Was Washington am meisten an Präsident Lula da Silva fürchtet

Als progressiver Politiker könnte Lula eine bedeutende Rolle bei der Herausbildung einer neuen, starken Bewegung der Blockfreien spielen

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Lula bei seiner Rede nach dem Wahlsieg am 30. Oktober. Er setzt sich für die lateinamerikanische Integration und eine multipolare Weltordnung ein
Lula bei seiner Rede nach dem Wahlsieg am 30. Oktober. Er setzt sich für die lateinamerikanische Integration und eine multipolare Weltordnung ein

Präsident Joe Biden hielt sein Wort und gratulierte Lula da Silva unmittelbar nachdem die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen am 30. Oktober bekannt gegeben worden waren.

Die brasilianischen Wahlen zu diesem Zeitpunkt als "frei, fair und glaubwürdig" einzustufen, wie Biden es tat, verringerte die Wahrscheinlichkeit, dass Jair Bolsonaro versucht sein könnte, einen Betrug zu behaupten und seine Niederlage nicht zu akzeptieren.

Analysten haben die Äußerungen der Biden-Regierung zu den brasilianischen Wahlen als eine Demonstration interpretiert, dass Washington parteiisch zugunsten von Lula und gegen seinen Herausforderer war, der als "Trump der Tropen" bezeichnet wurde. Diese Argumentation ist irreführend, wenn nicht sogar völlig falsch.

Was Washington am meisten Sorgen bereitet, ist das Wiederaufleben einer starken Bewegung der Blockfreien und die Möglichkeit, dass sie von einem Progressiven wie Lula angeführt wird. Während seiner beiden vorangegangenen Amtszeiten hat sich Lula als Sprecher des Südens hervorgetan. Seitdem hat sich das globale politische Panorama verändert. Es gibt eine wachsende Zahl ideologisch heterogener Regierungen, die den USA untergeordnet waren und nun das Diktat Washingtons in Frage stellen und einen fruchtbaren Boden für einen Block nichtpaktgebundener Länder schaffen.

Die völlige Unfähigkeit der Supermächte, insbesondere der USA und der Länder Westeuropas, ein Abkommen zur Beendigung des Konflikts in der Ukraine zu bewerkstelligen, eröffnet einen Spielraum für eine Führungspersönlichkeit wie Lula, der sich in seiner Laufbahn dadurch ausgezeichnet hat, dass er mit Politikern verschiedener politischer Richtungen verhandelt.

Außenpolitik an vorderster Stelle

Lulas Wahlsieg kam mit nur 50,9 Prozent der Stimmen zustande. Ähnlich wie in seinen vorherigen Amtszeiten (2003-2011) werden die Mitte und die Rechte, einschließlich der mit Bolsonaro verbündeten Parteien, den Kongress kontrollieren. Dieses ungünstige Kräfteverhältnis wird wahrscheinlich Druck auf Lula ausüben, innenpolitische Zugeständnisse zu machen, wie die mögliche Aufweichung seines Wahlversprechens, die Reichen zur Zahlung höhere Steuern zu verpflichten. Im Bereich der Außenpolitik wird der Druck jedoch zweifellos geringer sein, so dass Lula gut positioniert sein wird, um sein Vorhaben aus dem Wahlprogramm zu erfüllen, eine maßgebliche Rolle in regionalen und weltweiten Angelegenheiten zu spielen. In seiner Siegesrede in São Paulo am 30. Oktober versprach er, den internationalen Status Brasiliens als "Paria-Staat" zu korrigieren ‒ Ergebnis von Bolsonaros Geringschätzung der Diplomatie und seinen abstrusen Äußerungen, wie etwa, China für Covid und Leonardo DiCaprio für die Brände im Amazonasgebiet im Jahr 2019 verantwortlich zu machen.

Kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2003 sah das Washingtoner Establishment Lula als einen verlässlichen Gemäßigten, im Gegensatz zu "unruhestiftenden Demagogen" wie Hugo Chávez, Evo Morales und Néstor Kirchner. Der mexikanische Ex-Außenminister Jorge Castañeda lobte Lula in seinem bekannten Buch Lo que queda de la izquierda: Relatos de las izquierdas latinoamericanas, als vernünftig und pragmatisch (im guten Sinne des Wortes) und stellte ihn der "schlechten Linken" von Chávez und Konsorten gegenüber, die er als "populistisch" und "antiamerikanisch" bezeichnete.

Doch die positive Charakterisierung von Lulas Amtsführung änderte sich 2010. Und sie änderte sich nicht aufgrund von Lulas innenpolitischen Maßnahmen, sondern aufgrund seiner Außenpolitik, insbesondere seiner Anerkennung des palästinensischen Staates auf der Grundlage der Grenzen von vor 1967, woraufhin ein halbes Dutzend anderer lateinamerikanischer Regierungen das auch tat. Im selben Jahr "verärgerte", Lula laut der Nachrichtenagentur Reuters Washington wegen seiner Gespräche mit Mahmud Ahmadineschād und seiner Verteidigung des iranischen Atomprogramms.

Danach war Lula kein "guter Linker" oder eine gesunde Antwort auf den unverantwortlichen Populismus mehr, sondern er war selbst ein Populist geworden. Das Wall Street Journal titelte einen Artikel über die erste Runde der Präsidentschaftswahlen vom 2. Oktober, bei der Lula vor Bolsonaro lag, mit "Der Populismus gewinnt die brasilianischen Wahlen". Die Autorin des Artikels, Mary Anastasia O'Grady, Redakteurin der Zeitung, schrieb: "Wieder einmal verspricht der Kandidat Lula Mäßigung. Sein politischer Vorteil ist sein Image als wohlwollender Populist".

Die Rhetorik ist ein wichtiges Element des Populismus, aber im Falle Lulas machen den USA die konkreten Handlungen Sorgen, die der Präsident unternehmen könnte, welche die nordamerikanische Hegemonie untergraben. Diese Bedrohung geht zu einem großen Teil von den fünf wirtschaftlich starken Ländern aus, die die Brics-Gruppe bilden: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. In Washington bezeichneten skeptische Analysten die Brics-Gipfel als "Quassel-Workshops" von Regierungen, die wenig oder nichts gemeinsam haben. Das war der Sinn des Tweets von Mike Pompeo, als sich das Ende seiner Amtszeit als Außenminister näherte. Pompeo schrieb: "Erinnern Sie sich an Brics?", und deutete dann an, dass die Angst Indiens und Brasiliens vor Russland und China die Organisation völlig handlungsunfähig machte.

In einem Interview von 2019 aus dem Gefängnis erklärte Lula, dass "Brics nicht als Instrument der Verteidigung, sondern als Instrument des Angriffs geschaffen wurde". Seine Verweise auf Brics sowie auf Celac1 (aus der sich Bolsonaro zurückgezogen hat) und Unasur2 während des Präsidentschaftswahlkampfs verstärkten diese Botschaft. Nach einem Treffen mit Lula am Tag nach den Wahlen sagte der argentinische Präsident Alberto Fernández: "Mit Lula wird Argentinien jetzt einen Aktivisten für unseren Bemühungen haben", der Brics-Gruppe beizutreten.

Washington sieht die Expansion der Brics als eine Bedrohung an, verschärft durch die Mitgliedschaft Russlands und Chinas in der Organisation. In den Wochen vor dem Präsidentschaftswahlkampf schrieb die National Endowment for Democracy (NED):

"Mit der Erweiterung der Brics-Organisation … um Argentinien, den Iran und möglicherweise Ägypten, Saudi-Arabien und die Türkei könnte Russland noch mehr Partner gewinnen, die zusammen einen bedeutenden Prozentsatz des globalen BIP und einen großen Prozentsatz der Weltbevölkerung ausmachen. Dies unterstreicht, warum der Westen (Australien, Kanada, Japan, Neuseeland, Singapur, Südkorea, die USA und Europa) unbedingt seine Anstrengungen verdoppeln muss, um die Ukraine weiterhin zu unterstützen und Russland entgegenzuwirken."

Inwieweit ist Lula "neutral"?

Washington kann mit Lulas Haltung zum Ukraine-Konflikt nicht zufrieden sein. Lula hat darauf beharrt, dass die Brics-Gruppe eine Rolle bei der Suche nach einer Verhandlungslösung spielt und dass er bereit ist, als Unterhändler zu fungieren. Laut dem lateinamerikanischen Fernsehsender Telesur sagte Lula, dass "der Frieden 'am Tisch in einer Bar' erreicht werden kann, was bei ukrainischen und brasilianischen Diplomaten Unruhe auslöste".

Aber es ist nicht nur die Angst, dass Lula sich Russland und China stärker annähert als Washington (was sicher zutrifft), die die nordamerikanischen politischen Entscheidungsträger nachts nicht schlafen lässt. Im Gegensatz zu Washington erkennt Lula die Legitimität der venezolanischen Demokratie an und hat, wie Ben Norton berichtet, gegenüber lokalen Medien erklärt, Juan Guaidó sei ein "Kriegsverbrecher, der ins Gefängnis gehört". In den Tagen vor der Wahl sagte Lula gegenüber The Economist: "Sie reden nur über Nicaragua, Kuba und Venezuela. Niemand spricht über Katar. Niemand spricht über die USA.

Seit Lulas Arbeiterpartei 2016 die Macht verloren hat, besteht Lula darauf, dass das Hauptversagen der Brics-Gruppe darin besteht, dass sie es nicht geschafft hat, eine neue Währung einzuführen, die als Konkurrenz zum Dollar dienen könnte. In einem Interview aus dem Gefängnis sagte Lula: "Als ich das Thema einer neuen Währung ansprach, rief mich Obama an und fragte mich: 'Versuchen Sie, eine neue Währung zu schaffen, eine Art neuen Euro'? Ich sagte: 'Nein, ich versuche nur, den Dollar loszuwerden'". Im Jahr 2022 ist die Aussicht auf eine Brics-Reservewährung wesentlich vielversprechender und zudem unterstützen alle fünf Mitgliedsländer die Idee. Übrigens hat in diesem Jahr die Währung jedes Brics-Mitgliedes den Euro überholt.

Der politische Einsatz des Dollars durch die USA geht über die Rivalität mit Russland und China hinaus, denn die von Washington verhängten internationalen Sanktionen haben den Völkern des Südens, unter ihnen Kuba, Venezuela, Nicaragua und Iran, schweres Leid gebracht.

Die von Lula häufig angeführte Losung von einer "multipolaren Welt" verweist auf die Herausbildung verschiedener Blöcke, einschließlich der Bewegung der Blockfreien Staaten. Ein Artikel in der Sommerausgabe 2022 von Foreign Policy, verfasst von einem nationalen Sicherheitsexperten, spiegelt die Denkweise Vieler in Washington wider, die beunruhigt über die Blockfreiheit sind:

"Wenn das internationale System versagt oder nicht vorhanden ist ... ist es nicht überraschend, dass führende Politiker sich der Blockfreiheit zuwenden. Je mehr die USA, Russland, China oder andere Supermächte weniger mächtige Länder unter Druck setzen, sich für eine Seite zu entscheiden, desto mehr werden diese Länder zu strategischer Autonomie neigen, was zu einer ärmeren und grausameren Welt führen könnte, da die Länder ihre Abhängigkeit von der Außenwelt verringern und die Kontrolle über ihr eigenes Land festigen."

Einige Leute innerhalb der Linken lehnen die Losung von der "multipolaren Welt" ebenfalls ab. Der politische Aktivist Greg Godels bezeichnet Multipolarität als "eine Vorstellung, die ursprünglich von bürgerlichen Akademikern entwickelt wurde, die nach Werkzeugen suchten, um die Dynamik der globalen Beziehungen zu verstehen". Und er fügt hinzu: "Es gibt keinerlei Garantie dafür, dass die Pole, die entstehen oder die Supermächte herausfordern ... einen Schritt nach vorne oder einen Schritt zurück bedeuten, nur weil sie anders sind."

Theoretisch hat Godels Recht, aber bisher ist die Multipolarität im 21. Jahrhundert eine ausgesprochen progressive Bewegung und Losung. Es stimmt, dass die Anwesenheit der rassistischen Regierung von Narendra Modi oder der Regierung von Saudi-Arabien in den Brics den progressiven Charakter dieser Gruppe in Zweifel ziehen. Die überraschende kürzliche Entscheidung Saudi-Arabiens, Bidens Plan abzulehnen, mehr Öl zu fördern um die internationalen Preise zu senken und gleichzeitig Wladimir Putin zu schaden, bedeutet nicht, dass es weniger reaktionär wäre. Aber genau aus diesem Grund ist die Führungsrolle eines progressiven Politikers wie Lula auf globaler Ebene so wichtig.

Wir sollten uns erinnern, dass die Bewegung der Blockfreien in den 1950er Jahren von Anführern wie Josip Broz Tito3, Gamal Abdel Nasser4 und Kwame Nkrumah5 gegründet wurde, die alles andere als "neutral" waren, denn sie gehörten alle der Linken an und waren dem Sozialismus verpflichtet. Die Bewegung spielte eine wichtige Rolle für die Entkolonialisierung, die Abrüstung und den Widerstand gegen Rassismus und Apartheid.

Auch Lula ist alles andere als "neutral". Er hat übrigens keinen Hehl aus seinem Verdacht gemacht, dass die US-Ermittler bei seiner Inhaftierung mit brasilianischen Staatsanwälten zusammengearbeitet haben, ein Vorwurf, der von der Nachrichtenagentur Brasilwire gut dokumentiert worden ist.

Der beste Beweis dafür, dass Lulas Pragmatismus sein Eintreten für prinzipienfeste außenpolitische Positionen nicht überschattet, ist seine Anerkennung des palästinensischen Staates und die daraus resultierende überwältigende Unterstützung, die er von der palästinensischen Gemeinschaft sowohl in Brasilien als auch im Ausland erhalten hat. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erhielt Lula im Westjordanland 592 Stimmen gegenüber 52 für Bolsonaro.

Einmal mehr ist Lateinamerika der einzige Lichtblick in der Welt, was fortschrittliche Politik und Ziele angeht. Lula ist bereit und in der Lage, der Anführer der progressiven Welle zu sein, die Lateinamerika seit dem Wahlsieg von Andrés Manuel López Obrador im Jahr 2018 erfasst hat. Aber die große Unbekannte ist, ob Lula seine Scharfsichtigkeit unter Beweis stellen wird, indem er eine Rolle zugunsten einer progressiven Multipolarität für eine auf globaler Ebene wachsende Bewegung spielt, die die US-Hegemonie infrage stellt und verschiedene Positionen im politischen Spektrum umfasst.

Steve Ellner ist emeritierter Professor an der venezolanischen Universidad de Oriente und derzeit Mitherausgeber der Zeitschrift Latin American Perspectives. Sein neuestes Buch ist der von ihm mit herausgegebene Band Latin American Social Movements and Progressive Governments: Creative Tensions between Resistance and Convergence (Rowman and Littlefield, 2022)

  • 1. Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten. Die 2011 in Caracas gegründete Celac besteht aus allen souveränen Staaten Amerikas außer Brasilien, Kanada und den USA. Die Regierung Bolsonaro hatte im Januar 2020 den Austritt des Landes erklärt, weil es in der Celac einen "kommunistischen Dunstkreis" gebe, der eine "Strangulierung" Brasiliens anstrebe.
  • 2. Die Union Südamerikanischer Nationen wurde 2008 als progressives Projekt zur Integration der südamerikanischen Länder gegründet. Der 2013 verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chávez hatte es initiiert, andere Präsidenten der Region wie Lula, der 2010 verstorbenen Néstor Kirchner (Argentinien), Rafael Correa (Ecuador) und Evo Morales unterstützten es
  • 3. Josip Broz Tito (1892-1980), kommunistischer Politiker, antifaschistischer Widerstandskämpfer, von 1945 bis 1953 Regierungschef, dann Staatspräsident von Yugoslawien
  • 4. Gamal Abdel Nasser (1918-1970), von 1952 bis 1954 Ministerpräsident und von 1954 bis 1970 Staatspräsident Ägyptens
  • 5. Kwame Nkrumah (1909-1972), antikolonialer Kämpfer, Sozialist, erster Präsident Ghanas, Sprecher der panafrikanischen Bewegung. Er wurde 1966 während einer Auslandsreise durch einen Putsch des Militärs vom prowestlichen National Liberation Council (NLC) gestürzt