist das Justizsystem weiterhin eine politisierte Institution. Daran haben auch die Einrichtung einer unabhängigen Staatsgewalt für die Verfolgung von Verbrechen sowie verschiedene Reformversuche nichts ändern können. So werden auch heute noch oft die Klagen gegen Oppositionelle konsequenter verfolgt als die gegen Anhänger der Regierung.12 Dies hat wiederholt dazu geführt, dass Venezuela der Menschenrechtsverletzungen beschuldigt wurde. Eine weitere Unzulänglichkeit im politischen Bereich ist das Fortbestehen des höchst ineffizienten und bürokratischen öffentlichen Dienstes. Diese Ineffizienz fördert ein System der Korruption, bei dem Beamte für die Überwindung bürokratischer Hindernisse Schmiergelder verlangen. Auch ist es der Regierung von Hugo Chávez nicht gelungen, die jüngste Weltwirtschaftskrise adäquat zu handhaben. Deshalb dauerte die Rezession länger an als in den meisten anderen Ländern der Region.

Einige Analysten sind der Meinung, dass die Krise von 2009–2010 in Venezuela vermeidbar gewesen wäre, wenn die Regierung in den Jahren des Ölbooms (2004–2008) Rücklagen gebildet hätte.13 Ein weiterer Kritikpunkt ist die andauernde extreme Abhängigkeit Venezuelas von Ölexporten. Diese stellen etwa 90 Prozent der Exporteinnahmen dar. Der Anteil der Ölwirtschaft an der Gesamtwirtschaft hat sich auch unter Chávez nicht verändert. Zusätzlich würgt das massive Öleinkommen die einheimische Produktion ab, da Importe allgemein billiger sind (besonders durch die feste Umtauschkontrolle, die nicht an die Inflation angepasst wird).

Weiterhin hat Venezuela das am stärksten subventionierte Benzin der Welt. Es ist praktisch umsonst. Dies trägt zu Verschwendung, Umweltverschmutzung und massiven Verkehrsaufkommen im ganzen Land bei. Die Kosten für die Benzinsubvention sind schwer zu kalkulieren, aber sie werden auf zwischen 1,5 und 3 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt, was angesichts des jährlichen Regierungshaushalts von etwa 50 Milliarden US-Dollar beachtlich ist.14

Auch das Einfrieren des Wechselkurses hat sich negativ auf die Wirtschaftspolitik der Regierung Chávez ausgewirkt. Die Maßnahme wurde eingeführt, um die durch die massiven Importe wachsende Inflation einzudämmen. Diese war mit 27 Prozent im vergangenen Jahr eine der höchsten der Welt. Die Maßnahme ging aber nach hinten los. Da der Wechselkurs nicht an die Inflation angepasst wird, ist die Währung relativ überbewertet; dadurch werden Importe billig und die Exporte so teuer, dass es praktisch unmöglich ist, diese auf dem internationalen Markt abzusetzen.

Malaisen der Sozialpolitik

Nach Umfragen des Latinobarómetro halten 64 Prozent der Venezolaner Kriminalität für das Hauptproblem des Landes. Dies sind doppelt so viele wie der regionale Durchschnitt.15 Obwohl die Wahrnehmung nur begrenzt der Realität entspricht – die Verbrechensrate in dem Karibikstaat liegt tatsächlich unter dem lateinamerikanischen Durchschnittsniveau – handelt es sich dabei um ein ernstzunehmendes Problem.16 Die venezolanische Regierung hat sich die Verbrechensbekämpfung auf die Fahne geschrieben und ist unter anderem dabei, eine neue nationale Polizeieinheit zu bilden. Der Erfolg wird aber wahrscheinlich noch einige Jahre auf sich warten lassen.

Das zweitgrößte Problem im sozialen Bereich ist die Wohnungskrise. Die Wohnungsnot hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Heute fehlen zwei Millionen Wohnungen im Land. An diesem strukturellen Problem konnten auch Maßnahmen wie die Nationalisierung der Zementindustrie und die Herstellung günstiger PVC-Häuser nicht grundsätzlich etwas ändern. In den nächsten zwei Jahren will die Regierung 250.000 Wohneinheiten bauen.

Kampf dem Imperium – um jeden Preis?

Beim Versuch, den Aufbau einer multipolaren Welt und einer Süd-Süd-Kooperation gegen die US-Hegemonie zu unterstützen, hat Chávez sehr enge Beziehungen mit zahlreichen autoritären Regierungen auf der ganzen Welt geknüpft. Dabei geht es allerdings nicht nur um bilaterale Abkommen zwischen Staaten, sondern oft auch um persönliche Beziehungen zu den autoritären Führern von Iran, Belarus, China, Zimbabwe, Syrien und anderen Ländern. Die Legitimation der autoritären Machthaber schwächt aber gleichzeitig die sozialen Bewegungen dieser Länder in ihrem Kampf für Demokratie und gegen Menschenrechtsverletzungen.

Der steinige Weg zur Problemlösung

Es gibt vier wichtige Hindernisse innerhalb der Bolivarischen Bewegung, die interne Kritik und Kurskorrekturen erschweren. Das erste Hindernis ist paradoxerweise der Hauptgrund für den Erfolg der Bolivarischen Revolution: Präsident Hugo Chávez selbst. Sein Führungsstil ermöglichte es, die fragmentierte venezolanische Linke zu einen und marginalisierte Bevölkerungssektoren zu mobilisieren. Aber Chávez große Führungskapazität hat eine enorme Abhängigkeit von seiner Person zur Folge. Dadurch wird es auch für die Unterstützer unglaublich schwer, bestimmte Aspekte der Revolution zu kritisieren, weil alle Kritik als Kritik an der Person Chávez aufgefasst wird. Interne Debatten werden deswegen meist abgewürgt, bevor sie je richtig in Fahrt kommen. Die Gründung der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) sollte diese Fixierung auf eine charismatische Führungspersönlichkeit überwinden helfen, aber bislang fehlt ihr die notwendige Institutionalisierung für diesen Schritt.

Zweitens: Trotz der sehr tiefen Veränderungen, die Venezuela während der letzten zwölf Jahre durchgemacht hat, gab es kaum Verbesserungen in Bezug auf die klientelistische (manche nennen es sogar "tribalistische") politische Kultur des Landes. Auch heute noch wird die Loyalität gegenüber einer Person höher eingeschätzt, als die Loyalität gegenüber Idealen oder Prinzipien. Dabei erzeugt eine klientelistische Kultur den Nährboden für Korruption: eine Hand wäscht die andere. Kritik gilt unter solchen Bedingungen als illoyal und kann zur Folge haben, dass man eine Beförderung nicht bekommt oder vielleicht sogar den Job verliert.

Drittens: Die Forderung nach Einheit und Loyalität passt gut zum militärischen Führungsstil von Chávez, der sehr hierarchisch und streng ist. Obwohl seine Absicht, eine partizipative Demokratie in Venezuela zu schaffen, ehrlich ist, gibt es im inneren Berater-Kreis von Chávez und im öffentlichen Dienst eine zutiefst hierarchische Managementkultur. Diese gerät immer wieder mit den Mechanismen der partizipativen Demokratie in Konflikt. Es scheint, dass weder Chávez noch seine Berater verstanden haben, dass dieser Führungsstil unvereinbar mit der Schaffung einer demokratischeren Gesellschaft ist. So kommt es immer wieder zu heftigen Konflikten zwischen Chávez-Unterstützern in den Gemeinden, die durch die Gemeinschaftsräte und durch selbstbestimmte Arbeitsplätze ermächtigt worden sind und staatlichen Funktionären, die die Anweisungen ihrer Minister ausführen.

Viertens: Trotz der Ausarbeitung des Parteiprogramms der PSUV gibt es immer noch sehr viel Ungewissheit bezüglich Richtung und Ziel der Bolivarischen Revolution. Wie weit will man die Demokratisierung der Gesellschaft vorantreiben?

Soll diese für alle staatlichen Unternehmen, inklusive der staatlichen Ölfirma PDVSA gelten? Wie steht es mit der Demokratisierung von Privatunternehmen? Was ist die Absicht gegenüber dem kapitalistischen Markt? Wird dieser durch eine zentralisierte oder durch eine demokratische Planung überwunden oder will man doch lieber eine sozialistische Marktwirtschaft? Dabei hat das Fehlen eines detaillierten Entwurfs für die Zukunft durchaus auch positive Effekte: es werden dadurch Räume für Debatten und für kollektive Entscheidungen eröffnet. Diese Räume müssen aber offen und demokratisch sein, denn sonst werden Unzulänglichkeiten der Regierung nicht angesprochen und Desorientierung und Opportunismus geben den Ton an.

Die Bolivarische Revolution sieht sich natürlich auch mit einer Vielzahl von Hindernissen konfrontiert, die von außerhalb des Chávez-Lagers kommen. So war die Opposition in der Vergangenheit immer wieder bereit, verfassungswidrige Mittel zu benutzen, um sich gegen die Regierung zu stellen. Die Supermacht USA nutzt alle politischen und wirtschaftlichen Mittel, um die Chávez-Regierung zu destabilisieren. Und es gibt die kapitalistische Weltwirtschaft, die es praktisch unmöglich macht, eine Alternative innerhalb dieses Wirtschaftssystems herbeizuführen.

Venezolaner scheinen sich aber bei der Bewertung der Leistungen ihrer Regierung nicht besonders von diesen externen Hindernissen leiten zu lassen. Stattdessen sind es die oben genannten Unzulänglichkeiten der Chávez-Regierung und ihre internen Probleme, die das Abflauen der Unterstützung für die Regierung und für Chávez seit seiner Wiederwahl im Jahr 2006 verursacht haben.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Bolivarische Bewegung drei Stolpersteine beseitigen muss: Lösung aus der extremen Abhängigkeit von Chávez durch die Organisation einer effektiveren Partei oder Bewegung; Überwindung der klientelistischen Kultur durch die Entwicklung einer kompetenzbasierten politischen Kultur; und die Aufgabe ihrer streng hierarchischen Entscheidungsstruktur zu Gunsten einer partizipativeren Managementkultur im öffentlichen Dienst. Nur dann wird sie in der Lage sein, die Probleme der Gesellschaft offen zu debattieren und eine kohärentere Vision für den Weg zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu finden.


Gregory Wilpert war bis Januar 2011 Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Caracas.

  • 1. Im Dezember 2007 verlor Chávez knapp ein Referendum zur Reform der Verfassung, mit 49,3 Prozent zu 50,7 Prozent. Im Februar 2009 gewann Chávez ein Referendum für eine Verfassungsänderung mit 54,9 Prozent zu 45,1 Prozent. Und im September 2010 gewannen die Regierungsparteien etwa 46,7 Prozent der Stimmen, gegen 45,0 Prozent für die Opposition, und 2,8 Prozent für die damals unabhängige Partei PPT.
  • 2. Meine eigene Kalkulation basiert auf Daten der Wahlbeteiligung der wahlregistrierten Bevölkerung, die laut dem Nationalen Wahlkonzil (www.cne.gob.ve) von 65,5 Prozent auf 74,6 Prozent gestiegen ist, und dem Prozentsatz der wahlregistrierten Bevölkerung, der zwischen 1998 und 2010 von 79 Prozent auf 92 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung gestiegen ist (Instituto Nacional de Estadísticas, www.ine.gob.ve).
  • 3. Quelle: http://en. wikipedia.org/wiki/Voter_turnout_in_the_United_States_presiden.
  • 4. Latinobarometro 2010, p.26 (www.latinobarometro.org)
  • 5. Instituto Nacionalde Estadísticas (INE) http://www.ine.gob.ve/pobreza/HogaresPobres_linea.asp
  • 6. Ministerio del Poder Popular de Planificación y Finanzas (http://www.sisov.mpd.gob.ve/indica- dores/IG0002400000000/)
  • 7. Ministerio del Poder Popular de Planificación y Finanzas (http://www.sisov.mpd.gob.ve/indicadores/ED0106600000000/)
  • 8. Anuario Estadístico Integral, Ministerio del Poder Popular para las Relaciones Exteriores, p. 180–181.
  • 9. Ministerio del Poder Popular de Planificación y Finanzas (http://www.sisov.mpd.gob. ve/indicadores/ED0401400000000/)
  • 10. Ministerio del Poder Popular de Planificación y Finanzas(http://www.sisov.mpd.gob.ve/indicadores/SA0100100000000/)
  • 11. Ministerio del Poder Popular de Planificación y Finanzas (http://www.sisov.mpd.gob.ve/indicadores/SS0100300000000/)
  • 12. Hier gibt es aber auch einige Ausnahmen, wie zum Beispiel die gescheiterte Verfolgung der Mörder der über 200 ermordeten Bauernanführer, die wegen der Landreform in den letzten zehn Jahren umgebracht worden sind.
  • 13. Für eine detaillierte Analyse der venezolanischen Rezession ist folgender Bericht zu empfehlen: «Update on the Venezuelan Economy» von Mark Weisbrot und Rebecca Ray(CEPR).
  • 14. Vor kurzem sagte Venezuelas Ölminister Ramírez, dass die Subvention den Staat $ 1,5 Milliarden pro Jahr kostet. Dies scheint aber eine sehr geringe Einschätzung zu sein, da sie von Produktionskosten von nur etwa $14 pro Barrel ausgeht. (Siehe: http://economia.noticias24.com/noti- cia/51680/gobierno-subsidia-el-precio-de-la-gasolina-para-%E2%80%9Cluchar-contra- la-inflacion%E2%80%9D/)
  • 15. Latinobarometro 2010, p. 8.
  • 16. Latinobarometro 2010, p. 15. Das hat wahrscheinlich nicht nur damit was zu tun, dass die oppositionellen Priv- atmedien dieses Thema ständig hypen, sondern auch damit, dass für die Venezolaner viele Probleme, mit denen Bürger anderer Länder Lateinamerikas zu kämpfen haben, nicht so ernst sind, wie zum Beispiel Armut, Arbeitslosigkeit, Zugang zum Gesundheitssystem oder zur Bildung.