Auf bröckelndem Boden: Die Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika

Think-Tank diagnostiziert wachsende Distanz. Berlin sucht in Brasilien die Kooperation mit Lula auszubauen, um Einflussverluste wettzumachen

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Von Wunschdenken bestimmt: Steinmeiers "Charmeoffensive bei Lula"
Von Wunschdenken bestimmt: Steinmeiers "Charmeoffensive bei Lula"

Mit Erleichterung reagiert Berlin auf die Niederschlagung der Umsturzbewegung in Brasilien. Bundeskanzler Olaf Scholz beteuert, die Bundesregierung stehe "eng an der Seite von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva".

Laut Berichten plant Scholz in Kürze eine Reise in das südamerikanische Land. Hintergrund ist das Berliner Bestreben, den Wechsel im brasilianischen Präsidentenamt von Jair Messias Bolsonaro zu Lula zu nutzen, um den deutschen Einfluss in Brasilien wieder zu stärken, der seit Jahren deutlich rückläufig ist.

Wie es in einer aktuellen Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) heißt, muss die Bundesregierung sich der Tatsache stellen, dass die Politik Berlins wie auch der Europäischen Union in den vergangenen Jahren nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika zu ernsten Brüchen geführt hat. So habe sich die EU mit der Weigerung, Covid-19-Impfstoffe zu liefern, und ihrer gleichzeitigen Agitation etwa gegen chinesische Impfstoffe nicht eben beliebt gemacht. Auch die Sanktionspolitik gegenüber Russland stoße auf dem Subkontinent auf Ablehnung. Die SWP warnt explizit: "Die gemeinsame Grundlage bröckelt."

"Das post-amerikanische Lateinamerika"

Hintergrund der Versuche, die beginnende Amtszeit des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva zu nutzen, um den deutschen bzw. europäischen Einfluss in Brasilien zu stärken, ist der deutliche Einflussverlust in den vergangenen Jahren. War etwa Deutschland im Jahr 2002 mit einem Anteil von 9,4 Prozent am brasilianischen Import noch drittgrößter Lieferant des Landes, so ist es inzwischen deutlich zurückgefallen und hält zur Zeit einen Anteil von nur noch 5,1 Prozent.

Rasant zugenommen hat hingegen der Anteil Chinas an den brasilianischen Einfuhren, der zuletzt bei 22,8 Prozent lag, mit steigender Tendenz und klar vor den USA (17,7 Prozent). Als Abnehmer brasilianischer Exporte liegt China mit einem Anteil von 31,3 Prozent um Welten vor der Nummer zwei (Vereinigte Staaten, 11,2 Prozent).

Auch politisch schwindet der Einfluss des Westens. So ist es Washington nicht gelungen, Brasilien zum Verzicht auf die 5G-Technologie des chinesischen Konzerns Huawei zu nötigen; lediglich in Regierungsnetzen dürfen Huawei-Bauteile nicht genutzt werden. Mit Blick darauf, dass der Einfluss Nordamerikas sowie Europas in Lateinamerika schwindet, hat im vergangenen Jahr die einflussreiche US-Fachzeitschrift Foreign Affairs das Schlagwort "post-amerikanisches Lateinamerika" geprägt.1

"Von Wunschdenken bestimmte Rhetorik"

Ende vergangenen Jahres hat die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik in einer aktuellen Analyse darauf hingewiesen, dass zusätzlich zum schwindenden ökonomischen Einfluss die politischen Differenzen zwischen Europa und Lateinamerika deutlich zunehmen. So seien "Narrative", die etwa "gemeinsame Werte", "strategische Partnerschaft" oder einen "Dialog auf Augenhöhe" postulierten, "eine von Wunschdenken bestimmte Rhetorik", die der Realität "immer weniger gerecht" werde: "Die gemeinsame Grundlage bröckelt."Günther Maihold, Tania Muscio Blanco, Claudia Zilla: Von gemeinsamen Werten zu komplementären Interessen. SWP-Aktuell 2022/A 78. Berlin, 15.12.2022.

Die SWP macht dies zum einen an Erfahrungen aus der Covid-19-Pandemie fest, von der Lateinamerika besonders stark betroffen war: Mit acht Prozent der Weltbevölkerung verzeichnete es 12,5 Prozent der Covid-19-Fälle sowie 26 Prozent aller Covid-19-Todesfälle weltweit. Impfstoffe erhielt es aus der EU praktisch nicht. "Kostengünstige Vakzine aus Russland und China" aber hätten "besonders schnell in großem Umfang eingeführt und verabreicht werden" können, konstatiert die SWP. Die EU-Staaten hätten darauf reagiert, indem sie "Moskaus und Pekings 'Impfdiplomatie' gegenüber dem Globalen Süden aufs schärfste" kritisiert hätten. Parallel hätten sie russische und chinesische Impfstoffe bei Einreisen in die EU nicht anerkannt. Dass der "Egoismus Europas ... weit abfalle von seinen üblichen Solidaritätsbekundungen", sei in Lateinamerika sehr genau wahrgenommen worden, hält die SWP fest.

"Eine Strategie der Mächtigen"

Neue Differenzen haben laut der SWP der Ukraine-Krieg und der Streit um die Russland-Sanktionen gebracht. Wie die Berliner Denkfabrik schreibt, hat den Staaten Lateinamerikas in den vergangenen Jahren "der Ausbau ihrer (vor allem ökonomischen) Beziehungen" zu Staaten wie nicht nur China, sondern zum Beispiel auch Russland und Iran "eine Chance auf außenpolitische wie außenwirtschaftliche Diversifizierung" geboten.

Dass die westlichen Mächte nun von Lateinamerika insgesamt, Brasilien inklusive, verlangten, die "von EU und Nato gewählte Gegenstrategie der Stärke" mitzutragen, die weitgehend "auf Isolierung, Sanktionen und Aufrüstung setzt", sei in den Staaten des Subkontinents deshalb weithin auf Ablehnung gestoßen.Günther Maihold, Tania Muscio Blanco, Claudia Zilla: Von gemeinsamen Werten zu komplementären Interessen. SWP-Aktuell 2022/A 78. Berlin, 15.12.2022.

Aus lateinamerikanischer Perspektive werde mit dem Bestreben, Russland weltweit politisch und wirtschaftlich zu isolieren, "nur die europäische Sichtweise transportiert und ein auf Europa beschränktes Kriegsgeschehen zum Wendepunkt der internationalen Politik erklärt". Davon abgesehen werde gezielte "Exklusion" ohnehin "als eine Strategie der Mächtigen bewertet, die sich in künftigen Fällen auch gegen das eigene Land richten könnte", hält die SWP fest. Eigene derartige Erfahrungen hat die Region – vor allem in Kuba und Venezuela – ohnehin zur Genüge gemacht.

Steinmeiers Charmeoffensive

Berlin sucht nun Lulas Amtsantritt zu nutzen, um seinen Einfluss zunächst in Brasilien, dem mächtigsten Staat Südamerikas, wieder zu stärken. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Brasilien zum Jahreswechsel besucht, um an Lulas Amtseinführung teilzunehmen; er hat sich energisch – und letztlich mit Erfolg – dafür stark gemacht, noch vor dem Termin mit dem jetzigen Präsidenten zusammenzutreffen: eine "Charmeoffensive", wie es anschließend hieß.2

Berichten zufolge will schon in Kürze auch Kanzler Olaf Scholz nach Brasilien reisen, um die bilaterale Kooperation zu intensivieren. Als ein wahrscheinlicher Schwerpunkt gelten Bestrebungen, die Abholzung des Regenwaldes im Amazonasgebiet einzudämmen. Dazu zahlt Berlin wieder Mittel in den Amazonienfonds ein, der nachhaltige Projekte in der Region fördern soll. Die deutschen Mittel waren 2019 wegen der Abholzungspolitik des damaligen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro gestoppt worden.

Darüber hinaus hofft Berlin, die Ratifizierung des Freihandelsabkommens mit dem Staatenbund Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) nun schnell über die Bühne zu bekommen, um den Handel vor allem mit Brasilien intensivieren zu können. Die Ratifizierung war gleichfalls am Protest gegen Bolsonaros Amtsführung und insbesondere gegen seine Amazonaspolitik gescheitert.

Auf Autonomie orientiert

Die SWP rät nun in einer Ende 2022 publizierten Stellungnahme, die Kooperation "nicht nur wieder aufzunehmen, sondern auch neu zu gestalten". So könne etwa "die gemeinsame Technologieentwicklung" oder auch "eine nachhaltige Ressourcennutzung" vorangetrieben werden.3

Allerdings weist die SWP auch explizit darauf hin, dass sich Brasilien unter Lula in den aktuellen globalen Machtkämpfen nicht einfach auf die Seite des Westens schlagen wird. Lula wolle das Land "im Spannungsfeld zwischen Washington und Peking nicht einseitig positionieren", sagt die Denkfabrik voraus. Er werde "auf die neuen geopolitischen Herausforderungen ... mit einer autonomieorientierten Aufstellung Brasiliens reagieren und dabei insbesondere auch Positionen des Globalen Südens aufnehmen".

In der Tat hat Lula schon Anfang Mai klargestellt, dass er den russischen Überfall auf die Ukraine zwar ablehnt, Moskau aber keine Alleinschuld zuschreibt: Weil sie auf der Option eines ukrainischen Nato-Beitritts bestanden hätten, der für Russland strategisch untragbar sei, seien "die USA und die EU mitschuldig".4 Hält er – wie zu erwarten – an dieser Position fest, dann setzt sich unter seiner Präsidentschaft wohl das Bröckeln der westlichen Dominanz auf dem lateinamerikanischen Subkontinent fort.